aus Panischer Frühling

Gertrud Leutenegger

Artwork by Lu Liu

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LOW WATER 0,68 m

An jenem Morgen im April, als auf einmal vollkommene Stille im Luftraum über London herrschte, lief ich zum Trafalgar Square. Der Platz lag noch im Schatten, nur hoch oben auf seiner Säule, in unerreichbarer Einsamkeit, stand Lord Nelson schon im Sonnenlicht. Sein Dreispitz wirkte schwarz vor dem Himmel, der von solcher Bläue war, daß es unglaublich erschien, wie eine Aschewolke dieses isländischen Vulkans den europäischen Luftverkehr lahmgelegt hatte. Alle Geräusche der erwachten Stadt drängten ungehindert und geradezu   triumphierend in die Leere empor. Auf den roten Bussen glänzte die Feuchtigkeit des Taus. England war wieder ein Inselreich. Mitten im Menschenstrom eilte ich zur Themse hinunter, im Gedränge vor der Embankment Underground Station war mir flüchtig, als hätte jemand mir gewinkt, aber ich durchquerte ohne Zögern die Halle. Hinaus auf den Quai, zum Fluß! Der blanke Frühlingshimmel warf sogar auf das Wasser, sonst immer bräunlich trüb, eine Illusion von Blau. Es war Ebbe, kaum ein Wellengekräusel, der Schotter am Ufer roch durchdringend nach Meer.

Mit zurückgelegtem Kopf blickte ich forschend in den Luftraum hinauf, in dem nun offenbar diese winzigen Aschepartikelchen trieben, die einen nur wie Dreckstaub, ohne Gestalt und Struktur, die anderen bald spitz wie Nadeln, bald abgerundet, ausgefranst oder gezackt wie Kristalle. Und auf einmal sah ich wieder uns Kinder am Aschermittwoch auf dem Hauptplatz, nach dem Verlassen der Kirche, einander ebenso begriffsstutzig anstarren wie ich jetzt den Himmel, in dem nur die Vögel flogen. Meist war noch tiefer Winter gewesen, wie eine glitzernde Geisterkulisse umschlossen die verschneiten Berge den Talkessel, auf unseren Wollhandschuhen gefroren die Schneeflocken zu Eisklümpchen, nur manchmal gurgelte schon das Schmelzwasser in den Dachtraufen der Kirche, und anstatt dem Schulhaus zuzustreben, blieben wir einfach mitten auf dem Hauptplatz stehen und betrachteten fassungslos unsere jähe Vergreisung.  In langen Reihen waren wir vor den Chor getreten, immer deutlicher wurde das unablässige Gemurmel des Pfarrers hörbar, der jedem die geweihte Asche  aufs Haar streute, gedenke Mensch, daß du Staub bist und wieder zum Staub zurückkehren wirst, gedenke Mensch, daß du Staub bist, besonders die kleineren Jungen schüttelten sich unverzüglich, als hätten sie einen gräßlichen Juckreiz empfangen oder als wären sie von Flöhen befallen worden, wir Mädchen aber standen unter dem blauen Winterhimmel auf dem Hauptplatz und sahen uns in unvorstellbarem Tempo alt werden. Mochten die einen nun auch den Kopf energisch vornüberwerfen und sich lachend die Asche wegreiben, die Haare blieben grau. Abends vor dem Spiegel war die Asche immer noch da, ich schlief kerzengerade, damit sie nicht auf das weiße Kissen fiel, so erschreckend schnell also konnte die berauschend unabsehbare Zukunft vorüber sein, noch tagelang blieb der Haaransatz fahl.

Ich hatte mich bei den beiden Sphinxen an der Themse auf die Quaimauer gesetzt. Die aus Bronze gegossenen Fabelwesen schimmerten matt und gleichmäßig, als wären sie aus schwarzem Ebenholz. Ein Lächeln umspielte ihre vollen Lippen, ruhevoll streckten sie einander ihre Pranken entgegen, obwohl die eine Sphinx voller Schrammen und Narben war, getroffen vom ersten Luftangriff deutscher Flieger auf London, wenige Minuten vor Mitternacht, am 4. September 1917, wie eine Tafel festhielt. In kleinen Duplikaten bevölkerten die Sphinxe auch die Quaibänke in der Nähe, sie unterteilten diese in einzelne Sitzplätze. Um ungestörte Privatheit zu ermöglichen oder um Obdachlose am Schlafen zu hindern? Fast unmerklich stieg die Flut, umspülte die Steine, vertrieb die herumhüpfenden Tauben, löschte Spuren von Menschen und Tieren. Eine Flipflopsandale, eingebacken im Sand, leistete lange Widerstand, dann wurde sie fortgeschwemmt. Der Meergeruch hatte sich verflüchtigt. Die Sphinxe träumten mit offenen Augen, ihre Blicke gingen die Themse hinauf und hinab, aber sie hatten das Chaos der schwankenden Segler und Schiffe mit ihren exotischen Frachten nicht mehr gesehen. Schon vor ihrer Ankunft hatten die East und West India Docks im Osten der Stadt ihren Betrieb aufgenommen, und tief in der Vergangenheit war jenes Britannien versunken, das einst ganz von gewaltigen Eichenwäldern bedeckt gewesen war.

Nie hat ein Fluß mich mehr verwirrt als die Themse. Wenn die Gezeiten wechselten, entstand ein quirlender Stillstand. Drängten die Wassermassen ins Landesinnere oder meerwärts? Unverwandt schaute ich in die miteinander im Widerstreit liegenden Strömungen. Vor meinen Augen begann alles zu kreisen und sich zu drehen. Da schwammen wieder, wie vor Jahrtausenden, Eichen aufrecht im Fluß! Unterspült von den Fluten, hatten sie sich vom Ufer losgerissen, umklammerten jedoch fest mit den Wurzeln ihr Erdreich und trugen es mit sich fort. Preisgegeben den Winden, ragten die Kronen der Eichen empor, mitten auf dem Strom treibend erschreckten sie in der Nacht die römischen Legionen, die das riesige Takelwerk der Aste für feindliche Schiffe hielten und, benommen oder betrunken, eine Schlacht gegen die Bäume anfingen. Dabei waren die Eichen doch wohl eher auf der Flucht, dem offenen Meer zu, als ahnten sie das kommende Zerstörungswerk, ihr Niederbrennen und Niederschlagen, für Siedlungen und Schiffbau, und das Einzäunen ganzer Hügel und Ebenen für die Jagd, Überwachung und Exekutionen, während der Wald doch den Verrückten gehört und der Kindheit.

Das rätselhafteste Zimmer in meiner Erinnerung ist ein Waldzimmer. Seine Tapeten waren lindengrün. Die darauf gemalten Bäume sollten gewiß Linden darstellen, doch sie waren zu einem Wald versammelt, und in das Laubmeer mischten sich auch die Blätter von Buchen und Eichen. Dieses Zimmer aber befand sich nicht auf einer abgelegenen Lichtung, sondern im Pfarrhof unseres Onkels, und in den Sommerwochen schlief mein Vater darin. Gestern nacht war ich wieder im breiten Gang des alten Hauses gewesen, das Licht verdämmerte so rasch, daß die verschiedenen Türen schon nicht mehr zu erkennen waren. Plötzlich wurde ich umarmt, so stark, daß mich die Umarmung wie ein Feuer durchdrang, da sah ich auf dem im Dunkeln verschwindenden Gesicht Tränen, Tränen! Jetzt stand ich am Morgen an der Themse und verfolgte das Flirren der Wellen, ihre Unruhe, ihr Einanderüberholen und Widersprechen. Nicht mehr die Eicheninseln kreisten auf dem Fluß, sondern jenes lindengrüne Waldzimmer, und mit ihm der ganze Pfarrhof, der rote Saal, das blaue Kabinett, die Laube, Julihitze und helle Nächte. Allein in einer der am dichtesten bevölkerten Städte der Welt, war mir mit einem Mal, als sei ich vielleicht in jenem stets nur für einen Sommer geliehenen Haus, gerade wie kein anderes von der unerbittlich ablaufenden Zeit bedroht, am geborgensten gewesen.

 

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HIGH WATER 6,77 m

Im Getöse des Verkehrs, das unter den Brückenbogen der Themse widerhallte, kehrte ich zur Underground zurück. War da wirklich ein Winken gewesen? Etwas zerstreut blickte ich um mich. Die Tulpenknospen in der schmalen Gartenanlage sprangen in so grellen Farben auf! Leuchtende Bänder, schlängelten sie sich zwischen dunklem Buchs hindurch, schneeweiß, flackernd orange, violett, kanariengelb. Hinter der Gedenktafel an die Terrorattentate vom Juli 2005 schlief jemand, unkenntlich zusammengerollt in einem schwarzen Plastiksack, es roch nach verschüttetem Bier und Hyazinthen. Die Stadt wird überdauern, sie ist die Zukunft unserer Welt, stand auf der Gedenktafel, für alle Londoner in unserer großen Stadt. Schauer des zartesten Grüns überliefen die Sträucher und Bäume der Parks, wie Falter mit vom Wind geblähten Flügeln warteten die noch unbesetzten Liegestühle. Bis heute aber geht, ohne auch nur einen Schritt zu taumeln, als wäre sie eine lebende Mumie, das Gesicht bedeckt von einer weißen Gazemaske, eine junge Frau am Arm eines Feuerwehrmanns durch die Underground Station von Edgware Road, sie geht, ohne zu wanken, um sie nur Rauch, Blut und Schreie. In die Gazemaske sind halbrunde Schlitze um die Augenhöhlen, den Mund und die Nase eingeschnitten, sie müsse unbedingt sofort zur Arbeit, wiederholt die junge Frau, schon die ganze lange Fahrt über, vom East End her kommend eingezwängt zwischen den Passagieren der Circle Line, habe sie sich das anstehende Tagesgeschäft vorzustellen versucht, doch, ja, es sei da ein ungeheurer Knall gewesen, und links von ihr ein Feuerball, der nach rechts um sie herumjagte und dann erlosch, aber warum nur die Leute so entsetzt vor ihr zurückgewichen sind? Immer noch stützt der Feuerwehrmann die junge Frau mit der weißen Gazemaske, bitte, wehrt sie ab, ich muß dringend zur Arbeit, ich bin bereits so verspätet.

Durchsichtige Wolkenschleier eilten am Himmel dahin. Ich fuhr zurück ins East End, vom Whitechapel Market schallten mir die Rufe der Bengalen und Pakistani entgegen, die ihre Waren anpriesen, schrill und monoton, eine hypnotisierende Litanei. Die Plastikplanen der Stände knatterten. Die Korianderberge, am Morgen noch frisch, lagen wie schlaffe Kissen, grüne Matratzen herum. Die rote Briefkastensäule bei mir um die Ecke wurde, wohl wegen des Vulkanausbruchs, seit Tagen nicht geleert. Ein magerer wilder Rosenstrauch wuchs hinter ihr aus dem Asphalt, vielleicht würde er im Herbst ein paar Hagebutten tragen. Die Sirenen der Ambulanzen beim nahen Royal London Hospital heulten, und der singende Eiswagen drehte, manchmal abrupt seine Melodie unterbrechend, trotz der Kälte seine letzten Runden. In den Wohnungen gegenüber gingen da und dort die Lichter an. Von den bengalischen Nachbarn, die zwar meist bis kurz vor ihrer Tür in ihre Handys hineingestikulierten, war nachher nichts mehr zu hören, während hinter dem Küchenfenster der einzigen nichtasiatischen Familie mit zunehmendem Dampf auch das Gezanke und Geschrei anwuchs. Diese Familie bestand aus zwei Müttern, beide krankhaft bleich, einem offensichtlich arbeitslosen Mann und zwei Kindern, der kleine dunkle Junge war ein Wirbelwind mit schwarzem Kraushaar, das Mädchen hellblond, übergewichtig, und es trug jeden Tag Ringelsocken von nicht übereinstimmender Farbe.

Auch vor dem Nachthimmel strahlten die wilden Kirschbäume, die selbst in den engen Hintergärten verschwenderisch blühten. Fast unverständlich kam mir jetzt die eigenartige Furcht vor, die mich am ersten Abend in dieser Gegend beim Herumschlendern befallen hatte. Ich war in eine breite, aber schwach beleuchtete Straße geraten. Es ging gegen Mitternacht, die kleinen Läden mit Eisengittern verrammelt, sogar die Stehbars waren am Schließen. Ein eisiger Wind fegte den Abfall von einer Straßenseite zur andern, und an einem bestimmten Punkt überkam mich das unabweisbare Gefühl, die Düsternis ringsum verdichte sich zur Bedrohung. Ich stand an der Stelle, wo die Commercial Road in die Whitechapel High Street mündet. Erst später erfuhr ich, daß es genau hier am 4. Oktober 1936, eine halbe Stunde vor dem Marsch der Schwarzhemden von Sir Mosley in die Cable Street, den aufgebrachten irischen Dockarbeitern, vereint mit der jüdischen Bevölkerung des East End, gelungen war, trotz Einsatzes der berittenen Polizei, die mit Schlagstöcken auf die Menge losging, die Straße zu blockieren. Eben erst angekommen, durchlässig und überwach, hatte sich mir unerkannt etwas von der Gewalt und Widerstandskraft dieses Ortes mitgeteilt.

Unter meinem Fenster war das schwarze Londoner Taxi verschwunden. Den Fahrer hatte ich noch nie gesehen, wahrscheinlich war er nur nachts und bis in die Frühe hinein unterwegs. Tagsüber fand ich das Taxi meist ein paar Handbreit vor meiner Tür parkiert, und Spuren des Frühlings, klebrige Knospen, sammelten sich auf seinem Dach. Jetzt war es fort, der Fahrer chauffierte wohl Ruhelose, Grölende, Betrunkene und Übernächtigte durch die manchmal blendend ausgeleuchteten, manchmal finsteren Straßen der Stadt, die nachts den unterirdischen Trakten der Underground zu gleichen begannen. Ich schaute in den nächtlichen Himmel hinauf, in dem nie die blinkenden Bahnen der Sterne sichtbar wurden, und versuchte mir jenes Gesicht zu vergegenwärtigen, das so rasch und nah im Traum vor mir aufgetaucht war und das ich dennoch nicht hatte erkennen können. War mein Vater aus dem Waldzimmer getreten oder mein Onkel aus seinem blauen Kabinett gegenüber? Warum das glühende Glücksgefühl der Umarmung, woher die Tränen? Die gemalten Linden und Eichen wuchsen aus den Tapeten in das Waldzimmer hinein und verankerten es in einem monströsen Wurzelwerk, welches das ganze Haus mit sich fortriß, hinaus auf die Themse, da schwamm und kreiste es wieder vor meinen Augen! Und ich mußte unser Sommerhaus absondern aus den Fluten, es anhalten und in ruhige Aufmerksamkeit nehmen, an den Ufern des fremden Flusses nochmals jenen frühen Horizont um mich ziehen. War dies eine mögliche Antwort, der Tribut an das im Dunkel entschwindende Gesicht?

 

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LOW WATER 0,70 m

In einem pakistanischen Eßlokal, in das ich von der Straße her hineinschaute, sah ich in einem kleinen Fernseher, seit kurzem auf einem Mikrowellenherd direkt unter der niedrigen Decke postiert, den Vulkan weiter mit Wucht Asche ausspeien. Über einem rußig schwarzen Wolkengewoge türmten sich hellere Kumulusgebirge, sie änderten in rasender Geschwindigkeit ihre Formationen, und man hatte den Eindruck, sie würden in der nächsten Sekunde den kleinen Fernseher zum Explodieren bringen. Die Sprecherin verhaspelte sich beim Namen des Vulkans, Eyjafjallajökull, eia, eja, das alte Krippenlied fiel mir ein, eja, eia, ein Kindelein, das hab' ich auserkoren, sein eigen will ich sein, und wie meine Mutter mit Leidenschaft ausrief, nein, das habe sie nie verstanden, diesen grausamen Kindermord von Bethlehem! Und wie alle unschuldigen Neugeborenen um des Gotteskindes willen hingemetzelt wurden, und wenn man an die wehklagenden Mütter denke, könnte man irrewerden an der Heiligen Nacht. Die Gäste in dem pakistanischen Eßlokal blickten während ihrer Mahlzeit gleichmütig hin und wieder nach dem unruhigen Vulkan. Die herausgeschleuderten Aschewolken nahmen mehr und mehr das Aussehen eines Atompilzes an, doch draußen glänzte ein ungetrübter Frühlingshimmel, und auch ich spürte etwas von jener seltsamen Aufgeräumtheit, die Menschen manchmal beim Hören von einer Katastrophe, ist sie nur weit genug entfernt, erfaßt.

Ich verfolgte immer noch den unermüdlichen Vulkan im Fernseher, als durch den Lärm des Verkehrs und des Whitechapel Market sich beharrlich ein Geräusch an mein Ohr heranarbeitete. Es kam immer näher, ein unerbittliches Metronom. Endlich wandte ich den Kopf und sah wenige Meter vor mir eine der völlig verschleierten Frauen in ihrem schwarzen Niqab, die einen weißen Blindenstock auf das Trottoir schlug. Sie tat es in einem heftigen gleichmäßigen Rhythmus, und inwieweit ihr der schmale Augenschlitz ihres Niqab, der über dem Nasenbein durch einen dicken gezöpfelten Faden zusammengehalten wurde, überhaupt noch von Nutzen war, erschien zweifelhaft. Ohne auch nur im geringsten langsamer zu werden, glng sie dicht an mir vorüber. Nichts an ihr verriet, ob sie alt oder jung war. Sie schlug nur unablässig ihren Blindenstock auf, und noch lange hörte ich dieses Schlagen sich in der Menge verlieren, furchtbar im Nachhall, wie der Sekundentakt der Zeit. Und plötzlich wurde es still in dem Eßlokal. Die Ascheeruption im Fernseher wurde immer dichter, stieg immer höher, ein gigantischer schwarzbrauner Blumenkohl. Der Tag wandelte sich zur Nacht. Ein unermeßlicher finsterer Aschevorhang legte sich über die Gehöfte am Fuß des isländischen Vulkans. Die Sichtweite konnte höchstens noch ein paar Schritte betragen. Schemenhaft sah man Katastrophenhelfer mit weißen Staubmasken, die einen verzweifelten Bauern daran hindern wollten, sein entlaufenes Pferd zu suchen. Ein alter Pakistani, der bei den Bildern der alles verdüsternden Aschewolke aufgehört hatte zu essen, ließ seinen halbvollen Teller stehen und ging hinaus auf die Straße.

Später überquerte ich die London Bridge. Bis in die letzten Morgenstunden hinein strömte stets eine Masse von Menschen von der Südseite her über die Brücke und am frühen Abend in die umgekehrte Richtung wieder zurück. Ich mußte gegen den scharfen Wind ankämpfen, die äußerst entschieden vorwärts eilende Menge, ich liebte die London Bridge, die unspektakulärste von allen Themsebrücken, wie keine andere. Grau, unansehnlich, funktional, wie sie war, wies nichts daraufhin, daß hier, nur hundert Fuß östlicher, über sechs Jahrhunderte lang die alte London Bridge gestanden hatte, dicht bestückt mit Toren, Türmen, Häusern, Läden, die immer wieder in Flammen aufgingen, in die Themse hinunterstürzten, von Aufständen und Rebellenattacken erschüttert wurden, triumphale Rückkehren aus der Schlacht und mehrere Frostjahrmärkte sahen. Die Vergangenheit hatte sich in Luft aufgelöst, die blau, auch heute ohne Flugzeuge, und von seltener Reinheit war. Nur die Menschen strömten endlos über die Brücke. Vom Uferquai aus wirkten sie sehr klein und als würden sie von einem Fließband getragen, die Beine, Aktenmappen, Taschen mit Thermosflaschen und Lunchdosen waren verdeckt durch die Brüstung, lediglich die Köpfe glitten über deren Rand dahin wie die Laichschwärme einer unausrottbaren amphibischen Spezies.

Kurz vor dem südlichen Ende der Brücke fiel mir das Profil eines jungen Mannes auf, das sich unbeweglich zwischen den auf mich zutreibenden Menschen abzeichnete. Der Mann mußte schon nahe der Treppe stehen, die zur Themse hinunterführte. Er war groß, schlank, trug eine schwarze Lederjacke, und wie auf einem Renaissancebildnis nahm ich zuerst die feingeschwungene Nase wahr, da die mir zugekehrte Gesichtshälfte unter dichtem dunkelblondem Haar, das im Sonnenlicht in einem unübersehbaren Rotton schimmerte, verborgen war. Ich ging geradewegs auf ihn zu, vor ihm auf dem Boden lag ein Zeitungspacken. Er hielt auch im Arm zusammengerollt eine Zeitung, ohne Anzeichen, diese verkaufen zu wollen. Vor ihm stehenbleibend, blickte ich sofort auf den Zeitungspacken hinunter, es war die Obdachlosenzeitung. Der junge Mann mußte gleichzeitig mit mir sich vorgeneigt haben. Erst als ich den Kopf hob, sah ich in sein Gesicht.

Mein Entsetzen war um so größer, als das Profil des jungen Mannes, aus einer fernen Epoche herkommend, mich unwillkürlich angezogen hatte. Die eine Wangenseite, die anfänglich durch das volle Haar versteckt gewesen war, bot sich geschwollen und wie von Fäule befallen dar, als würde sie von innen her von einem Tier zerfressen. Krampfhaft fixierte ich erneut den Zeitungspacken zu Füßen des jungen Mannes, er schien es indessen gewohnt zu sein, den Interessierten Zeit zu lassen. Entschlossen, mit allem Willen über die Entstellung hinwegzusehen, schaute ich wieder auf. Zwei Augen von einem hellen Taubengrau musterten mich. Ich erinnere mich an Sie, sagte der junge Mann. Und jetzt ging ein Lächeln über sein Gesicht, zumindest über die unversehrte Hälfte, über die andere, wo der Mundwinkel verzerrt war und nur kurz zuckte, hatte er offenbar keine Kontrolle.

Ich habe Sie hier noch nie angetroffen, sagte ich, inzwischen gefaßt, ich bin an verschiedenen Standorten, sagte der junge Mann mit großer Höflichkeit, aber die London Bridge, auf der Südseite, ist mein Stammplatz. Hauptsache Südseite! Er lachte. Fragend suchte ich in seinen Augen, deren Grau sich plötzlich glänzend verdunkelte. Ich stand immer noch vor ihm, ohne eine Zeitung gekauft zu haben. Bremsen kreischten, Busse fuhren an, Fußgänger hasteten bei Rot über die Fahrbahn. Selbst die Brückenenden vibrierten vom Verkehr. Einer der nur noch wenigen Lastkähne mit Containern fuhr auf der Themse, ein Klipper brauste an ihm vorbei, beide aber überholte ein winziges flitzendes Polizeiboot. Mit unüberhörbarer Schüchternheit, doch zugleich mit einem Anflug von brüskem Stolz, fragte der junge Mann, kommen Sie morgen wieder?

Kaum war ich die Treppe zur Themse hinabgestiegen, wurde es schon so ruhig, daß ich das Glucksen der Wellen vernahm. Der scharfe Wind hörte schlagartig auf, abgewehrt durch die hohen alten Speicheranlagen, und wo die Dampfer einst ihre Frachten mit Rum, Zucker, Tabak, Tee, Kaffee löschten, überwölbte jetzt eine langgestreckte Glaskuppel einen zum Fluß hin offenen Platz. Ich trat in die Passage ein, verwundert über ein durchdringend helles Vogelgezwitscher, das aus der Höhe kam. Den Kopf zurückgelehnt, vermochte ich unter der Glaskuppel nur einige wenige Vögel zu entdecken, die allerdings, durch die filigrane Konstruktion der Stahlrippen genügend vor dem Aufprallen gegen das Glas gewarnt, in sicherem Flug sich hin und her bewegten und zuweilen in eine derart frenetische Geschwindigkeit hineinsteigerten, als würden sie sich an ihrem eigenen Gezwitscher berauschen. Dieses löste denn auch unter der tonnenförmigen Glaskuppel ein so vielfältiges Echo aus, daß mir auf einmal war, als befände ich mich nicht mehr mitten in der Stadt, sondern als erwachte ich in der Frühe in einem Wald. Ich bog den Kopf noch weiter zurück und schloß die Augen. Zarte Pfeifsignale, drängende Antwortrufe, Kaskaden von Tönen, jubilierende Triller erhoben sich aus den noch nachtschattigen Bäumen, und es war der erste Morgen der Welt.

 

4
HIGH WATER 6,55 m

In der letzten Abendsonne saß ich beim alten Fischmarkt an der Themse. Ich hatte mich auf die oberste Stufe der Treppe gesetzt, die zum Wasser hinunterführte. Nur noch wenig war von den Pfählen zu sehen, die bei Ebbe das verlassene Marktgebäude, das einem venezianischen Palast glich, wie hohe Stelzen trugen und die vielen Säulen der Kolonnade unter Wasser fortzusetzen schienen. Schräg fielen die Lichtstrahlen über die London Bridge auf die Wellen und entzündeten ein hastiges Gleißen. Auf den beiden Ecktürmen des Fischmarktes blitzten die Wetterfahnen, jede in Gestalt eines stacheligen Kugelfisches. Die Zeitungen meldeten, daß die Eruptionswolke der Asche auf achttausend Meter Höhe angewachsen war. Ich versuchte, die Menschen am Südende der London Bridge zu erkennen, aber sie wirkten nur wie Scherenschnitte im Gegenlicht. Ihre Umrisse kippten ins Wasser und vermengten sich mit den Schatten derjenigen, die in früheren Jahrhunderten hier vorübergeeilt waren, betäubt vom Gestank des fauligen Flusses, in den alle Abwässer Londons gepumpt wurden, und bis zur Übelkeit erregt vom penetranten Fischgeruch, selbst die seidenen Taschentücher, welche sich die Parlamentsmitglieder auf ihrem Weg nach Westminster an die Nase preßten, waren nutzlos.

Flachen Kieseln ähnlich hüpften die Lichtfunken auf der Themse. Sie hatten den schuppigen Glanz meines Kindes in jenem Traum, lange bevor es auf die Welt gekommen war, in einer Geburtstagsnacht meiner Mutter in ihrem dunkelnden Haus. Ein Fischkind! Staunend hielt ich es nah vor mein Gesicht. Seine linke Hälfte war bedeckt mit von Grün zu Blau phosphoreszierenden Schuppen, ein so lebhaftes Schillern, daß ich davon geblendet wurde. Doch auf einmal fühlte ich das Rieseln der Fischschuppen auf meinen Händen, immer mehr, immer stärker, endlich war das kleine Wesen ganz davon befreit. Ich hatte es doch eben erst geboren, aber schon lachte es, lachte derart vergnügt, daß die letzten silbrigen Schuppen aus seinem borstigen schwarzen Haar fielen und ich an seinem Lachen erwachte. Es bekam später denselben Namen wie das Kind, das sacht eingewickelt bis zum Kinn in einem Seitenschiff der Westminster Abbey in seiner Marmorwiege liegt. Drei Tage nur sah die kleine Königstochter vom Anfang jenes Jahrhunderts, das London die Pest, den Großen Brand und die Glorious Revolution bringen sollte. Wohl nie mehr würde ich das Kind in seiner Marmorwiege so still antreffen wie gestern am Nachmittag vor der Vesper. Die Westminster Abbey war, vielleicht auch wegen des unterbrochenen Luftverkehrs, seltsam leer gewesen und durchstrahlt vom untergehenden Frühlingslicht. Nur in einem Spiegel kann man das marmorne Gesicht des Kindes, das abgewandt vom Betrachter in seiner Wiege liegt, sehen, aber einmal so mit ihm in Zwiesprache getreten, gibt es für den über die Jahrhunderte hinweg wach gebliebenen Schmerz kein Entrinnen mehr. Die Präzision, mit der das Kind eingewickelt wurde, verschärft ihn noch. Das kleine Gesicht kam mir gar nicht wie aus Marmor, eher wächsern vor, und beinahe durchpulst von Leben. So wie aus noch warmem Wachs, feingliedrig geformt und ganz ohne sichtbare Adern, hatte ich zu dem Kind im Spiegel gesagt, sind die Hände eines anderen Mädchens, das deinen Namen trägt, aber es hat die Todesbedrohungen der Kindheit überstanden, es ist groß geworden. Doch jetzt hat es sich in die Gefahren des Erwachsenwerdens gestürzt, die Regenwälder des Amazonas haben es verschluckt, nur manchmal sendet es Signale!

Ich schaute auf meine Hände nieder, die mir auf einmal nicht mehr wie meine eigenen erschienen. Die blauen Adern auf dem Handrücken traten unnatürlich hervor, wie Gebirgsbänder hinterließen sie Schattentäler dazwischen. Durchpflügt und zerfurcht boten diese Hände sich dar, fremd, unheimlich fremd, und doch so vertraut. Es waren die Hände meiner Mutter. Unmerklich waren sie mit mineralischer Härte aus meinen eigenen Händen herausgewachsen. An die Hände meines Vaters kann ich mich nicht mehr erinnern. Im verlöschenden Licht wollte ich nochmals die Menschen am Südende der London Bridge beobachten. Aber alles flimmerte vor meinen Augen. Als ich mich der Underground Station näherte, schallte mir eine Lautsprecherstimme entgegen, die eindringlich daran erinnerte, daß der gesamte Flugverkehr stillgelegt sei. Aus den Tiefen der Rolltreppen wehten schwüle Spiralwinde herauf.