aus Hund, Wolf, Schakal
Behzad Karim Khani
SAFRAN
Es war Donnerstag. Die Tür stand offen, als Nima ankam. Er klingelte trotzdem, und Jos Vater rief ihn hinein und begrüßte ihn wie einen alten Freund. Dann erklärte er, dass sich die Frauen verspäten würden, holte einen Weißwein aus dem Kühlschrank, mit den Worten: »Umso besser, bleibt mehr für uns«, und schenkte Nima ein Glas ein.
Jo hatte ihrem Vater alles über Nima erzählt, zumindest das, was sie wusste. Und jetzt sollten sie, die Männer, zusammen eine Bouillabaisse für ihre Frauen kochen, sich kennenlernen. Bei Wein und Musik.
Auf der anderen Seite der Kochinsel, die Artur »seine Werkstattbank« nannte, stand der rotgesichtige Mann und streichelte mit freundlichen dicken Händen den Wolfsbarsch, dem er gerade die Schuppen abgeschabt hatte. Er legte sich den Fisch zurecht, setzte das Messer an und pulte die leberbraun schimmernde Kiemenlamelle hervor, entfernte sie, indem er je einen kleinen Schnitt über und unter die Kieme setzte. Weniger wie ein Koch, eher wie ein Veterinär, der einen narkotisierten Fisch von einem Parasiten befreit oder von einem eingewachsenen Angelhaken. Beinahe liebevoll. Dann hielt er Nima die Kieme entgegen, als hätte er eine Perle in einer Auster gefunden.
Er drehte den Fisch um. Auf der anderen Seite: wieder Fisch, wieder Wolfsbarsch, wieder Kieme, und Nima fragte sich, ob Artur das auch getan hätte, wenn er Italiener oder Franzose wäre. Artur zog eine Schublade auf, entnahm ihr eine kleine Dose und öffnete sie vorsichtig. Den Deckel nur leicht angehoben, ohne ihn abzunehmen. Wie ein Kind, das eine Heuschrecke in einer Streichholzschachtel hält und Angst hat, sie könnte beim Öffnen der Schachtel entwischen. Die Augen glänzend, der Blick schelmisch, triumphierend.
In der Dose: Safran. Iranischer Safran, wie er betonte.
Artur war dafür nach Charlottenburg gefahren.
In den kleinen iranischen Laden war er mit einem kraftvollen »Salam aleikum« eingetreten, das das Ladeninhaber-Ehepaar in einer solchen Entschlossenheit nur von Mullahs und strengen Milizionären kannte, und er hätte sie zu Tode erschreckt, wären da nicht die vom ersten Buchstaben an dissonante Aussprache und die deutsche Akzentsetzung gewesen, die die Grußformel gerade durch das Statische und Harte merkwürdig entschärft hatten. Darauf hatte die Inhaberin mit einem »Aleikum al Salam« in der gleichen Gangart geantwortet, die Wörter aus der Kehle gedrückt, dabei aber breit gelächelt. Artur war der parodistische Teil entgangen, er hatte sich an der Herzlichkeit in dem Lächeln erfreut. Ein elegantes Missverständnis, in dem er eine Einladung gesehen hatte zu einer anschließenden langen Tour, die eher einer Fernreise als einer Einkaufstour geglichen hatte. Eine eklektisch anachronistische Reise in den Vorderen Orient, ins alte Persien, nach Mesopotamien. Er hatte auf die Kochbücher, Miniaturen und Kalligrafie im Regal hinter der Kasse gezeigt und Fragen gestellt. Auf fünfundvierzig Quadratmetern Ladenfläche war er Assyrern, Aramäern, Juden und Parsen begegnet. Hatte mit Derwischen getanzt, mit Fakiren gefastet, hatte mit Nomaden gejagt, mit persischen Königen Polo gespielt, sie mit korrektem Wissen aus dem National Geographic und falschem aus dem Medicus beeindruckt. In der Stadt Bam hatte er eine einzelne Dattel gepflückt, saftig und schwarz. Er hatte die Schlacht von Kerbala von einem entfernten Hügel aus miterlebt, war anschließend ans Kaspische Meer gezogen, wo er Ruhe gefunden und Tee aus den umliegenden Plantagen getrunken hatte. Er war auf dem Rücken von Pferden, Kamelen und Elefanten die Seidenstraße langgeritten. Freundschaften hatte er geschlossen, Sprachen gelernt, Kardamom und ebendie Dose Safran erstanden. Mit einem Zwanziger hatte er bezahlt, das Wechselgeld bewusst nicht gezählt. Er hatte vertraut. Sie würden sich wiedersehen. Er würde wiederkommen. Vielleicht sogar mit Nima. Seinem Freund.
Und jetzt stand er da, gefüllt mit Abenteuern und Weißwein und bebte erregt. Den Safran in der Hand und ein »Was man damit alles machen könnte!« in den Augen, das Nima nicht beantworten konnte. Safran, ja. Kannte er. War auch wohl wichtig irgendwie. Oder teuer. Aber was man damit alles anstellen konnte, war ihm ein Rätsel, und er ahnte, dass das Artur enttäuschen würde.
Jamshids oder Saams Küche entstiegen selten irgendwelche Farben oder Düfte. Jamshid kochte zwar auch, aber würde man ihn mit einer vorgezogenen Pistole zwingen, seine Rezepte zu einem Kochbuch zusammenzufassen, würde das Buch »Die Sättigung« heißen. Würde man ihn zwingen, ein regionales Kochbuch zu schreiben, würde er ihm einen Titel geben wie »Das ewige Joch der Folklore«. Seine Pragmatik entsprang aber nicht der Not. Zumindest nicht allein der Not. Hauptsächlich rührte sie aus der Ablehnung bürgerlicher Dekadenz, welche sich schon im Genuss äußerte und für Jamshid unannehmbar obszön war. Es regte ihn nicht auf, wenn andere ihr Essen genossen. Nichts regte ihn noch auf, er fand es eben dekadent, wie andere es zum Beispiel dekadent fanden, eine Putzfrau zu haben, und deshalb keine hatten. Jamshid, in dessen Welt der Hungerstreik, der Entschluss und auch die Bereitschaft, zu verhungern, eine Waffe darstellte, von der so einige seiner Freunde bereits Gebrauch gemacht hatten, genoss die Nahrungsaufnahme einfach nicht sonderlich. Das war alles.
Zum Kardamom hätte Nima was sagen können. Davon tat man eine Kapsel in den Tee. Aber Safran?
Artur legte die Dose auf den Tisch, öffnete sie jetzt ganz, entnahm ihr ein paar Fäden, sortierte sie auf seiner Handfläche und ließ sie anschließend in den Sud fallen, während er von den Flecken an den Flanken des Petersfisches erzählte. An der Stelle habe der Apostel Petrus den Fisch der Bibel nach berührt, um ihm auf Jesu Wunsch eine Münze zu entlocken, eine Stater-Münze zur Entrichtung der Tempelsteuer. Allerdings soll er den Fisch aus dem See Genezareth gezogen haben, einem Süßwassersee, während der Petrusfisch ein Salzwasserfisch ist.
Nima schaute sich um und versuchte, zwischen den ausgebreiteten Zutaten, dem Fenchel, den Karotten und Zwiebeln, einen Grund zu finden, warum ihn das alles interessieren sollte.
Dann beschloss Artur, dass sie den Fisch nicht mitkochen, sondern à la minute braten würden, wenn alle am Tisch saßen.
»Wie findest du den Wein?«, fragte Artur.
»Ganz gut?«, fragte Nima zurück.
Dann rieb Artur die Fingerspitzen und ließ die Zunge im Mund herumkreisen, als kaute er den Wein, gab Gaumengeräusche von sich und sagte nach dem Schlucken: »Die Hefe.«
Nima kaute auch kurz, nickte: »Ja.«
Dann folgte ein im Vergleich zu dem Petersfischvortrag kurzer Monolog über Schiefer, über Steilhänge, die Anbaugebiete südlich der Loire, über blutende Weine, und Nima ertrug es wie ein Happy-Birthday-Ständchen.
Uta Maybach trug einen pistaziengrünen Kaschmirpullover, als sie die Treppen runterkam. Einen Armreif aus dunklem Holz, dazu schlichte rote Korallenhängeohrringe, die antik aussahen. Sie sah aus wie eine Präsidentengattin oder eine Porno-Fantasie. Kurz darauf kam auch Jo, huschte durch die Haustür, gab Nima einen Kuss, richtete das Hemd ihres Vaters, rannte hoch und kam in einem Seidenblouson zurück. Sie freute sich. Über das Essen und darüber, dass Artur Nima zu mögen schien.
Später, nach der zweiten Flasche Wein und der Bouillabaisse, füllte Jo die Stille mit etwas, das sie ein »echtes Thema« nannte. In der Zeitung hatte sie von einem Schwarzen Jugendlichen gelesen, der in den Staaten von einem Polizisten mit mehreren Schüssen aus nächster Nähe quasi exekutiert worden sei. Jo las nämlich Zeitung.
»Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass jemand Angst haben kann vor der Polizei. Also klar, ich weiß, ich bin der Prototyp des weißen, zu beschützenden Mädchens, und ich weiß auch, dass es da Arschlöcher gibt und Rassisten und so, aber es muss doch erst mal was passieren, damit die zuschlagen oder schießen. Irgendwas. So kaltblütig ist doch keiner.«
Naivität und Realismus schienen sich in Jos Welt recht gut zu vertragen. Nima stellte sich vor, wie sie in eine Situation hineinrannte, in der drei Cops einen Schwarzen, der am Boden lag, mit Schlagstöcken bearbeiteten, und das Ganze durch ihre bloße Anwesenheit auflöste. Sie würde nicht rumkreischen oder sich dazwischenwerfen. Sie würde sich hinstellen und die Polizisten daran erinnern, dass sie Polizisten seien und sich bitte darauf besinnen mögen. Und es würde vielleicht tatsächlich funktionieren.
Uta Maybach, der Nimas fehlende Anteilnahme aufgefallen war, versuchte, ihn einzubinden.
»Was sagt Nima denn dazu?«
Nima hätte gerne nichts dazu gesagt. Aber Nichtssagen wurde bei den Maybachs wahrscheinlich nicht gern gesehen.
»Ist schon was dran, denke ich. Es gibt bestimmt einen Weg, bei einer Verkehrskontrolle nicht erschossen zu werden«, antwortete er.
Artur, der von seiner Tochter, zumindest aber von ihrem neuen, dunkelhäutigen Freund offenbar mehr Kritik und Widerstand oder auch nur jugendliche Energie erwartete, schien enttäuscht.
»Natürlich gibt es einen Weg, nicht erschossen zu werden. Nur haben manche Menschen eine dunkle Haut und müssen ihn suchen, mit einem Revolver im Gesicht, und andere eben nicht«, sagte Artur und erhoffte sich von Nima, dass der Groschen jetzt gefallen sei.
Nima sah sich aber gar nicht als dunkelhäutig. Während Saam optisch deutlich ein Kind des Nahen Ostens war, war Nima schwer einzuordnen. Er wäre als Italiener, Franzose, Grieche, aber auch als Argentinier oder Kolumbianer durchgegangen. Er hätte sogar Deutscher sein können, mit einem Urgroßvater, der aus dem Ural stammte oder Ungar war oder so. Er saß da, schwenkte geistesabwesend den Wein im Glas, wie er es sich von Artur abgeschaut hatte, lächelte hin und wieder sein–wie Heydar es nannte–Sechs-Millionen-Dollar-Lächeln, sah dabei aber eher besorgt aus.
Nach dem Essen räumten Nima und Jo das Geschirr ein. Artur durchstöberte seine Kraut- und Progressive-Rock-Platten. »Bevor Artur Keith Jarretts The Köln Concert auspackt, sollten wir oben sein«, flüsterte Jo.
Sie gingen nicht hoch. Artur fragte Nima, ob er King Crimson kenne, die alten Sachen von Genesis mit Peter Gabriel oder The Monks. Nima kannte nichts davon.
»Bitte nichts Anstrengendes«, wünschte sich Uta Maybach. Und weil Nima den Namen Pink Floyd schon mal gehört hatte, legte Artur The Dark Side of the Moon auf.
»Cabasse Pearl!«, stellte Artur die Kugelboxen vor, wie einen Musiker, den jeder kannte und zu dem man nichts mehr sagen musste, während die Herzschläge, mit denen der erste Song »Speak to me« begann, den Raum erfüllten, von Gesprächsfetzen und Lachen abgelöst, dann dem Sound eines Hubschraubers wichen, der so präsent war, dass man dachte, er wäre gerade über ihren Köpfen hinweggeflogen. Als Uta Maybach und Jo auf die Terrasse gingen, schob Artur Nima in die Mitte des Raums, wo der Klang noch voller und noch klarer sein sollte, schloss die Augen und atmete flach. Er verblieb so bis zu dem ersten Breathe in the air, dann schüttelte er ungläubig den Kopf und schaute Nima mit demselben Blick an, den er beim Öffnen der Safrandose hatte. Nima lächelte und nickte. Dann gingen sie hinaus, und Artur machte sich daran, ein paar Holzscheite in die Feuerschale zu legen und sie anzuzünden. Nima setzte sich zu Jo, die in den Himmel schaute. Jo legte ihren Kopf auf seine Schulter und sagte nichts.
Nima dachte daran, wie lange sie wohl von den Lebensmitteln leben könnten, die in den Kühlschränken und Regalen gehortet waren, wenn er jetzt aufstehen, die Tür von innen abschließen und sie alle einsperren würde. Er dachte an seine Schuhe, die vor der Glastür standen. Saam hatte sie ihm gekauft. Genauso wie sein erstes Skateboard. Vielleicht war es gut, dass Saam weg war. Vielleicht würde der Knast ihm helfen, sich in den Griff zu kriegen. Vielleicht würde er dort Geduld lernen und Selbstbeherrschung. Nima wusste nicht, woher diese Gedanken kamen, aber er wünschte Saam nicht die Freiheit. Außer vielleicht eine letzte Nacht. Eine, die er in Nimas Vorstellung leise verbringen würde und allein. Noch einmal auf dem Stromkasten beim Spielplatz sitzen, wo sie früher abhingen, oder auf ein Dach klettern und auf die Stadt runterschauen, einen letzten Joint rauchen. Ein letztes Bier. Noch mal durch die Straßen laufen, hier und da jemanden grüßen und nicht erzählen, was anstünde. Ein letzter Gedanke an Nima vielleicht, wissen, dass er in Sicherheit war.
Dass ihn die Schuhe weit weg in Sicherheit gebracht hatten. In eine andere, zehn, zwölf Kilometer entfernte Galaxie, in der eine Suppe ein Gesprächsthema sein konnte und The Dark Side of the Moon über Boxen lief, an die ihre Besitzer glaubten und von denen sie redeten wie von Kathedralen. Eine Galaxie, in der man Abenteuer bestand für Safran. Wo das verlässliche Rauschen der Spülmaschine Sicherheit versprach. Wo Ohrringe hundert Jahre alt wurden und Gewalt eine Hypothese war. Wo man immer gewann.
Nima war da, wo Saam ihn hätte sehen wollen, wenn er diesen Ort gekannt hätte, und vielleicht würde er sich sogar wünschen, dass Nima die Tür abschließen und drinbleiben würde, bis die Vorräte aufgebraucht waren. Vielleicht enthielt dieser Ort nicht die ganze Wahrheit, aber diese Wahrheit gab es auch. Sie war genauso echt. Nima war in diese Wahrheit eingedrungen, setzte sich auf ihre Stühle, schlief in ihrem Bett. Warum sollte er da nicht auch die Vorhänge zuziehen oder die Tür abschließen können.
Jo schaute in das Feuer und schwieg. Artur setzte sich und tat das Gleiche.
Aus den Boxen erklang »On the run«. Uta Maybach lächelte Nima an, wie es Mütter, aber auch Geliebte tun. Ihre Ohrringe nickten.
GESTERN
Jamshid öffnete den Briefkasten in möglichst großen Abständen. Schwierig zu sagen, ob es ein Sieg im Sinne einer Selbstermächtigung war oder eine Niederlage, weil er den Briefen ohnehin nichts entgegenzusetzen hatte, und so hielt er die beiden Schreiben vom Landgericht, adressiert an Saam, gleichzeitig und auch zu spät–beide waren schon vor zwei Wochen abgeschickt worden–in der Hand. Andererseits gab es gar kein Zuspät, denn Saam saß jetzt seit beinahe einem Monat in Untersuchungshaft, und ihm Briefe nach Hause zu schicken, war entweder sehr stupide oder sehr penibel. Wahrscheinlich beides. Jedes Land hat seine eigene Art der Idiotie, dachte Jamshid und schloss die klapprige Briefkastentür wieder zu. Seine Hand würde jetzt nach Rost riechen und nach schlechten Nachrichten. Er rieb sie am Oberschenkel ab. Allein wegen des Geruchs ergab es Sinn, den Briefkasten zu meiden.
Er hatte sich sein schwarzes Jackett über die Schultern gelegt wie ein Cape und zog sich mit einer Hand am Geländer hoch. Mehr als zwei Jahrzehnte war die Amputation her, und immer noch hatte er beim Treppensteigen dieses Ziehen in dem Fuß, der nicht mehr da war. Und noch immer konnte er nicht lokalisieren, in welchem Zeh es zog. Er hielt den Oberkörper schief, beugte sich nach jeder Stufe über das Geländer und verdrehte dabei die Hüfte.
Doktor Farhadi kann mich mal, dachte er. Sein Hausarzt, der Shah-Anbeter, hatte nicht mal die Eier gehabt, den Fuß auf iranischen Boden zu setzen, um seinem Herrn zur Seite zu stehen, und jetzt wollte er Jamshid erzählen, wie er zu laufen hatte.
»Sie müssen kleine Hüpfer machen. Nur mit dem einen, dem gesunden Bein. Sonst belasten Sie das Hüftgelenk zu sehr, und auch die Wirbelsäule mag das gar nicht. Das ist zu stark. Der Verschleiß. Das ist nicht gut. Gar nicht gut.«
Ja, wie man sein Rückgrat nicht beansprucht, das wusste der Verräter. Kleine Hüpfer. Genau sein Ding. Es hatte nicht mehr als ein Stipendium gebraucht, und dreißig Jahre später stand immer noch die alte Flagge mit dem Löwen und der Sonne auf Doktor Farhadis Schreibtisch, als wäre seine Praxis das geheime Konsulat des Shahs. Ja, von kleinen Hüpfern verstand er was. Jamshid würde keine kleinen Hüpfer machen. Er würde sich weiter am Geländer hochziehen, die Hüfte belasten, sich verschleißen, wie ein Mann. Ins dritte Obergeschoss, rauf und runter.
Oben öffnete er die Tür, legte die Briefe auf die Kommode im Flur. Sie hatten zu warten, bis sie dran waren. Dann ging er in die Küche, setzte Wasser auf, danach ins Wohnzimmer, um nach dem Kanarienvogel zu schauen. Der Vogel hatte alles, aber darum ging es nicht. Jamshid nahm den Wasserspender raus, ging ins Bad und füllte neues Wasser ein, während er mit dem Vogel sprach wie mit einem Kleinkind. Nur ohne den Singsang in der Stimme. Das Wasser kochte jetzt, hatte aber zu warten, jetzt waren die Briefe dran. Sie waren wichtig. Nicht um ihrer repräsentativen Bedeutung willen, sondern aufgrund der Tragweite ihrer Konsequenzen. Natürlich. Er öffnete den ersten. Allein, dass es ein Aktenzeichen gab, beleidigte ihn.
»In der Strafsache gegen . . . wegen schweren Raubes . . . «
Das Wort »Strafsache« hatte nichts in dieser Wohnung zu suchen. »Raub« schon gar nicht. Der Brief erzeugte Enge. Er las weiter. Der Gerichtstermin war am Tag zuvor gewesen. Das hieß, es stand schon alles fest. Vielleicht besser so. Ja. Besser so. Saam hätte . . . egal. Das Urteil stand. Das Wasser kochte. Jamshid wollte raus, aber er war kein Mann, der vor einem Brief floh. Nein. Er würde seinen Tee trinken. Noch mal nach dem Vogel schauen. Nach dem Futter. Es zog in dem Fuß, der nicht da war. Er nahm ein Stück Zucker aus der blauen Glasschale, die auf dem Tisch stand, hielt es kurz in den Tee, damit es sich vollsog, und ließ es dann langsam in das Glas gleiten, ohne dass sich Bläschen auf der Oberfläche bildeten. Er verwendete nicht die deutschen, quadratischen Zuckerwürfel, sondern kaufte bei Hameed Agha, dem Lebensmittelhändler, den in Kegel gepressten Zucker aus dem Iran, den er mit einer Kneifzange auf dem Boden über Zeitungspapier hockend zeremoniell zerkleinerte, während er persische Klassik, meist Shajarian oder Nazeri hörte. Im Sommer auch Ghavami. Der iranische Zucker war feiner in der Körnung, und Jamshid war der Überzeugung, dass er fester gepresst wurde, dadurch weniger Luft einschloss, und weniger Luft hieß weniger Bläschen. Weniger Bläschen, weniger Geräusche beim Eingießen und beim Rühren. Mehr brauchte es nicht, um Kultur von Barbarei zu unterscheiden, und als er eine Dokumentation über Beduinen irgendwo in Maghreb gesehen hatte, in der gezeigt wurde, wie sie ihren Tee absichtlich mit einem langen, dünnen Strahl in die Gläser gossen, sodass es schäumte »wie Kamelpisse«, war alles bewiesen und belegt. Er rührte den Tee nicht mit einem Löffel um, sondern schwenkte das Glas in kleinen Kreisen aus dem Handgelenk.
Als Nima nach Hause kam, war Jamshid nicht da. Sein Tee stand halb geleert auf dem Küchentisch, und die Briefe lagen offen auf der Kommode im Flur wie eine Aufforderung, der Nima auch nachkam.
Er las sie und erschrak über das Datum. Was sollte man mit diesen Briefen machen? Sie aufheben? Sein Vater würde sie nicht aufbewahren, aber auch nicht wegschmeißen. Sie würden da liegen bleiben, andere Briefe würden auf ihnen landen, ihren Inhalt relativieren. Und irgendwann hätte er einen diffusen Stapel Papier weggeschmissen, und nicht diese Briefe. Also ließ er sie liegen.
Es gab keinen Platz für sie, der sich richtig angefühlt hätte. Nima kramte Stift und Zettel aus seiner Tasche, schrieb die Termine auf, auch wenn er nicht wusste, wozu. Dann ging er in die Küche, öffnete den Mülleimer und legte die Briefe vorsichtig hinein, als hätte er Angst, jemanden aufzuschrecken. Sie lagen oben auf den Eierschalen und dem angebrannten Reis, Jamshids gestrigen Kochversuchen.
Er machte das Licht aus und verließ die Küche. Dann drehte er um, machte das Licht wieder an, holte die Briefe aus dem Müll und schlich in Saams Zimmer.
RHIZOM
Donnerstags war der Familienabend bei den Maybachs. Wenn da mal nicht gekocht wurde, gingen sie in der Kantstraße essen. Bei dem Italiener, auf den Westberlin schwor. Und manchmal nahmen sie auch Nima mit. Artur grüßte und bestellte immer auf Italienisch. Die Kellner versuchten, so zu tun, als wäre es nicht weniger anstrengend und zeitraubend, wenn er das sein ließe. Das Thema beim Essen war das Essen und Artur der Hauptredner. Für die Limoncello-versus-Grappa-Frage kam der Besitzer und Chefkoch persönlich an ihren Tisch und stieß auf Leben, Gesundheit und Liebe an. Er musste mal gut ausgesehen haben, vor der fetten Leber, den zerscheuerten Bandscheiben und dem Ibuprofen-verdünnten Blut. Einmal klagte er über mangelndes Personal, und Artur schlug vor, Nima eine Probeschicht machen zu lassen. Der Gastronom schaute Nima mit gelben Augen unter labbrigen Lidern an und nickte. Nima nickte nicht, und Jo schaute ihren Vater erst verwundert und wachsam, dann beherrscht freundlich an, und als der Restaurantbesitzer sich einverstanden erklärte und es für Nima nicht mehr möglich war, ohne einen Affront Nein zu sagen, klatschte sie zwei Mal in die Hand wie ein Kind, das sich freut. Nima konnte genau beobachten, wie sie ihn erst vor Arturs wohlwollender Übergriffigkeit schützen wollte, dann nachgab und schließlich diesen dezenten Verrat beging.
Er ging an dem darauffolgenden Mittwoch zu der vereinbarten Probeschicht. Lieh sich von Artur eine schwarze Strickkrawatte aus, von der Artur meinte, sie würde »rocken«, und die ihm Uta band.
»Es gibt zwei Wege, Dinge zu lernen. Ausprobieren oder Nachahmen«, sagte der Gastronom ihm dann gleich bei der Begrüßung am Tresen, während er sich einen langgezogenen Espresso aus der Maschine zog. »Probier hier nichts aus!«
Nima probierte nichts aus. Er ahmte nach. Und er war geschickt. Mit den Tellern, der Espressomaschine, den Gästen, mit dem Akzent, mit der Kellnerin, die ihm zeigte, wie man eine Krawatte band, und auch mit der ab zweiundzwanzig Uhr champagnerblauen Frau des Besitzers, die Nima anders mochte, als sie sollte, und die ihren Mann manchmal veranlasste, ihm zum Feierabend eine Zabaglione zu machen, was unter den Italienern für ein Grinsen sorgte, das Nima erst später verstand.
Es gab Eifersüchteleien und Neid unter den anderen Kellnern, aber Nimas Lächeln garantierte die zehn Prozent Trinkgeld. Sie schickten ihn zum Abkassieren und teilten das Trinkgeld ungerecht. Irgendwann sagte ihm die Kellnerin, dass er ihr leidtat, weil die anderen ihn ausnutzten und das Trinkgeld nicht mit ihm teilten. Er sagte, dass sie ihm fast jeden Abend einen Zwanziger zusteckten, und sie rechnete ihm vor, wie es gerecht aufgeteilt werden müsste und wer welchen Stundenlohn bekam. Sie standen im Umkleideraum. Nima begriff, dass er betrogen wurde, schaute in den Spiegel und lächelte sein Lächeln.
Er kam weiterhin zu seinen Schichten, lernte etwas Italienisch, kassierte die Gäste ab, ließ sich von den Kellnern übers Ohr hauen, bediente sogar mal die Maybachs, schüttete Artur den Wein ein und ließ ihn erzählen, was an dem Tropfen besonders war, als wollte Nima den Wein kaufen und nicht er. Er aß seine Zabaglione, und als einer der Jungs, die damals auf Jos Party waren, mit seinen Eltern zum Essen kam, ging er für ihn zum nächsten Kiosk, um Zigaretten zu holen. Das alles fühlte sich weder richtig noch gut an, aber auch nicht falsch oder schlecht genug, um zu kündigen. Und er sparte. Als seine Freunde vom Yard anfingen, erst mit Gras, dann mit Pillen zu dealen, Kokain in die Stadt kam und die Karren in Kreuzberg und Neukölln dicker und protziger wurden, saß er nicht nur an einer Schnittstelle, er hatte auch die Mittel, einzusteigen. Dann kündigte er im Restaurant.
Und auch bei den Maybachs kündigte er. Dieses Leben im Gutgemeinten, das sie ihm vorgesetzt hatten, das Schenken, mit dem sie sich veredelten, die Neugierde, die donnerstags als Aufgeschlossenheit und Interesse daherkam und keine Grundlosigkeit, kein »einfach so« akzeptierte. Die Fragen hatten sich gehäuft. Nach Saam, nach seiner Mutter und einmal sogar nach der Glaubwürdigkeit der Geschichte seiner Eltern.
Es war nach einem dieser therapeutischen Wir-reden-über-alles-Abende. Er stand mit Jo in ihrem Zimmer.
»Was denkst du? War es nicht heftig, dass sie im Widerstand war? Mit zwei Kindern?«, fragte Jo.
»Okay. Reden wir über meine Ma. Sie ist tot. Was willst du noch wissen? Mein Vater? Lebt. Ich habe einen Bruder. Saam. Sehe ihn selten. Mein Vater ist ein netter Typ. Mein Bruder? Geht so. Ich heiße Nima. Meine Lieblingsfarbe ist Blau. Blautürkis.«
»Pass auf«, erwiderte Jo. »Wenn du nicht reden willst, ist es deine Entscheidung, aber ich werde nicht warten, bis du jedes Gefühl durch einen Witz ersetzt hast, okay? Ich wäre gerne mit jemandem zusammen, von dem ich weiß, wer er ist und was er fühlt.« Sie sagte das leise, eiskalt und kontrolliert.
»Also gut. Keine Ahnung, ob es für meine Mutter im Widerstand heftig war. Wir können sie schlecht fragen.« Es widerte ihn an, dass sie sich überhaupt erlaubt hatte, sich darüber Gedanken zu machen, und er fuhr fort: »Und jetzt? Haben wir jetzt darüber geredet?«
Jo antwortete: »Wir haben angefangen, darüber zu reden. Ja. Was sagt denn dein Vater dazu?«
»Das kann ich ihn nicht fragen. Möchte ich auch nicht.«
»Kannst nicht fragen. Noch nie drüber geredet?«
»Genau. Kann ich nicht. Weil wir Perser sind. Weil das ein Kodex ist. Weil wir die Toilettentür abschließen. Ich kann da nicht einfach . . . Mein Vater trägt immer noch Schwarz. Verstehst du das? Verstehst du, was das heißt? Er wird noch Schwarz tragen, bis er stirbt. Mein Vater heißt Jamshid. Nicht Johannes. Wir sind nicht . . . Wir sind keine Kartoffeln. Es muss nicht irgendwie weitergehen. Ich weiß, dass du das Selbstmitleid nennst. Es ist aber Trauer. Er begräbt das mit sich. Das ist sein Plan. Seine Entscheidung. Ist das okay für dich?«
Jo schnaubte, als wäre sie wütend. Aber eigentlich war sie nur ernst. Wütend wäre besser gewesen, dachte Nima. Er hatte recht gehabt. Es war nicht gut, wenn Deutsche neugierig waren.
Er ging aus dem Zimmer, die Treppe runter. Im Flur hingen Arturs Jeans und Jackett auf dem Geländer. Die Hose war auf links, als hätte sie ein Kind ausgezogen und dahin geworfen. Das Jackett filzig, verwaschen. Er schnappte sich sein Brett, verließ das Haus und fuhr los. Kaum ein Auto auf der Straße. Es war schon dunkel. Und das Geräusch der Rollen auf dem Asphalt perfekt.
Jamshid saß in der Küche, als er heimkam. Vor sich auf dem Tisch lagen drei Zeitungen. Die FAZ, die Süddeutsche und die Berliner Zeitung. Alle drei waren aufgeschlagen, und er schob sie zentimeterweise hin und her, legte sie über- und nebeneinander, als vergliche er die Schriftarten oder die Größen der Artikel.
Er schaute nicht auf. Am nächsten Abend knutschte Nima auf dem Yard mit einem Mädchen, das Oilily-Parfüm trug und Tennissocken, das Kleine Feiglinge kippte, Smirnoff Ice schlürfte und dessen Namen er sich nicht merkte.
Jo schrieb zum Abschied einen langen Brief und gab ihn Nima in der Schulpause. Er las ihn.
Es war Donnerstag. Die Tür stand offen, als Nima ankam. Er klingelte trotzdem, und Jos Vater rief ihn hinein und begrüßte ihn wie einen alten Freund. Dann erklärte er, dass sich die Frauen verspäten würden, holte einen Weißwein aus dem Kühlschrank, mit den Worten: »Umso besser, bleibt mehr für uns«, und schenkte Nima ein Glas ein.
Jo hatte ihrem Vater alles über Nima erzählt, zumindest das, was sie wusste. Und jetzt sollten sie, die Männer, zusammen eine Bouillabaisse für ihre Frauen kochen, sich kennenlernen. Bei Wein und Musik.
Auf der anderen Seite der Kochinsel, die Artur »seine Werkstattbank« nannte, stand der rotgesichtige Mann und streichelte mit freundlichen dicken Händen den Wolfsbarsch, dem er gerade die Schuppen abgeschabt hatte. Er legte sich den Fisch zurecht, setzte das Messer an und pulte die leberbraun schimmernde Kiemenlamelle hervor, entfernte sie, indem er je einen kleinen Schnitt über und unter die Kieme setzte. Weniger wie ein Koch, eher wie ein Veterinär, der einen narkotisierten Fisch von einem Parasiten befreit oder von einem eingewachsenen Angelhaken. Beinahe liebevoll. Dann hielt er Nima die Kieme entgegen, als hätte er eine Perle in einer Auster gefunden.
Er drehte den Fisch um. Auf der anderen Seite: wieder Fisch, wieder Wolfsbarsch, wieder Kieme, und Nima fragte sich, ob Artur das auch getan hätte, wenn er Italiener oder Franzose wäre. Artur zog eine Schublade auf, entnahm ihr eine kleine Dose und öffnete sie vorsichtig. Den Deckel nur leicht angehoben, ohne ihn abzunehmen. Wie ein Kind, das eine Heuschrecke in einer Streichholzschachtel hält und Angst hat, sie könnte beim Öffnen der Schachtel entwischen. Die Augen glänzend, der Blick schelmisch, triumphierend.
In der Dose: Safran. Iranischer Safran, wie er betonte.
Artur war dafür nach Charlottenburg gefahren.
In den kleinen iranischen Laden war er mit einem kraftvollen »Salam aleikum« eingetreten, das das Ladeninhaber-Ehepaar in einer solchen Entschlossenheit nur von Mullahs und strengen Milizionären kannte, und er hätte sie zu Tode erschreckt, wären da nicht die vom ersten Buchstaben an dissonante Aussprache und die deutsche Akzentsetzung gewesen, die die Grußformel gerade durch das Statische und Harte merkwürdig entschärft hatten. Darauf hatte die Inhaberin mit einem »Aleikum al Salam« in der gleichen Gangart geantwortet, die Wörter aus der Kehle gedrückt, dabei aber breit gelächelt. Artur war der parodistische Teil entgangen, er hatte sich an der Herzlichkeit in dem Lächeln erfreut. Ein elegantes Missverständnis, in dem er eine Einladung gesehen hatte zu einer anschließenden langen Tour, die eher einer Fernreise als einer Einkaufstour geglichen hatte. Eine eklektisch anachronistische Reise in den Vorderen Orient, ins alte Persien, nach Mesopotamien. Er hatte auf die Kochbücher, Miniaturen und Kalligrafie im Regal hinter der Kasse gezeigt und Fragen gestellt. Auf fünfundvierzig Quadratmetern Ladenfläche war er Assyrern, Aramäern, Juden und Parsen begegnet. Hatte mit Derwischen getanzt, mit Fakiren gefastet, hatte mit Nomaden gejagt, mit persischen Königen Polo gespielt, sie mit korrektem Wissen aus dem National Geographic und falschem aus dem Medicus beeindruckt. In der Stadt Bam hatte er eine einzelne Dattel gepflückt, saftig und schwarz. Er hatte die Schlacht von Kerbala von einem entfernten Hügel aus miterlebt, war anschließend ans Kaspische Meer gezogen, wo er Ruhe gefunden und Tee aus den umliegenden Plantagen getrunken hatte. Er war auf dem Rücken von Pferden, Kamelen und Elefanten die Seidenstraße langgeritten. Freundschaften hatte er geschlossen, Sprachen gelernt, Kardamom und ebendie Dose Safran erstanden. Mit einem Zwanziger hatte er bezahlt, das Wechselgeld bewusst nicht gezählt. Er hatte vertraut. Sie würden sich wiedersehen. Er würde wiederkommen. Vielleicht sogar mit Nima. Seinem Freund.
Und jetzt stand er da, gefüllt mit Abenteuern und Weißwein und bebte erregt. Den Safran in der Hand und ein »Was man damit alles machen könnte!« in den Augen, das Nima nicht beantworten konnte. Safran, ja. Kannte er. War auch wohl wichtig irgendwie. Oder teuer. Aber was man damit alles anstellen konnte, war ihm ein Rätsel, und er ahnte, dass das Artur enttäuschen würde.
Jamshids oder Saams Küche entstiegen selten irgendwelche Farben oder Düfte. Jamshid kochte zwar auch, aber würde man ihn mit einer vorgezogenen Pistole zwingen, seine Rezepte zu einem Kochbuch zusammenzufassen, würde das Buch »Die Sättigung« heißen. Würde man ihn zwingen, ein regionales Kochbuch zu schreiben, würde er ihm einen Titel geben wie »Das ewige Joch der Folklore«. Seine Pragmatik entsprang aber nicht der Not. Zumindest nicht allein der Not. Hauptsächlich rührte sie aus der Ablehnung bürgerlicher Dekadenz, welche sich schon im Genuss äußerte und für Jamshid unannehmbar obszön war. Es regte ihn nicht auf, wenn andere ihr Essen genossen. Nichts regte ihn noch auf, er fand es eben dekadent, wie andere es zum Beispiel dekadent fanden, eine Putzfrau zu haben, und deshalb keine hatten. Jamshid, in dessen Welt der Hungerstreik, der Entschluss und auch die Bereitschaft, zu verhungern, eine Waffe darstellte, von der so einige seiner Freunde bereits Gebrauch gemacht hatten, genoss die Nahrungsaufnahme einfach nicht sonderlich. Das war alles.
Zum Kardamom hätte Nima was sagen können. Davon tat man eine Kapsel in den Tee. Aber Safran?
Artur legte die Dose auf den Tisch, öffnete sie jetzt ganz, entnahm ihr ein paar Fäden, sortierte sie auf seiner Handfläche und ließ sie anschließend in den Sud fallen, während er von den Flecken an den Flanken des Petersfisches erzählte. An der Stelle habe der Apostel Petrus den Fisch der Bibel nach berührt, um ihm auf Jesu Wunsch eine Münze zu entlocken, eine Stater-Münze zur Entrichtung der Tempelsteuer. Allerdings soll er den Fisch aus dem See Genezareth gezogen haben, einem Süßwassersee, während der Petrusfisch ein Salzwasserfisch ist.
Nima schaute sich um und versuchte, zwischen den ausgebreiteten Zutaten, dem Fenchel, den Karotten und Zwiebeln, einen Grund zu finden, warum ihn das alles interessieren sollte.
Dann beschloss Artur, dass sie den Fisch nicht mitkochen, sondern à la minute braten würden, wenn alle am Tisch saßen.
»Wie findest du den Wein?«, fragte Artur.
»Ganz gut?«, fragte Nima zurück.
Dann rieb Artur die Fingerspitzen und ließ die Zunge im Mund herumkreisen, als kaute er den Wein, gab Gaumengeräusche von sich und sagte nach dem Schlucken: »Die Hefe.«
Nima kaute auch kurz, nickte: »Ja.«
Dann folgte ein im Vergleich zu dem Petersfischvortrag kurzer Monolog über Schiefer, über Steilhänge, die Anbaugebiete südlich der Loire, über blutende Weine, und Nima ertrug es wie ein Happy-Birthday-Ständchen.
Uta Maybach trug einen pistaziengrünen Kaschmirpullover, als sie die Treppen runterkam. Einen Armreif aus dunklem Holz, dazu schlichte rote Korallenhängeohrringe, die antik aussahen. Sie sah aus wie eine Präsidentengattin oder eine Porno-Fantasie. Kurz darauf kam auch Jo, huschte durch die Haustür, gab Nima einen Kuss, richtete das Hemd ihres Vaters, rannte hoch und kam in einem Seidenblouson zurück. Sie freute sich. Über das Essen und darüber, dass Artur Nima zu mögen schien.
Später, nach der zweiten Flasche Wein und der Bouillabaisse, füllte Jo die Stille mit etwas, das sie ein »echtes Thema« nannte. In der Zeitung hatte sie von einem Schwarzen Jugendlichen gelesen, der in den Staaten von einem Polizisten mit mehreren Schüssen aus nächster Nähe quasi exekutiert worden sei. Jo las nämlich Zeitung.
»Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass jemand Angst haben kann vor der Polizei. Also klar, ich weiß, ich bin der Prototyp des weißen, zu beschützenden Mädchens, und ich weiß auch, dass es da Arschlöcher gibt und Rassisten und so, aber es muss doch erst mal was passieren, damit die zuschlagen oder schießen. Irgendwas. So kaltblütig ist doch keiner.«
Naivität und Realismus schienen sich in Jos Welt recht gut zu vertragen. Nima stellte sich vor, wie sie in eine Situation hineinrannte, in der drei Cops einen Schwarzen, der am Boden lag, mit Schlagstöcken bearbeiteten, und das Ganze durch ihre bloße Anwesenheit auflöste. Sie würde nicht rumkreischen oder sich dazwischenwerfen. Sie würde sich hinstellen und die Polizisten daran erinnern, dass sie Polizisten seien und sich bitte darauf besinnen mögen. Und es würde vielleicht tatsächlich funktionieren.
Uta Maybach, der Nimas fehlende Anteilnahme aufgefallen war, versuchte, ihn einzubinden.
»Was sagt Nima denn dazu?«
Nima hätte gerne nichts dazu gesagt. Aber Nichtssagen wurde bei den Maybachs wahrscheinlich nicht gern gesehen.
»Ist schon was dran, denke ich. Es gibt bestimmt einen Weg, bei einer Verkehrskontrolle nicht erschossen zu werden«, antwortete er.
Artur, der von seiner Tochter, zumindest aber von ihrem neuen, dunkelhäutigen Freund offenbar mehr Kritik und Widerstand oder auch nur jugendliche Energie erwartete, schien enttäuscht.
»Natürlich gibt es einen Weg, nicht erschossen zu werden. Nur haben manche Menschen eine dunkle Haut und müssen ihn suchen, mit einem Revolver im Gesicht, und andere eben nicht«, sagte Artur und erhoffte sich von Nima, dass der Groschen jetzt gefallen sei.
Nima sah sich aber gar nicht als dunkelhäutig. Während Saam optisch deutlich ein Kind des Nahen Ostens war, war Nima schwer einzuordnen. Er wäre als Italiener, Franzose, Grieche, aber auch als Argentinier oder Kolumbianer durchgegangen. Er hätte sogar Deutscher sein können, mit einem Urgroßvater, der aus dem Ural stammte oder Ungar war oder so. Er saß da, schwenkte geistesabwesend den Wein im Glas, wie er es sich von Artur abgeschaut hatte, lächelte hin und wieder sein–wie Heydar es nannte–Sechs-Millionen-Dollar-Lächeln, sah dabei aber eher besorgt aus.
Nach dem Essen räumten Nima und Jo das Geschirr ein. Artur durchstöberte seine Kraut- und Progressive-Rock-Platten. »Bevor Artur Keith Jarretts The Köln Concert auspackt, sollten wir oben sein«, flüsterte Jo.
Sie gingen nicht hoch. Artur fragte Nima, ob er King Crimson kenne, die alten Sachen von Genesis mit Peter Gabriel oder The Monks. Nima kannte nichts davon.
»Bitte nichts Anstrengendes«, wünschte sich Uta Maybach. Und weil Nima den Namen Pink Floyd schon mal gehört hatte, legte Artur The Dark Side of the Moon auf.
»Cabasse Pearl!«, stellte Artur die Kugelboxen vor, wie einen Musiker, den jeder kannte und zu dem man nichts mehr sagen musste, während die Herzschläge, mit denen der erste Song »Speak to me« begann, den Raum erfüllten, von Gesprächsfetzen und Lachen abgelöst, dann dem Sound eines Hubschraubers wichen, der so präsent war, dass man dachte, er wäre gerade über ihren Köpfen hinweggeflogen. Als Uta Maybach und Jo auf die Terrasse gingen, schob Artur Nima in die Mitte des Raums, wo der Klang noch voller und noch klarer sein sollte, schloss die Augen und atmete flach. Er verblieb so bis zu dem ersten Breathe in the air, dann schüttelte er ungläubig den Kopf und schaute Nima mit demselben Blick an, den er beim Öffnen der Safrandose hatte. Nima lächelte und nickte. Dann gingen sie hinaus, und Artur machte sich daran, ein paar Holzscheite in die Feuerschale zu legen und sie anzuzünden. Nima setzte sich zu Jo, die in den Himmel schaute. Jo legte ihren Kopf auf seine Schulter und sagte nichts.
Nima dachte daran, wie lange sie wohl von den Lebensmitteln leben könnten, die in den Kühlschränken und Regalen gehortet waren, wenn er jetzt aufstehen, die Tür von innen abschließen und sie alle einsperren würde. Er dachte an seine Schuhe, die vor der Glastür standen. Saam hatte sie ihm gekauft. Genauso wie sein erstes Skateboard. Vielleicht war es gut, dass Saam weg war. Vielleicht würde der Knast ihm helfen, sich in den Griff zu kriegen. Vielleicht würde er dort Geduld lernen und Selbstbeherrschung. Nima wusste nicht, woher diese Gedanken kamen, aber er wünschte Saam nicht die Freiheit. Außer vielleicht eine letzte Nacht. Eine, die er in Nimas Vorstellung leise verbringen würde und allein. Noch einmal auf dem Stromkasten beim Spielplatz sitzen, wo sie früher abhingen, oder auf ein Dach klettern und auf die Stadt runterschauen, einen letzten Joint rauchen. Ein letztes Bier. Noch mal durch die Straßen laufen, hier und da jemanden grüßen und nicht erzählen, was anstünde. Ein letzter Gedanke an Nima vielleicht, wissen, dass er in Sicherheit war.
Dass ihn die Schuhe weit weg in Sicherheit gebracht hatten. In eine andere, zehn, zwölf Kilometer entfernte Galaxie, in der eine Suppe ein Gesprächsthema sein konnte und The Dark Side of the Moon über Boxen lief, an die ihre Besitzer glaubten und von denen sie redeten wie von Kathedralen. Eine Galaxie, in der man Abenteuer bestand für Safran. Wo das verlässliche Rauschen der Spülmaschine Sicherheit versprach. Wo Ohrringe hundert Jahre alt wurden und Gewalt eine Hypothese war. Wo man immer gewann.
Nima war da, wo Saam ihn hätte sehen wollen, wenn er diesen Ort gekannt hätte, und vielleicht würde er sich sogar wünschen, dass Nima die Tür abschließen und drinbleiben würde, bis die Vorräte aufgebraucht waren. Vielleicht enthielt dieser Ort nicht die ganze Wahrheit, aber diese Wahrheit gab es auch. Sie war genauso echt. Nima war in diese Wahrheit eingedrungen, setzte sich auf ihre Stühle, schlief in ihrem Bett. Warum sollte er da nicht auch die Vorhänge zuziehen oder die Tür abschließen können.
Jo schaute in das Feuer und schwieg. Artur setzte sich und tat das Gleiche.
Aus den Boxen erklang »On the run«. Uta Maybach lächelte Nima an, wie es Mütter, aber auch Geliebte tun. Ihre Ohrringe nickten.
GESTERN
Jamshid öffnete den Briefkasten in möglichst großen Abständen. Schwierig zu sagen, ob es ein Sieg im Sinne einer Selbstermächtigung war oder eine Niederlage, weil er den Briefen ohnehin nichts entgegenzusetzen hatte, und so hielt er die beiden Schreiben vom Landgericht, adressiert an Saam, gleichzeitig und auch zu spät–beide waren schon vor zwei Wochen abgeschickt worden–in der Hand. Andererseits gab es gar kein Zuspät, denn Saam saß jetzt seit beinahe einem Monat in Untersuchungshaft, und ihm Briefe nach Hause zu schicken, war entweder sehr stupide oder sehr penibel. Wahrscheinlich beides. Jedes Land hat seine eigene Art der Idiotie, dachte Jamshid und schloss die klapprige Briefkastentür wieder zu. Seine Hand würde jetzt nach Rost riechen und nach schlechten Nachrichten. Er rieb sie am Oberschenkel ab. Allein wegen des Geruchs ergab es Sinn, den Briefkasten zu meiden.
Er hatte sich sein schwarzes Jackett über die Schultern gelegt wie ein Cape und zog sich mit einer Hand am Geländer hoch. Mehr als zwei Jahrzehnte war die Amputation her, und immer noch hatte er beim Treppensteigen dieses Ziehen in dem Fuß, der nicht mehr da war. Und noch immer konnte er nicht lokalisieren, in welchem Zeh es zog. Er hielt den Oberkörper schief, beugte sich nach jeder Stufe über das Geländer und verdrehte dabei die Hüfte.
Doktor Farhadi kann mich mal, dachte er. Sein Hausarzt, der Shah-Anbeter, hatte nicht mal die Eier gehabt, den Fuß auf iranischen Boden zu setzen, um seinem Herrn zur Seite zu stehen, und jetzt wollte er Jamshid erzählen, wie er zu laufen hatte.
»Sie müssen kleine Hüpfer machen. Nur mit dem einen, dem gesunden Bein. Sonst belasten Sie das Hüftgelenk zu sehr, und auch die Wirbelsäule mag das gar nicht. Das ist zu stark. Der Verschleiß. Das ist nicht gut. Gar nicht gut.«
Ja, wie man sein Rückgrat nicht beansprucht, das wusste der Verräter. Kleine Hüpfer. Genau sein Ding. Es hatte nicht mehr als ein Stipendium gebraucht, und dreißig Jahre später stand immer noch die alte Flagge mit dem Löwen und der Sonne auf Doktor Farhadis Schreibtisch, als wäre seine Praxis das geheime Konsulat des Shahs. Ja, von kleinen Hüpfern verstand er was. Jamshid würde keine kleinen Hüpfer machen. Er würde sich weiter am Geländer hochziehen, die Hüfte belasten, sich verschleißen, wie ein Mann. Ins dritte Obergeschoss, rauf und runter.
Oben öffnete er die Tür, legte die Briefe auf die Kommode im Flur. Sie hatten zu warten, bis sie dran waren. Dann ging er in die Küche, setzte Wasser auf, danach ins Wohnzimmer, um nach dem Kanarienvogel zu schauen. Der Vogel hatte alles, aber darum ging es nicht. Jamshid nahm den Wasserspender raus, ging ins Bad und füllte neues Wasser ein, während er mit dem Vogel sprach wie mit einem Kleinkind. Nur ohne den Singsang in der Stimme. Das Wasser kochte jetzt, hatte aber zu warten, jetzt waren die Briefe dran. Sie waren wichtig. Nicht um ihrer repräsentativen Bedeutung willen, sondern aufgrund der Tragweite ihrer Konsequenzen. Natürlich. Er öffnete den ersten. Allein, dass es ein Aktenzeichen gab, beleidigte ihn.
»In der Strafsache gegen . . . wegen schweren Raubes . . . «
Das Wort »Strafsache« hatte nichts in dieser Wohnung zu suchen. »Raub« schon gar nicht. Der Brief erzeugte Enge. Er las weiter. Der Gerichtstermin war am Tag zuvor gewesen. Das hieß, es stand schon alles fest. Vielleicht besser so. Ja. Besser so. Saam hätte . . . egal. Das Urteil stand. Das Wasser kochte. Jamshid wollte raus, aber er war kein Mann, der vor einem Brief floh. Nein. Er würde seinen Tee trinken. Noch mal nach dem Vogel schauen. Nach dem Futter. Es zog in dem Fuß, der nicht da war. Er nahm ein Stück Zucker aus der blauen Glasschale, die auf dem Tisch stand, hielt es kurz in den Tee, damit es sich vollsog, und ließ es dann langsam in das Glas gleiten, ohne dass sich Bläschen auf der Oberfläche bildeten. Er verwendete nicht die deutschen, quadratischen Zuckerwürfel, sondern kaufte bei Hameed Agha, dem Lebensmittelhändler, den in Kegel gepressten Zucker aus dem Iran, den er mit einer Kneifzange auf dem Boden über Zeitungspapier hockend zeremoniell zerkleinerte, während er persische Klassik, meist Shajarian oder Nazeri hörte. Im Sommer auch Ghavami. Der iranische Zucker war feiner in der Körnung, und Jamshid war der Überzeugung, dass er fester gepresst wurde, dadurch weniger Luft einschloss, und weniger Luft hieß weniger Bläschen. Weniger Bläschen, weniger Geräusche beim Eingießen und beim Rühren. Mehr brauchte es nicht, um Kultur von Barbarei zu unterscheiden, und als er eine Dokumentation über Beduinen irgendwo in Maghreb gesehen hatte, in der gezeigt wurde, wie sie ihren Tee absichtlich mit einem langen, dünnen Strahl in die Gläser gossen, sodass es schäumte »wie Kamelpisse«, war alles bewiesen und belegt. Er rührte den Tee nicht mit einem Löffel um, sondern schwenkte das Glas in kleinen Kreisen aus dem Handgelenk.
Als Nima nach Hause kam, war Jamshid nicht da. Sein Tee stand halb geleert auf dem Küchentisch, und die Briefe lagen offen auf der Kommode im Flur wie eine Aufforderung, der Nima auch nachkam.
Er las sie und erschrak über das Datum. Was sollte man mit diesen Briefen machen? Sie aufheben? Sein Vater würde sie nicht aufbewahren, aber auch nicht wegschmeißen. Sie würden da liegen bleiben, andere Briefe würden auf ihnen landen, ihren Inhalt relativieren. Und irgendwann hätte er einen diffusen Stapel Papier weggeschmissen, und nicht diese Briefe. Also ließ er sie liegen.
Es gab keinen Platz für sie, der sich richtig angefühlt hätte. Nima kramte Stift und Zettel aus seiner Tasche, schrieb die Termine auf, auch wenn er nicht wusste, wozu. Dann ging er in die Küche, öffnete den Mülleimer und legte die Briefe vorsichtig hinein, als hätte er Angst, jemanden aufzuschrecken. Sie lagen oben auf den Eierschalen und dem angebrannten Reis, Jamshids gestrigen Kochversuchen.
Er machte das Licht aus und verließ die Küche. Dann drehte er um, machte das Licht wieder an, holte die Briefe aus dem Müll und schlich in Saams Zimmer.
RHIZOM
Donnerstags war der Familienabend bei den Maybachs. Wenn da mal nicht gekocht wurde, gingen sie in der Kantstraße essen. Bei dem Italiener, auf den Westberlin schwor. Und manchmal nahmen sie auch Nima mit. Artur grüßte und bestellte immer auf Italienisch. Die Kellner versuchten, so zu tun, als wäre es nicht weniger anstrengend und zeitraubend, wenn er das sein ließe. Das Thema beim Essen war das Essen und Artur der Hauptredner. Für die Limoncello-versus-Grappa-Frage kam der Besitzer und Chefkoch persönlich an ihren Tisch und stieß auf Leben, Gesundheit und Liebe an. Er musste mal gut ausgesehen haben, vor der fetten Leber, den zerscheuerten Bandscheiben und dem Ibuprofen-verdünnten Blut. Einmal klagte er über mangelndes Personal, und Artur schlug vor, Nima eine Probeschicht machen zu lassen. Der Gastronom schaute Nima mit gelben Augen unter labbrigen Lidern an und nickte. Nima nickte nicht, und Jo schaute ihren Vater erst verwundert und wachsam, dann beherrscht freundlich an, und als der Restaurantbesitzer sich einverstanden erklärte und es für Nima nicht mehr möglich war, ohne einen Affront Nein zu sagen, klatschte sie zwei Mal in die Hand wie ein Kind, das sich freut. Nima konnte genau beobachten, wie sie ihn erst vor Arturs wohlwollender Übergriffigkeit schützen wollte, dann nachgab und schließlich diesen dezenten Verrat beging.
Er ging an dem darauffolgenden Mittwoch zu der vereinbarten Probeschicht. Lieh sich von Artur eine schwarze Strickkrawatte aus, von der Artur meinte, sie würde »rocken«, und die ihm Uta band.
»Es gibt zwei Wege, Dinge zu lernen. Ausprobieren oder Nachahmen«, sagte der Gastronom ihm dann gleich bei der Begrüßung am Tresen, während er sich einen langgezogenen Espresso aus der Maschine zog. »Probier hier nichts aus!«
Nima probierte nichts aus. Er ahmte nach. Und er war geschickt. Mit den Tellern, der Espressomaschine, den Gästen, mit dem Akzent, mit der Kellnerin, die ihm zeigte, wie man eine Krawatte band, und auch mit der ab zweiundzwanzig Uhr champagnerblauen Frau des Besitzers, die Nima anders mochte, als sie sollte, und die ihren Mann manchmal veranlasste, ihm zum Feierabend eine Zabaglione zu machen, was unter den Italienern für ein Grinsen sorgte, das Nima erst später verstand.
Es gab Eifersüchteleien und Neid unter den anderen Kellnern, aber Nimas Lächeln garantierte die zehn Prozent Trinkgeld. Sie schickten ihn zum Abkassieren und teilten das Trinkgeld ungerecht. Irgendwann sagte ihm die Kellnerin, dass er ihr leidtat, weil die anderen ihn ausnutzten und das Trinkgeld nicht mit ihm teilten. Er sagte, dass sie ihm fast jeden Abend einen Zwanziger zusteckten, und sie rechnete ihm vor, wie es gerecht aufgeteilt werden müsste und wer welchen Stundenlohn bekam. Sie standen im Umkleideraum. Nima begriff, dass er betrogen wurde, schaute in den Spiegel und lächelte sein Lächeln.
Er kam weiterhin zu seinen Schichten, lernte etwas Italienisch, kassierte die Gäste ab, ließ sich von den Kellnern übers Ohr hauen, bediente sogar mal die Maybachs, schüttete Artur den Wein ein und ließ ihn erzählen, was an dem Tropfen besonders war, als wollte Nima den Wein kaufen und nicht er. Er aß seine Zabaglione, und als einer der Jungs, die damals auf Jos Party waren, mit seinen Eltern zum Essen kam, ging er für ihn zum nächsten Kiosk, um Zigaretten zu holen. Das alles fühlte sich weder richtig noch gut an, aber auch nicht falsch oder schlecht genug, um zu kündigen. Und er sparte. Als seine Freunde vom Yard anfingen, erst mit Gras, dann mit Pillen zu dealen, Kokain in die Stadt kam und die Karren in Kreuzberg und Neukölln dicker und protziger wurden, saß er nicht nur an einer Schnittstelle, er hatte auch die Mittel, einzusteigen. Dann kündigte er im Restaurant.
Und auch bei den Maybachs kündigte er. Dieses Leben im Gutgemeinten, das sie ihm vorgesetzt hatten, das Schenken, mit dem sie sich veredelten, die Neugierde, die donnerstags als Aufgeschlossenheit und Interesse daherkam und keine Grundlosigkeit, kein »einfach so« akzeptierte. Die Fragen hatten sich gehäuft. Nach Saam, nach seiner Mutter und einmal sogar nach der Glaubwürdigkeit der Geschichte seiner Eltern.
Es war nach einem dieser therapeutischen Wir-reden-über-alles-Abende. Er stand mit Jo in ihrem Zimmer.
»Was denkst du? War es nicht heftig, dass sie im Widerstand war? Mit zwei Kindern?«, fragte Jo.
»Okay. Reden wir über meine Ma. Sie ist tot. Was willst du noch wissen? Mein Vater? Lebt. Ich habe einen Bruder. Saam. Sehe ihn selten. Mein Vater ist ein netter Typ. Mein Bruder? Geht so. Ich heiße Nima. Meine Lieblingsfarbe ist Blau. Blautürkis.«
»Pass auf«, erwiderte Jo. »Wenn du nicht reden willst, ist es deine Entscheidung, aber ich werde nicht warten, bis du jedes Gefühl durch einen Witz ersetzt hast, okay? Ich wäre gerne mit jemandem zusammen, von dem ich weiß, wer er ist und was er fühlt.« Sie sagte das leise, eiskalt und kontrolliert.
»Also gut. Keine Ahnung, ob es für meine Mutter im Widerstand heftig war. Wir können sie schlecht fragen.« Es widerte ihn an, dass sie sich überhaupt erlaubt hatte, sich darüber Gedanken zu machen, und er fuhr fort: »Und jetzt? Haben wir jetzt darüber geredet?«
Jo antwortete: »Wir haben angefangen, darüber zu reden. Ja. Was sagt denn dein Vater dazu?«
»Das kann ich ihn nicht fragen. Möchte ich auch nicht.«
»Kannst nicht fragen. Noch nie drüber geredet?«
»Genau. Kann ich nicht. Weil wir Perser sind. Weil das ein Kodex ist. Weil wir die Toilettentür abschließen. Ich kann da nicht einfach . . . Mein Vater trägt immer noch Schwarz. Verstehst du das? Verstehst du, was das heißt? Er wird noch Schwarz tragen, bis er stirbt. Mein Vater heißt Jamshid. Nicht Johannes. Wir sind nicht . . . Wir sind keine Kartoffeln. Es muss nicht irgendwie weitergehen. Ich weiß, dass du das Selbstmitleid nennst. Es ist aber Trauer. Er begräbt das mit sich. Das ist sein Plan. Seine Entscheidung. Ist das okay für dich?«
Jo schnaubte, als wäre sie wütend. Aber eigentlich war sie nur ernst. Wütend wäre besser gewesen, dachte Nima. Er hatte recht gehabt. Es war nicht gut, wenn Deutsche neugierig waren.
Er ging aus dem Zimmer, die Treppe runter. Im Flur hingen Arturs Jeans und Jackett auf dem Geländer. Die Hose war auf links, als hätte sie ein Kind ausgezogen und dahin geworfen. Das Jackett filzig, verwaschen. Er schnappte sich sein Brett, verließ das Haus und fuhr los. Kaum ein Auto auf der Straße. Es war schon dunkel. Und das Geräusch der Rollen auf dem Asphalt perfekt.
Jamshid saß in der Küche, als er heimkam. Vor sich auf dem Tisch lagen drei Zeitungen. Die FAZ, die Süddeutsche und die Berliner Zeitung. Alle drei waren aufgeschlagen, und er schob sie zentimeterweise hin und her, legte sie über- und nebeneinander, als vergliche er die Schriftarten oder die Größen der Artikel.
Er schaute nicht auf. Am nächsten Abend knutschte Nima auf dem Yard mit einem Mädchen, das Oilily-Parfüm trug und Tennissocken, das Kleine Feiglinge kippte, Smirnoff Ice schlürfte und dessen Namen er sich nicht merkte.
Jo schrieb zum Abschied einen langen Brief und gab ihn Nima in der Schulpause. Er las ihn.