Zwei Gedichte

Hermann Burger

Studierstube
 
Was man denn, frug ich die Großmutter, wenn man studiere, studiere,
   War mir doch längstens klar: Pfarrer, das ist mein Beruf!
Schwarz im Talar auf den Klängen der Orgel durch Kirchen zu schweben,
   Unter dem Ärmel die Schrift, Schreiben-Apostel in Chor,
Stufe um Stufe das gotische Schnitzwerk der Kanzel zu stürmen,
   Atem zu holen fürs Wort: dies war ein lohnendes Ziel.
Heute bin ich ein Pfarrhaus-Verweser und brauche nur Wörter,
   Neble das Südzimmer in, wo einst die Predigt gedieh.
Bücher in Massen statt eines in Flammen geschriebenen Textes,
   Ordner, Skripte und Wust; Duden, die Schreibkonkordanz.
Allerlei Muße: das Malzeug, der Ton überwintern im Ofen,
   Krimskrams im Messingversteck, früher das Steinkissenloch.
Allerlei Musen: die Büste Athenes mit steinblinden Augen,
   Kagrans Prinzessin im Wind, göttlich der Garbo Profil.
Pläne, Modelle und Pausen von niemals verwirklichten Bauten
   Hängen vergilbt an der Wand, zeugen von nützlichem Tun.
Humus von Blättern, Postalien, Journalen, auf Tischen verzettelt,
   Makulatur für den Korb, mittenmang mal ein Gedicht.
Lesen, bei Tag? Eine Sünde. Ich sitze im Sessel am Fenster,
   Lasse der Aare den Lauf, blinzle ins blinkende Band.
Auch ein Rüchlein Tabak: Charutos, Sumatra und Brasil,
   Kistchen, mit Blattgold bronziert, stützen das Œuvre von Kleist,
Rauchringe blasend studier ich, was wohl ein Studierter studiere:
   Zweimal im selben Fluss schwimmt man nicht gegen den Strom.
 
 
 
Krankheit
 
Grünlich wie damals im Siechenhaus, als ich im Kindersaal lechzte,
   Dürstend nach Wasser schrie, tausend Klingen in Bauch,
Mehlgrün das Täfer, der Plafond, die Röhren, das Fenster, die Schranktür,
   Einst hat der Kobold geglotzt, heute gähnt knarrend der Tod:
Knochen-, Geschichtenmann, greinend und grämlich in härener Prosa,
   Höhnt mit pfeifendem Ton: Ars moriendi, mein Sohn!
Was zersetzt wird, sagt Epikur, dem fehlt die Empfindung,
   Fühlloses geht uns nichts an – billiger Trost, wenn man lebt.
Grünes Siechtum im Juli, geschlossen die Läden, die Lider,
   Hitze wütet und Schmerz, Schmerz ohne Herkunft und Ziel.
Jugendfest: Kornblumenkinder, verwehte Klänge von Märschen,
   Drüben, ennet dem Fluss, ferner Rummelplatzlärm.
Draußen wie Dengeln das Klinken des Pickels: ein Grab wird geschachtet,
   Lehmfeuchtes Ungemach, rissiger Erdbebenschlund.
Scheintot gefangen im Vorhof: du willst nicht, du darfst nicht, du kannst nicht,
   Täglich hundertmal nein, Drudenfuß gegen die Gruft.
Maß in Worten zu nehmen am Körper erscheinen Bekannte,
   Schreiben dich munter kaputt, mästen ihr Leben am Tod.
Nachtmahr der Qualen: in Daunen erstickt litt der von China,
   Bat um die süße Musik: Nachtigall, sing mir dein Lied!
Tot lag das Spielzeug, mit Steinen gespickt, in der samtnen Schatulle,
   Blechvogel, abgeschnurrt, Walze um Walze verbraucht.  



Used by kind permission of Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag, München.

Click here for Hermann Burger’s The Emergency Brake, translated from the German by Adrian Nathan West, from the Spring 2023 issue.