Sechs Nachahmungen
Stanislaw Borokowski
Stadtamt für Suizidprävention
nach Lu Yu
An einem späten Aprilnachmittag verlief sich David in die Everglades von Mississippi und wurde abgeerntet von seinen Vorfahren − Wir wussten nie wie er mit Nachnamen hieß
In einer unscheinbaren Dezemberdämmerung flog Jason über die metallenen Glieder seines roten Motorrades in die graffitibesprühten Wände einer Tennessee-Raststätte – Er hat unsere Rufe nicht mehr gehört
Nach einer langen Nacht nördlich von Tallahassee/Florida schaltet DC seinen Bildschirm aus läuft an den Fischbuden vorbei bis zum Hafen lehnt sich gegen die kühlen Betonsäulen und schaut wie die
grünen Berge des Meers sich sorglos in den Abend hinein schmeißen − Wenn sein Telefon klingelt geht er aber dran
Aus einem Flugzeug
nach Juan Comte
So weit das Auge reicht – menschliche Spuren In den Kisten da drüben suchen Männer und Frauen Zuflucht vor der Hitze Kälte Treulosigkeit Auf jenem grünen Fleck hat eine Seite die andere besiegt und die Leichen lagen eingefroren durch den ganzen Winter
Überall Zeichen in die Erde gekratzt das Meer ein lebloser umgekehrter Himmel mit weißen formlosen Wunden: Man muss ewig hinstarren bevor man weiß was man sieht
Wo Rauch hinaufsteigt gibt es Zärtlichkeit oder Vernachlässigung
Sachen die uns nahe liegen sind gekennzeichnet auch – Dort sprachst du mich an Da lernte ich deine Tochter kennen – das Land die Stadt das Viertel das Haus wo es niemals Ruhe gab
Winterstadtplan Montréal
nach José Oliver
Meine dunkle Wohnung über einem Striplokal unter dessen rotgestreiftem Sonnendach der Besitzer sitzt eine abgelaufene Post and Mail durchblätternd Ecke St Denis und Rachel genau an dem Ort (rede ich mir ein) wo Leonard Cohen einmal den Huren den Hof machte Ab und an stürze ich in die Dunkelheit hinein auf der Suche nach einer Kriegsneurose Ab und an halte ich an einem Baumwuchs des Bau- und Gartenamtes ein paar Minuten lang fest Klappbare Fenster in Diensten des kurzen Sommers Stille Fenster die ihre Kennwörter für sich behalten Hier kommt ein namenloser Platz und hier ein verschlossener Busbahnhof All die verschleierten Köpfe und Nacken deren Biographien ich erfinde – die Cafés und dépanneurs sind bloß Bühnenbilder zu ihren undokumentierten Dramen Leuchtreklame in einer verbotenen doch banalen Sprache Manchmal begleite ich einen Bruder-Indianer durch das Hafenviertel nach einem kurzen Gebet in Notre-Dame (mit welchem Widerwillen ich die Eintrittsgebühr an der Tür abgebe) Ich weiß es gibt ein blaues Licht über Chengdu (ich habe es ja gelesen) Aber Jerusalem? Gibt es ein blaues Licht dort? Und wer wird das Licht hierher tragen? Heute war April Der Horizont versank in die Rippen des Schnees
Religionslehre
nach Heather O'Neill
Ich halte eine Grille in der hohlen Faust und schaue sie genau an Eine Grille ist nichts außer eine Sicherheitsnadel die an Gott glaubt Gott hat einen Schnurrbart und steckt seine Hosenaufschläge in die Gummistiefel damit seine Füße nicht nass werden Gott färbt seine grauen Haare damit er nicht zu ehrfürchtig ausschaut Ich weiß es Es gibt einfach so viel kitschiges Zeug auf der Welt und wenn wir alle nach seinem Bilde geschaffen wurden muss er auch ein bisschen doof aussehen Gott hat Hornhaut und gibt immer ausführliche Anweisungen scheint aber so wenig zu verstehen wie wir was genau unser Amt hier ist
Seemänner an Skorbut sterbend
nach Juan Comte
Ein Stück Haut in der Form eines Ahornblatts schälte gestern Nacht von meinem linken Arm ab wobei es nicht so viel blutete Bedeckt wie ich bin mit stinkenden Wunden und einem gelblichen Eiter der an den Betttüchern klebt geht es mir immerhin besser als Taylor auf der anderen Seite der Kajüte dessen Nase vor zwei Tagen abbrach und der jetzt fast gar kein Gesicht mehr hat
Der Arzt sagt wir zahlen jetzt bloß für unsere Laster dass das von den Nächten mit den spindeldürren Mulattinnen in den verpesteten Hafenstädten kommt oder von den lüsternen Stunden miteinander aber ich habe noch nie einen Mann angefasst und die einzige Hure die ich fast kannte brach in Tränen aus beim Anblick meiner schlappen Männlichkeit
Vor Tagesanbruch werden noch drei Leichen über Bord geworfen Ich habe keine Ahnung wer meine Wache hält oder wohin das Schiff gerade steuert – zurück in den holländischen Hafen wo meine Schwester ihren verkrüppelten Bruder holen wird mit einer Mischung aus Abscheu und Gleichmut oder immer weiter in die heillose Nacht wo ein Mann seinen Bruder verkaufen kann ohne Bedenken und wir uns fest an die Eisenbettgestelle klammern durch die ungestüme Dunkelheit segelnd im stillen Gebet dass das Meer uns nicht ein für alle Mal fallen lässt
Tod am Nachmittag
nach Ernest Hemingway
Vom Pausenraum wabert der süßsaure Gestank von (wie es sich ergibt) dem Getränkeabteilungschef der grad völlig leblos auf dem Boden liegt auf die Sanitäter wartend Tom packt die letzten Kisten Spezi aus
während ich bei der Leiche wache
nach Lu Yu
An einem späten Aprilnachmittag verlief sich David in die Everglades von Mississippi und wurde abgeerntet von seinen Vorfahren − Wir wussten nie wie er mit Nachnamen hieß
In einer unscheinbaren Dezemberdämmerung flog Jason über die metallenen Glieder seines roten Motorrades in die graffitibesprühten Wände einer Tennessee-Raststätte – Er hat unsere Rufe nicht mehr gehört
Nach einer langen Nacht nördlich von Tallahassee/Florida schaltet DC seinen Bildschirm aus läuft an den Fischbuden vorbei bis zum Hafen lehnt sich gegen die kühlen Betonsäulen und schaut wie die
grünen Berge des Meers sich sorglos in den Abend hinein schmeißen − Wenn sein Telefon klingelt geht er aber dran
Aus einem Flugzeug
nach Juan Comte
So weit das Auge reicht – menschliche Spuren In den Kisten da drüben suchen Männer und Frauen Zuflucht vor der Hitze Kälte Treulosigkeit Auf jenem grünen Fleck hat eine Seite die andere besiegt und die Leichen lagen eingefroren durch den ganzen Winter
Überall Zeichen in die Erde gekratzt das Meer ein lebloser umgekehrter Himmel mit weißen formlosen Wunden: Man muss ewig hinstarren bevor man weiß was man sieht
Wo Rauch hinaufsteigt gibt es Zärtlichkeit oder Vernachlässigung
Sachen die uns nahe liegen sind gekennzeichnet auch – Dort sprachst du mich an Da lernte ich deine Tochter kennen – das Land die Stadt das Viertel das Haus wo es niemals Ruhe gab
Winterstadtplan Montréal
nach José Oliver
Meine dunkle Wohnung über einem Striplokal unter dessen rotgestreiftem Sonnendach der Besitzer sitzt eine abgelaufene Post and Mail durchblätternd Ecke St Denis und Rachel genau an dem Ort (rede ich mir ein) wo Leonard Cohen einmal den Huren den Hof machte Ab und an stürze ich in die Dunkelheit hinein auf der Suche nach einer Kriegsneurose Ab und an halte ich an einem Baumwuchs des Bau- und Gartenamtes ein paar Minuten lang fest Klappbare Fenster in Diensten des kurzen Sommers Stille Fenster die ihre Kennwörter für sich behalten Hier kommt ein namenloser Platz und hier ein verschlossener Busbahnhof All die verschleierten Köpfe und Nacken deren Biographien ich erfinde – die Cafés und dépanneurs sind bloß Bühnenbilder zu ihren undokumentierten Dramen Leuchtreklame in einer verbotenen doch banalen Sprache Manchmal begleite ich einen Bruder-Indianer durch das Hafenviertel nach einem kurzen Gebet in Notre-Dame (mit welchem Widerwillen ich die Eintrittsgebühr an der Tür abgebe) Ich weiß es gibt ein blaues Licht über Chengdu (ich habe es ja gelesen) Aber Jerusalem? Gibt es ein blaues Licht dort? Und wer wird das Licht hierher tragen? Heute war April Der Horizont versank in die Rippen des Schnees
Religionslehre
nach Heather O'Neill
Ich halte eine Grille in der hohlen Faust und schaue sie genau an Eine Grille ist nichts außer eine Sicherheitsnadel die an Gott glaubt Gott hat einen Schnurrbart und steckt seine Hosenaufschläge in die Gummistiefel damit seine Füße nicht nass werden Gott färbt seine grauen Haare damit er nicht zu ehrfürchtig ausschaut Ich weiß es Es gibt einfach so viel kitschiges Zeug auf der Welt und wenn wir alle nach seinem Bilde geschaffen wurden muss er auch ein bisschen doof aussehen Gott hat Hornhaut und gibt immer ausführliche Anweisungen scheint aber so wenig zu verstehen wie wir was genau unser Amt hier ist
Seemänner an Skorbut sterbend
nach Juan Comte
Ein Stück Haut in der Form eines Ahornblatts schälte gestern Nacht von meinem linken Arm ab wobei es nicht so viel blutete Bedeckt wie ich bin mit stinkenden Wunden und einem gelblichen Eiter der an den Betttüchern klebt geht es mir immerhin besser als Taylor auf der anderen Seite der Kajüte dessen Nase vor zwei Tagen abbrach und der jetzt fast gar kein Gesicht mehr hat
Der Arzt sagt wir zahlen jetzt bloß für unsere Laster dass das von den Nächten mit den spindeldürren Mulattinnen in den verpesteten Hafenstädten kommt oder von den lüsternen Stunden miteinander aber ich habe noch nie einen Mann angefasst und die einzige Hure die ich fast kannte brach in Tränen aus beim Anblick meiner schlappen Männlichkeit
Vor Tagesanbruch werden noch drei Leichen über Bord geworfen Ich habe keine Ahnung wer meine Wache hält oder wohin das Schiff gerade steuert – zurück in den holländischen Hafen wo meine Schwester ihren verkrüppelten Bruder holen wird mit einer Mischung aus Abscheu und Gleichmut oder immer weiter in die heillose Nacht wo ein Mann seinen Bruder verkaufen kann ohne Bedenken und wir uns fest an die Eisenbettgestelle klammern durch die ungestüme Dunkelheit segelnd im stillen Gebet dass das Meer uns nicht ein für alle Mal fallen lässt
Tod am Nachmittag
nach Ernest Hemingway
Vom Pausenraum wabert der süßsaure Gestank von (wie es sich ergibt) dem Getränkeabteilungschef der grad völlig leblos auf dem Boden liegt auf die Sanitäter wartend Tom packt die letzten Kisten Spezi aus
während ich bei der Leiche wache