Auszug aus >Aus dem Staub<

Klaus Merz

Pinakothek

Wolken ziehen dahin
unverrückbar und leicht
Regen fällt, fällt.

Die eine Frau schenkt
Milch aus, die andere
kämmt ihr Haar, seit
dreihundert Jahren:

Nicht das Leben, sagte
Malraux, die Statuen
werden für uns zeugen.





Die Brünner Mädchen

Aus den Alben geschnitten
liegt die Kindheit verstreut
auf dem Stubentisch. Zum
Unvergessenen gesellt sich
das stete Entgleiten.

Aufgehoben in Ivan Blatnys
späten Gedichten fahren wir
mit ihm zum Friedhof hinaus
die Brünner Mädchen winken
wir grüssen zurück:

Der Schwermut sich beugen
und leicht werden dabei.





Wiepersdorf später

1

Das Rad sirrt leise durch die Ebene
gleitet unter den Schattenachsen
des Soldatenkönigs hin. Grosse
Gänge, kleine Kränze. Lerchen
und Falke sind in der Luft, Bogen
und Pfeil. Tagbleich versinkt
hinterm Dorf der Trabant, Leute
stehen vor den vorbeiflitzenden
Häusern. Später am Rand
der Kadaver des Hasen
fliehend noch immer. Wind
und Wolken ziehen darüber weg.
Im Vorgarten langt der Zwerg
nach seiner Schaufel und gräbt
ein Loch in den märkischen Sand:
Für August Ziekert, Förster a.D.
Wolf genannt. Er hat Grossmutter
und Kind aus dem Tierbauch
befreit. Über den Wackersteinen
der Wiepersdorfer Alleen liegt
jetzt Asphalt.

2

Überall stehen die Pilze bereit
Schwämme, sagen die hergereisten
Schweizer und ernten kräftigen
Tadel vom sächsischen Förster.
Es erträgt wenig Abweichungen
im Herbst. – Aber auch damit
hatten wir nicht gerechnet auf
dieses jüngste Jahrtausend hin
dass, Tochter, dein Liebster
zu dir käme aus einem Krieg.
Dazwischen geschenkte
Heiterkeiten und eine Trommel
im Ohr, an die niemand
rührt, gozzeidank.

3

Das zu-, das abnehmende Licht
die wandernden Wolkenschatten
der Schwindel erregende Wind.
Noch einmal spielt mir der Tag
einen Schmetterling zu, den ich
kenne, Libellen jagen übers leere
Atomsprengkopflager im Tann
das Entengeschwader hebt ab:
Pro Lidschlag ein Bild, das unter-
zuckerte Licht treibt mir den Schweiss
aus der Haut. Mit kalten Fingern
notier ich die Zitterpartie.





Himmelfahrt

Wir steigen auf der alten
Prozessionsroute bergan
die Kühe grasen, hornlos
und still. Da hebt die Braune
den Kopf, die Glocken läuten.
Wandlung! Ein Türkenpaar
tritt aus dem Tann: „Hoi!"
grüsst der Mann, seine Frau
senkt den Blick. (Um diese Zeit
ziehen sie in Beromünster
den Heiland in den Dachboden
hinauf.) Es raucht hinterm Wald
in Baseballmütze und Schürze
hütet der Sonntagskoch seine
Würste, niest: „Helf dir Gott!"
ruft sein Gast, ein Motorrad
zersägt den Vogelgesang.
Stau am Gotthard, meldet
das Radio. Auf der Wyna
zieht eine Flaschenpost
bachab Richtung Rhein:
„Zu Pfingsten sollen eure
Köpfe schiffbar sein!"
verspricht uns der Herr.





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