Geheimbrief

Erika Burkart

Abendstube

Abendstube, es dämmert,
unter der Decke das Mobile, golden,
regt sich, dreht sich, hat Flügel,
funkelt und blitzt, fällt ins Dunkel, verhält.
Der Lebensfaden. Hier rollt er sich auf.
Du sinnst, ich sinne, wir spinnen
uns ein in Wortlosigkeit.
Das Mobile blinkt, wir sprechen, wir holen
Bild um Bild in die Winterstube,
jetzt kannst du reden, jetzt bist du Frei
von Mutterquerelen,
jetzt bin ich frei von Vaterangst.
Die Rehe äugen ins Fenster,
schauen, wissen, wie Kinder,
nicht was sie sehn.
Ihre bebenden Körper, die Witterung warnt,
schwinden wie Wind, sie eins mit dem Wald,
der in den Raum wächst, der sich zurückholt
Menschen und Dinge.

Dreiäugig wacht das Haus unterm Schneehelm,
das Mobile schwebt in den Zweigen,
Zaubervogel und Irrstern,
hinterrücks unsrer Spiegelgesichter, —
an einem von Fernschein
verwobenen Fenster
tasten die Schatten der Vornacht.





Beruf

Die weiße Nacht schaut
durch alle Fenster herein
mit Schneebaum,
schwelendem Aschenhimmel.
Mich schmerzt, zwischen Schweigen und Rede
Membran zu sein,
wortlos zu lauschen
in den entstirnten Raum.





Bergnacht

Schlafwachen Augs schauen Lampen
von hohen Pfählen
auf die verlassene weiße Straße,
eisig lautlos der Atem der Berge
und alle Stollen verschüttet.

In steilen Wäldern gehen um,
die im Mond die Liebenden sahn,
Prägung einer entwerteten Münze,
außer Kurs ihr einsamer Glanz,
über den Grat Orion.

Seit ich weiß vom Raum,
— Stoff, Energie, Zahl und Zeit —,
seinen kalten kreisenden Körpern,
tödlichen Sonnen, entwesten Leeren,
vom Blinden Fleck, Schwarzen Löchern,

seit ich weiß, das ich nichts weiß,
habe ich Angst vor den Sternen,
ihren augenfälligen, nimmer
auf uns bezogenen
Konstellationen.

— Am Ende des Dorfes
ein Fentsterlicht.





Wolkiger Tag

Fahrendes und Fragiles,
Fäuste und Kronen,
über verseuchten,
als Werkparadiese getarnten Zonen,
Elemente geflößt
durch Evolutionen,
Gestalten erprobend;
so sinnig wie sinnlos
Mondkalb, Titanin,
Perückenmann?

Allem und allen verwandt
das Gewölk, das vagiert,
stagniert und schwillt,
zerfällt und zerfasert.  — Es stillt
die legendäre, die leere Bläue, reist,
hinterwölbt von Schwärze,
Fahrendes und Fragiles.

Sichtbar west, wenn sie fort ist,
Antimaterie Seele.
Es ist der Tag, da sie uns,
redet ein, Scheinbild ein,
noch einmal,
Fahrendes und Fragiles,
umkreist.





Welt-Geschichte

In der Zeit zerfällt
Geschichte in Geschichten,
deren jede so fürchterlich endet,
daß der Leser, falls er
nicht Statistiker ist,
die Seite umschlägt,
innehält, lange,
bevor er das Buch säkularer
Missverständnisse schließt.

Der Ellbogen auf den Deckel gestützt,
starrt er in die Zukunft,
eine Sphinx auf den Gräbern,
über den Gruben
einer die Gegenwart unterwandernden
wie immer dunkeln
Vergangenheit.





Alter Mensch im Elternhaus

Vertraut über Distanz
sind mir die Stimmen der Türen,
ihrer Klinken und Schlösser,
Knacken, Knarren und Knirschen,
>der Wehschrei bei Wettersturz,
wie Menschenklage —, wie Tierleid
das Ächzen und Wimmern des Holzes
muß es sich fügen
in den verquollenen Rahmen.
Magisch die Zahl der Treppen,
derer man sich versichert
auf Feldgängen, Reisen,
in fremden Häusern und Städten,
um Boden unter die Füße zu kriegen,
errinernd das Lichtmal
auf der 3. Stufe der 3. Treppe
vormittags Anfang März,
und wie Mitte Juni
das Stiegenhaus sich verdüsterte,
als das Flaumgrün der Bäume erlosch
die >Grüne Hölle< uns einwuchs
mit Schatten bis unter die Haut.
Wer das Sommer-Frösteln nicht kennt,
weiß nicht, was Frieren heißt.

Weißgottwo orientierst du dich
nach der Topographie des Hauses,
wo du die ersten Schritte setztest,
in jedem Fenster ein Bild sahest,
Winter—, Frühlings— und Sommerlandschaft –
im Oktober feurige Bäume vor Fernblau,
das an die Ewigkeit grenzt.

All das kennt man und irrt mit 80
gestützt auf das Treppengeländer
im Labyrinth der eigenen Herrkunft,
eine die kam und ging, die lebte
für Kunst und Liebe—
die ging und nicht
wiederkam.



Erika Burkart: "Geheimbrief "
© Ammann Verlag & Co., Zürich 2009
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