Dressels Garten
Jürgen Becker
Du kannst sicher sein: eine Ansichtskarte genügt nicht,
den Hintergrund des Bildes zu entwirren, für einen Besucher
vielleicht, der außerhalb des Treppenhauses
nach ein paar Motiven schaut. Noch ist es ja auch
kein abgeschlossener Vorgang (und niemand, der das Grün
von unreifen Äpfeln belichtete, arbeitet in der Nähe),
sondern ein kurzes Wegstück zurück, unterwegs
im Erfurter Süden. Nur, wie geht es weiter? Offen
steht eine Haustür, und Sonnenlicht liegt
auf den Kacheln, den Stufen hinauf ins Verdunkelte
des Flurs. Der Besucher bewegt sich, der Blickwinkel
nicht; er liegt fest seit
einem halben Jahrhundert (seit einer Stunde
regnet es nicht, und als ich hinausging, nach dir
zu schauen, zogst du im Garten die Wasserfäden
auseinander, unwillig, weil ich Unzusammenhängendes
fragte und plötzlich so schrie, daß ich selber
erschrak und mich einzog wie eine vom Turnschuh
berührte Schnecke; dann mußte ich wieder ans Telefon
zurück). Verändert hat sich sonst alles, vielleicht
nicht die Fensterbank, auf der ein Hund sitzt . . . aber
der Hund liegt, in dieser endlosen Reihe
verlorener Lebewesen, längst im Karton da unten
unter Dressels Zaun mit seinen lose hängenden Latten . . . :
erst ein Konzept, dann eine Installation
für den einen, den nächsten, den letzten Fluchtversuch. Aber
wohin dann? Der Gast in der Ecke des Restaurants
schaut hinaus auf die Straße. Der Oktober hat
warm angefangen, und im Sonnenlicht taucht auf
die Linie 3. Die Nähte im Fahnentuch sind noch
zu erkennen, aber was macht es, die Frauen alle
in neuen Kleidern. Mager stehn auf dem Schulhof
ein paar Flakhelferreste und fragen, wo
die Vokabelhefte sind. Immer noch in der Turnhalle
Stroh, und es riecht nach Parfum,
wo die geschminkten Mädchen aus dem Rheinland lagen. Fahrräder
westwärts; es sind ein paar Feldwege
zwischen den Grenzdörfern offen; erst später kommen sie
auf diesen Straßenkarten nicht mehr vor, und
so ging weiter die Fälschung des Landes. Aber da
kommt die Reihe der Zwetschgenbäume zum Vorschein,
die Böschung unter den Gärten, und ein Junge zieht
einen Leiterwagen voll Holz (nie hörst du auf
zu erklären, warum du den Lattenrest, das Stück Rahmen,
den abgebrochenen Ast nicht mit in den Container
wirfst . . . ja gut, ich sage schon nichts mehr). Die Zwetschgen
klein und sauer, und Fenster werden zugemacht, wenn
der Besucher stehen geblieben ist und herumschaut. Leer,
fast leer sind die Straßen, in denen der Wind hängen
läßt die Gerüche zwischen den Fassaden. Abgeschwächter
Elan; jeder kann was erzählen, aber jeder
zuckt auch die Achseln, wenn nochmals nachgefragt
wird. Jedenfalls alle die Namen parat, auch wenn
die Namensschilder abmontiert sind? Nachts, nicht
verzeichnet im Fahrplan, standen am Ende
des Bahnsteigs verdunkelte Züge, und wenn die Dämmerung
kam, rollten sie langsam nach Osten, nach Norden;
dann blinkten auch die Taschenlampen ab. Zwischendurch
Winter; auf Schlittschuhen zur Schule, nach Langemarck,
ins Skagerrak, durch Sternennächte zum Morgenrot; Getrommel
von der Ostsee, das Echo aus den Alpen. Große, dann
kleiner werdende Geographie, die den Laden
an der Ecke, Gartenlauben, die Eremitage für ein paar Monate
in Ruhe ließ. Der Gast, er wollte längst zahlen, aber
der Kellner, zuständig nur bis zum Nebentisch. Bis wohin
fährt jetzt die Linie 3? Vom hellen Strand der Saale
kamen die ersten Ansichtskarten; die Stellung
um Leuna herum. Xenophon in grün gestrichenen Baracken,
halt ja den Laden zusammen daheim: »Senftleben
im Tor, halbrechts Winne Herz«; ansonsten leeres Theater
die Mitteldeutsche Kampfbahn, in der Gespenster
die Runden zogen und Ilse Werner Foxtrotts pfiff
im Lautsprecher über der Eisbahn. Eckbälle gingen
hinter den Disteln ins Nichts; von irgendwoher tauchten
Frauen mit Kopftüchern auf, wenn hinter
einer der Kurven der Kartoffelsack vom Anhänger
fiel und der Streifendienst eine Schubkarre
anhielt (aber es fehlt noch die Zeit, die Einzelheiten
herauszulösen und Zusammenhänge zu finden, in denen
jeder Einzelne wieder eine Stimme hat. Die Gespräche
fangen erst an, wenn wir uns einig sind
über diese und jene Bedeutung). Der Gast hat
endlich hinausgefunden auf eine Straße, die
so oft den Namen gewechselt hat wie jedes System
seine Zigarettenmarken und Medaillen. Im Dunkeln
der Bahnhof . . . was heißt hier Verdunkelung? Wir
gingen hier früher ins Bett, und wir froren auch
nicht mehr zwischen den warmen Ziegeln
des Friedens; damals der Winter war nur der Anfang
der kommenden, angstvollen Pelzmützenzeit. Falsch oder
richtig erzählt . . . es kommt eben keiner so fließend
zurande, auch wenn man sein eignes Kapitel mitschrieb
in der Geschichte des Irrtums, der wiederum unkenntlich
blieb zwischen all diesen Fahnen, Parolen, unterm
Rauch der Rhetorik, der irgendwann fortschwebte
westwärts, wo gemeint ward, es glänze erst hier
und erst jetzt der Hoffnungs himmel auf. Wie
war das Wetter am Nachmittag der Verhaftung, als
die Rote Armee auf einem beschlagnahmten Fahrrad
den Bollerwagen umkreiste? Zurück kamen
ein paar Emigranten, deren Namen keiner mehr
kannte, und wer nicht mitmachen wollte, verschwand
einfach; es war ein Herbst, in dem wir abends
heimgingen mit Körben voller Tomaten. Da siehst du
es wieder, ein Mischmasch der Motive, die im Keller
nicht zu entziffern sind, wenn die Taschenlampe
über die Etiketten der Einmachgläser streift. Einiges
eben zu spät (eben zu jung, diese Großväter
in der Toscana, die irgendwann zurückgekehrt sind
mit kurzgeschnittenem Haar; es paßten auch
nicht mehr Pullover und Jeans), wenn nämlich
notfalls im Recht die Wirklichkeit bleibt, aber
darauf mußte erst einer kommen . . . Zu dunkel
der Korridor, in dem der Besucher steht, der immer nur
träumte, in den Jahrzehnten vor diesem Oktober, er sei
wieder da im Treppenhaus seiner Kindheit. Vielleicht
auch, daß er Genaues nicht sehen will, die Buchstaben
von Namen, die fremd sind, die morschen Bretter
am Ende des Hofs; vielleicht liegen noch hinterm Zaun
ein paar von den alten Gewehren in Dressels Garten. Zuletzt
saß auf der Treppe ein Posten und rauchte, oder
war es der unrasierte Flüchtling, Rose und
Ruth, das erschossene Mädchen . . . es ging
viel zu schnell, dann zu langsam, und als der Geruch
des leichten Benzins verweht war, folgte bald nach
der Geruch von Steppe und Stroh. Kein Wort verlangt
ein Möbelstück, einen Koffer zurück; zu viele Listen sind
unterwegs, auf denen das eine Recht angeht gegen
das andre. Zuletzt, wenn mit Jahreszeiten gerechnet wird,
bleiben einige Herbsttage offen: verlängerte Schatten
zwischen rissigen alten Apfelbäumen; eine Straßenbahn
wirbelt das Laub auf, und das Geröll der Kastanien
bedeckt den Eingang des Stadions. Das bleibt, wie es gewesen
sein könnte, und du kannst sicher sein, daß die Hagebutten
im Hohlweg du wirklich berührt hast, kurz
vor der Dämmerung, als sie anfingen alle zu leuchten.
den Hintergrund des Bildes zu entwirren, für einen Besucher
vielleicht, der außerhalb des Treppenhauses
nach ein paar Motiven schaut. Noch ist es ja auch
kein abgeschlossener Vorgang (und niemand, der das Grün
von unreifen Äpfeln belichtete, arbeitet in der Nähe),
sondern ein kurzes Wegstück zurück, unterwegs
im Erfurter Süden. Nur, wie geht es weiter? Offen
steht eine Haustür, und Sonnenlicht liegt
auf den Kacheln, den Stufen hinauf ins Verdunkelte
des Flurs. Der Besucher bewegt sich, der Blickwinkel
nicht; er liegt fest seit
einem halben Jahrhundert (seit einer Stunde
regnet es nicht, und als ich hinausging, nach dir
zu schauen, zogst du im Garten die Wasserfäden
auseinander, unwillig, weil ich Unzusammenhängendes
fragte und plötzlich so schrie, daß ich selber
erschrak und mich einzog wie eine vom Turnschuh
berührte Schnecke; dann mußte ich wieder ans Telefon
zurück). Verändert hat sich sonst alles, vielleicht
nicht die Fensterbank, auf der ein Hund sitzt . . . aber
der Hund liegt, in dieser endlosen Reihe
verlorener Lebewesen, längst im Karton da unten
unter Dressels Zaun mit seinen lose hängenden Latten . . . :
erst ein Konzept, dann eine Installation
für den einen, den nächsten, den letzten Fluchtversuch. Aber
wohin dann? Der Gast in der Ecke des Restaurants
schaut hinaus auf die Straße. Der Oktober hat
warm angefangen, und im Sonnenlicht taucht auf
die Linie 3. Die Nähte im Fahnentuch sind noch
zu erkennen, aber was macht es, die Frauen alle
in neuen Kleidern. Mager stehn auf dem Schulhof
ein paar Flakhelferreste und fragen, wo
die Vokabelhefte sind. Immer noch in der Turnhalle
Stroh, und es riecht nach Parfum,
wo die geschminkten Mädchen aus dem Rheinland lagen. Fahrräder
westwärts; es sind ein paar Feldwege
zwischen den Grenzdörfern offen; erst später kommen sie
auf diesen Straßenkarten nicht mehr vor, und
so ging weiter die Fälschung des Landes. Aber da
kommt die Reihe der Zwetschgenbäume zum Vorschein,
die Böschung unter den Gärten, und ein Junge zieht
einen Leiterwagen voll Holz (nie hörst du auf
zu erklären, warum du den Lattenrest, das Stück Rahmen,
den abgebrochenen Ast nicht mit in den Container
wirfst . . . ja gut, ich sage schon nichts mehr). Die Zwetschgen
klein und sauer, und Fenster werden zugemacht, wenn
der Besucher stehen geblieben ist und herumschaut. Leer,
fast leer sind die Straßen, in denen der Wind hängen
läßt die Gerüche zwischen den Fassaden. Abgeschwächter
Elan; jeder kann was erzählen, aber jeder
zuckt auch die Achseln, wenn nochmals nachgefragt
wird. Jedenfalls alle die Namen parat, auch wenn
die Namensschilder abmontiert sind? Nachts, nicht
verzeichnet im Fahrplan, standen am Ende
des Bahnsteigs verdunkelte Züge, und wenn die Dämmerung
kam, rollten sie langsam nach Osten, nach Norden;
dann blinkten auch die Taschenlampen ab. Zwischendurch
Winter; auf Schlittschuhen zur Schule, nach Langemarck,
ins Skagerrak, durch Sternennächte zum Morgenrot; Getrommel
von der Ostsee, das Echo aus den Alpen. Große, dann
kleiner werdende Geographie, die den Laden
an der Ecke, Gartenlauben, die Eremitage für ein paar Monate
in Ruhe ließ. Der Gast, er wollte längst zahlen, aber
der Kellner, zuständig nur bis zum Nebentisch. Bis wohin
fährt jetzt die Linie 3? Vom hellen Strand der Saale
kamen die ersten Ansichtskarten; die Stellung
um Leuna herum. Xenophon in grün gestrichenen Baracken,
halt ja den Laden zusammen daheim: »Senftleben
im Tor, halbrechts Winne Herz«; ansonsten leeres Theater
die Mitteldeutsche Kampfbahn, in der Gespenster
die Runden zogen und Ilse Werner Foxtrotts pfiff
im Lautsprecher über der Eisbahn. Eckbälle gingen
hinter den Disteln ins Nichts; von irgendwoher tauchten
Frauen mit Kopftüchern auf, wenn hinter
einer der Kurven der Kartoffelsack vom Anhänger
fiel und der Streifendienst eine Schubkarre
anhielt (aber es fehlt noch die Zeit, die Einzelheiten
herauszulösen und Zusammenhänge zu finden, in denen
jeder Einzelne wieder eine Stimme hat. Die Gespräche
fangen erst an, wenn wir uns einig sind
über diese und jene Bedeutung). Der Gast hat
endlich hinausgefunden auf eine Straße, die
so oft den Namen gewechselt hat wie jedes System
seine Zigarettenmarken und Medaillen. Im Dunkeln
der Bahnhof . . . was heißt hier Verdunkelung? Wir
gingen hier früher ins Bett, und wir froren auch
nicht mehr zwischen den warmen Ziegeln
des Friedens; damals der Winter war nur der Anfang
der kommenden, angstvollen Pelzmützenzeit. Falsch oder
richtig erzählt . . . es kommt eben keiner so fließend
zurande, auch wenn man sein eignes Kapitel mitschrieb
in der Geschichte des Irrtums, der wiederum unkenntlich
blieb zwischen all diesen Fahnen, Parolen, unterm
Rauch der Rhetorik, der irgendwann fortschwebte
westwärts, wo gemeint ward, es glänze erst hier
und erst jetzt der Hoffnungs himmel auf. Wie
war das Wetter am Nachmittag der Verhaftung, als
die Rote Armee auf einem beschlagnahmten Fahrrad
den Bollerwagen umkreiste? Zurück kamen
ein paar Emigranten, deren Namen keiner mehr
kannte, und wer nicht mitmachen wollte, verschwand
einfach; es war ein Herbst, in dem wir abends
heimgingen mit Körben voller Tomaten. Da siehst du
es wieder, ein Mischmasch der Motive, die im Keller
nicht zu entziffern sind, wenn die Taschenlampe
über die Etiketten der Einmachgläser streift. Einiges
eben zu spät (eben zu jung, diese Großväter
in der Toscana, die irgendwann zurückgekehrt sind
mit kurzgeschnittenem Haar; es paßten auch
nicht mehr Pullover und Jeans), wenn nämlich
notfalls im Recht die Wirklichkeit bleibt, aber
darauf mußte erst einer kommen . . . Zu dunkel
der Korridor, in dem der Besucher steht, der immer nur
träumte, in den Jahrzehnten vor diesem Oktober, er sei
wieder da im Treppenhaus seiner Kindheit. Vielleicht
auch, daß er Genaues nicht sehen will, die Buchstaben
von Namen, die fremd sind, die morschen Bretter
am Ende des Hofs; vielleicht liegen noch hinterm Zaun
ein paar von den alten Gewehren in Dressels Garten. Zuletzt
saß auf der Treppe ein Posten und rauchte, oder
war es der unrasierte Flüchtling, Rose und
Ruth, das erschossene Mädchen . . . es ging
viel zu schnell, dann zu langsam, und als der Geruch
des leichten Benzins verweht war, folgte bald nach
der Geruch von Steppe und Stroh. Kein Wort verlangt
ein Möbelstück, einen Koffer zurück; zu viele Listen sind
unterwegs, auf denen das eine Recht angeht gegen
das andre. Zuletzt, wenn mit Jahreszeiten gerechnet wird,
bleiben einige Herbsttage offen: verlängerte Schatten
zwischen rissigen alten Apfelbäumen; eine Straßenbahn
wirbelt das Laub auf, und das Geröll der Kastanien
bedeckt den Eingang des Stadions. Das bleibt, wie es gewesen
sein könnte, und du kannst sicher sein, daß die Hagebutten
im Hohlweg du wirklich berührt hast, kurz
vor der Dämmerung, als sie anfingen alle zu leuchten.