Als 15-jähriger, kaum mit dem Schulbus zurück in unsere Hütte gekommen, warf ich mich in den Ohrensessel, der zusammen mit einem kompletten Biedermeier-Wohnzimmer 10 Jahre zuvor, 1945, vor den Bomben gerettet worden war. Dieses anachronistische Möbelstück wurde mein Fluchtvehikel. Die Jahre flogen dahin, und ich war bald bei Balzac und Dostojewski angekommen.
Mir ging es nicht um Abenteuer; Bücher interessierten mich, je mehr ich mich in ihnen wiederfand. Ich brauchte Autoren, die mich bestärkten in dem, was ich nur ahnte, noch nicht selbst zu denken wagte. Ich suchte Andere, die mein Lebensgefühl teilten, um mich aus der Einsamkeit zu befreien.
Selbst Erlebtes erschien mir nicht immer wichtig, Leseerlebnisse dagegen waren regelrechte Offenbarungen: erst wenn ich meine Gefühle in der Literatur wieder fand, begann ich sie ernst zu nehmen. Die Helden der Bücher waren mir wichtiger als Familie und Freunde, vielleicht spürte ich auch unbewusst, dass sie zu lieben ohne Gefahr war, ohne die Gefahr eines Verlustes, wie es der Tod meiner Mutter gewesen war. Auch erlebte ich oft beim Lesen um Jahre im Voraus etwas, was mir erst Jahre später selbst zustieß. Es hat mich immer interessiert, zu erfahren: wie machen es die anderen? Bald entwickelte ich ein Gespür für den magischen Moment, wo ein Buch sein Geheimnis preisgibt, wo bestimmte Sätze plötzlich so vibrieren, dass man spürt, wegen diesem Satz, wegen dieser Situation hat der Autor das ganze Buch geschrieben . . .
Das Amerikahaus bot Hemingway und den schwer lesbaren Faulkner, die neuesten Zeitschriften und vor allem Jazz - auf Platten und live. In Einem Anderen Land und Wem Die Stunde Schlägt waren meine Lieblingsromane, zeigten sie doch, dass man Soldat auch anders sein konnte, als wir es von unseren Landsern kannten. Wenn man auf der richtigen Seite kämpft, muss man eben nicht zynisch oder heldenhaft-todessüchtig sein. Die nüchterne Art, mit der Gary Cooper das im Film darstellte, übertraf noch die Prosa Hemingways, vor allem, wenn Ingrid Bergman in seinen Schlafsack kletterte.
Und damit war ich - schon damals über die Literatur - beim Kino angelangt. Seither steht meine Arbeit unter dem Zeichen der Literatur. Auch heute noch bin ich ein großer Leser. Und natürlich habe ich Geschichten und eigene Erlebnisse zu erzählen, aber das sind oft Leseerlebnisse. Ich gebe zu, bis zu einem gewissen Punkt hat mich bedrucktes Papier mehr erschüttert als das, was mir im Leben zugestoßen ist.
Ich habe oft mit den Schriftstellern, mit denen ich zu tun hatte, diskutiert und ihnen zu verstehen gegeben, dass meine eigentliche Liebe und Hochachtung der Literatur gilt. Und wenn man Film und Literatur vergleicht, wird Film immer den Kürzeren ziehen.
Max Frisch hat dem heftig widersprochen und gesagt: Ja, aber du verfügst ja beim Film über ganz andere Mittel als wir! Nimm mal eine Großaufnahme von Julie Delpy im Homo Faber und überleg dir: Wie viele Seiten müsste ich schreiben, um nur das mitzuteilen, was diese eine Großaufnahme ausdrückt!
Ich bleibe trotzdem dabei: Das Lesen erscheint mir immer noch die noblere und die aktivere Art Erlebnisse zu erzählen, als einen Film anzuschauen. Es lädt auch mehr zum Träumen ein. Wenn ich auf eine einsame Insel ginge, würde ich eben keine Video-Kassetten mitnehmen, sondern ein paar Bücher! Und insofern ist das wunderbar: Film ist mein Beruf, Literatur ist meine Liebe, und ich kann beides miteinander verbinden, um Geschichten zu erzählen.
Was der Unterschied ist: Ich erzähle eine Geschichte, die ein anderer schon mal besser erzählt hat. Ich erzähle sie noch mal nach. Ich lese viel hinein, ich lese auch etwas heraus. Und jeder Zuschauer sieht den Film anders, und letztendlich entsteht der Film auch im Kopf des Zuschauers, wie Alexander Kluge sagt. Also auch das Zuschauen oder das nachträgliche Verarbeiten ist im Grunde eine aktive Handlung.
Alle Vergleiche zwischen Buch und Film sind übrigens eigentlich unmöglich. Ich kann zwar den Othello von Shakespeare mit seinem King Lear vergleichen oder auch mit Dramen von Schiller und Goethe. Was aber nicht geht, ist der Vergleich mit dem Othello von Verdi! Der wiederum kann mit seiner La Traviata verglichen werden. Was ich damit sagen will: Zwei völlig verschiedene Gattungen, nämlich Drama und Oper oder Literatur und Film, lassen sich prinzipiell nicht miteinander vergleichen.
Das muss man sich als Filmemacher immer wieder klarmachen. Denn schließlich vergleicht der Zuschauer nicht unbedingt meinen Film mit dem Buch, das er einmal gelesen hat, sondern er vergleicht ihn vielleicht eher mit dem Film, den er letzte Woche gesehen hat oder den er demnächst sehen wird. Auf diese Weise habe ich mich jedenfalls vom Minderwertigkeitskomplex gegenüber der Literatur befreit.
Die Grundfrage, die sich mir stattdessen immer wieder stellt, ist, welche Bücher verfilme ich? Und häufig passiert es mir, dass jemand zu mir kommt und sagt: Ich habe da ein Buch gelesen, das Sie unbedingt verfilmen müssen! Wenn man das liest, sieht man den Film schon geradezu vor sich!
Meine Antwort darauf ist: Genau das Gegenteil ist wahr. Die Bücher, die sich wie ein Drehbuch lesen, lassen sich selten verfilmen. Man kann sie zwar illustrieren, aber das erscheint mir schlicht überflüssig. Denn diese Illustration enthält ja bereits das Buch.
Wirklich spannend ist es dagegen, die Bücher zu verfilmen, die als unverfilmbar gelten. Das ist auch der einzige Grund, warum ich eben nicht gängige Unterhaltungsliteratur, die man nur bebildern müsste, verfilmt habe. Das ist zwar ein Genre, das ich keineswegs missachte. Aber ich sage dazu nur, dass es sich nicht für mich eignet. Dafür bin ich einfach zu faul. Nur wenn ich etwas ganz Schwieriges habe, wie den Himalaya zu besteigen, werde ich wach und reibe mich daran. Dann sage ich mir: Das wollen wir doch mal sehen, ob das wirklich unverfilmbar ist!
Manchmal stellt sich allerdings heraus, dass es wirklich unverfilmbar ist, siehe Proust. Und manchmal passiert ein Wunder, siehe Blechtrommel. Sechs Monate lang habe ich dem Produzenten erklärt, dass und warum der der Roman von Günter Grass unverfilmbar ist. Er ließ aber nicht locker und wollte unbedingt, dass ich das mache! Aus reinem Widerspruchsgeist habe ich mich dann darauf eingelassen.
Mein Freund Billy Wilder, mit dem ich viel über solche Fragen diskutiert habe, hat immer gesagt: Ich verstehe nicht, warum du immer Romane statt Theaterstücke verfilmst! Denn ein Theaterstück fängt an, wenn der Vorhang aufgeht, es gibt eine kurze Exposition, ein Konflikt baut sich auf, hat einen Höhepunkt, einen Cliffhanger, beim Vorhang nach dem zweiten Akt, damit der dritte Akt mit neuer Schubkraft noch bis zum Ende geht. Dann fällt der Vorhang, der Abend ist um und das Ganze hat maximal zwei Stunden gedauert. Alle meine Filme, sagt er, haben praktisch Theaterstücke als Grundlage gehabt.
Und warum ich aber lieber Literatur und Romane verfilme als Theaterstücke, rechtfertige ich mit Stendhal, der den schönen Satz geprägt hat: Der Roman ist ein Spiegel, der über eine Landstraße geht, Un miroir qui se promène au bord d’une route.
Wenn ich ins Kino gehe, egal wie gut oder schlecht der Film ist, mache ich immer irgendwie eine Reise. Ich gehe mit Leuten irgendwo hin; ich komme an Orte, wo ich nie gewesen bin; und ich erlebe Geschichten, die ich nie erleben werde. Und insofern ist dann eben doch, finde ich, die Verbindung von Roman zu Film stärker als von Theater zu Film.
Wenn man einmal einen Roman aufgespürt hat, den man verfilmen möchte, beginnt eine Phase lustvoller Arbeit. Am Anfang versuche ich etwas ganz Spezielles herauszufinden. Ich betrachte nämlich jeden Film als ein kleines Uhrwerk, in dem sich etwas dreht, in dem die Zahnräder ineinander greifen. Die Frage ist: Wo kommt die Energie her?
Und ein Film, der ankommt an und das Publikum fesselt von Anfang an, das ist eben auch ein Uhrwerk, in dem alle Räder so ineinander greifen, dass der Motor rund läuft und die Energie sich überträgt.
Das gilt für alle Filme, jedoch bei einer Literaturadaptation gibt es ja schon den Roman. Und dieser Roman hat etwas, aus dem geht eine eigenartige Energie hervor. Sie bewegt Sie und mich dazu umzublättern, schließlich wollen wir wissen, wie es weiter geht. Ich meine nicht im Sinne von Agatha Christie: Wer war der Mörder?, sondern wie kommt es, dass man bei so einem dicken Wälzer wie Die Blechtrommel oder Krieg und Frieden die Seiten umblättert? Da ist etwas ganz Besonderes, sogar bei Der Mann ohne Eigenschaften und natürlich bei der Suche nach der Verlorenen Zeit. Es muss da eine geheime Energie sein, die dazu führt, dass man umblättert.
Und um einen guten Film zu machen, muss man genau diese Energie finden und dann auch nutzen, damit sich im Film die Räder bewegen. Manchmal meint man, die Energie gefunden zu haben; und dann stellt sich hinterher aber doch raus, dass man sich geirrt hat. Oder man merkt erst, nachdem die Arbeit schon abgeschlossen ist, was die wirkliche Energie hinter der Geschichte ist.
Auf jeden Fall ist es gut, danach zu suchen.
Am besten gelingt dies zusammen mit dem Romanautor. Das ist das große Privileg, wenn man Filme nach Literatur macht, dass man die Schriftsteller aufsuchen und mit ihnen reden kann. Vorausgesetzt, sie sind noch am Leben. Mit lebenden Autoren habe ich übrigens bessere Erfahrungen gemacht als mit den Toten. Das heißt, an Kleist bin ich genauso gescheitert wie an Proust. Nun gut, an Musil nicht, vielleicht haben wir da eine telepathische Beziehung aufgebaut.
Aber mit so verschiedene Autoren wie Böll, Grass, Frisch, Miller, Atwood (peinlich, wen ich so alles „verfilmt“ habe) habe ich über diese Frage gesprochen. Was kann man aus dem Gespräch mit dem Autor lernen? Vielleicht nichts, denn er hat ja alles in sein Buch geschrieben. Und was er dazu erzählt, muss einen eher misstrauisch stimmen. Eine der ersten Fragen ist natürlich: Wie sind Sie dazu gekommen, dieses Buch zu schreiben? Also genau die Frage, die der erstbeste Journalist stellen würde.
Und der Autor gibt dann auch immer sehr gute Gründe an.
Das sind die, die eben in jedem Interview zu lesen sind, aber es sind nicht die eigentlichen. Im Laufe der monatelangen Gespräche mit Max Frisch zum Beispiel, kam er immer mehr an das innere Erlebnis heran, das ihn im Grunde zu dem Buch getrieben hat. Es war der Satz: Wir können uns nicht nochmal mit unseren Kindern verheiraten. Das ist eine Erfahrung, die er gemacht hat, als er sich sozusagen in eine junge Frau verliebt hat, die seine Tochter hätte sein können; nicht nur altersmäßig, sondern weil ihre Mutter einmal seine Verlobte war. Die Energie, die seine Feder geführt hat und die wir bei Lesen so stark spüren, dass wir die Seiten umblättern, dieses ursprüngliche Kraftzentrum aufzufinden, misst eine enorme Hilfe für das Schreiben des Drehbuches und die ganze Arbeit am Film.
Deshalb glaube ich, dass mich die Arbeitsgespräche mit den Autoren zumindest vor groben Fehlinterpretationen ihrer Werke bewahrt haben. Diesen inneren Grund, dieses Trauma, hat es zum Beispiel bei Musil ganz deutlich gegeben, bevor er Die Verwirrungen des Jungen Törless schrieb. Es gab sie bei Yourcenar wie bei Böll. Bei Grass war es, wie wir jetzt wissen, die lange verschwiegene Tatsache, dass er freiwillig bei der Waffen SS gedient hat, bei Arthur Miller die Geschichte seiner Nachbarn und Familie, und so fort. Viele Schriftsteller wurden nur dazu, weil sie sich mit Erlebtem auseinandersetzen mussten und Henry James sagte, es gibt keinen guten Roman ohne life lived. Das Erstaunliche bei den vielen Verfilmungen, die ich gemacht habe, ist also, dass besonders die gelungen sind, die auf Büchern beruhen, in denen viel Selbsterlebtes und oft traumatisch Erlebtes enthalten war.
Eine weitere Bestätigung für diese These ist oft die Dreharbeit selbst. Wenn man anfängt mit Schauspielern an einer Szene zu arbeiten, sie zu proben, passiert oft etwas Merkwürdiges. Auf einmal ist da mehr, als nur der Austausch festgelegter Dialoge. Eine Spannung ist urplötzlich spürbar, etwas im Raum überträgt sich auf alle, ein geradezu magischer Moment. Die Szene kommt Schlüsselerlebnis des Autors ganz nahe, oft ist sie es, die ihn einst dazu brachte, das Buch überhaupt zu schreiben. Und wenn man dem nachspüren kann und auch das Glück hat, die richtigen Schauspieler zu haben, die in der richtigen Atmosphäre diese Energie wieder nacherleben, dann überträgt sie sich auch auf den Zuschauer. Ganz egal, ob das eine riesige epische Freske ist wie Blechtrommel oder eine ganz intime Geschichte
wie Homo Faber.
Das Verfilmen eines Buches ist also eigentlich eine (Psycho)Analyse des Buches. Es ist auch ein Härtetest: Sind das alles nur Worthülsen, oder ist da wirklich etwas dran?