NEBEL rückwärts

Noemi Schneider

Artwork by Samuel Hickson

Juli. Weil, da kann man noch sagen, letztes Jahr. Letztes Jahr, kann man da jetzt noch sagen. In einem Jahr da sagt man dann vor zwei Jahren und in zwei Jahren vor drei Jahren und in drei Jahren vor vier Jahren und in vier Jahren vor fünf Jahren und in fünf Jahren vor sechs Jahren und in sechs Jahren vor sieben Jahren und in sieben Jahren vor acht Jahren und so weiter. Das sagt man nicht. Das denkt man vielleicht, aber man sagt es nicht. Man sagt, letztes Jahr.

Juni. Da sind so Sätze und der Klang seiner Stimme, die möchte ich mir am liebsten einfrieren um sie ab und zu aufzutauen, sage ich. Ich weiß, sagt sie, ich auch.

Mai. Da spür ich jetzt so eine Stelle, sage ich zu ihr, so eine Stelle, wo vorher was war. So eine Stelle, wie ein Zimmer, wo die Tapete schon runter ist. Da steht vielleicht noch ein Besen rum oder ein Eimer Farbe, vielleicht hängt da noch eine Vorhangstange über dem Fenster, die nicht abmontiert wurde, aber mehr nicht. Jetzt ist das so eine Stelle geworden, sage ich, so ein fast leeres Zimmer, das ich kaputt schlagen will. Da hab ich gelesen, sage ich, dass es so was jetzt gibt, Stellen im Gehirn löschen, fast leere Zimmer endgültig rausreißen. Da gibt es so eine Professorin in Kalifornien, die heißt Elizabeth Loftus, die kann das. Die sagt, das Gedächtnis ist suggestiv, subjektiv und formbar. Da fragt sie, ob ich das Paket aufgemacht habe. Da trinke ich mir Mut an und mache es auf. Da ist ein Seidentuch drin, von ihm, das nicht mehr nach ihm riecht. Ich weiß noch, wie er riecht, wenn ich mich ganz doll anstrenge, dann kann ich ihn noch riechen. Das Tuch riecht nicht nach ihm. Ich lege das Tuch ganz vorsichtig auf die Stelle, zwischen den Besen und den Eimer Farbe, aber dann hänge ich es doch über die Vorhangstange.

April. Da wachsen jetzt Osterglocken und Stiefmütterchen und Vergissmeinnicht, sagt sie am Telefon. Auf ihm wachsen jetzt Osterglocken und Stiefmütterchen und Vergissmeinnicht, sage ich. Wenn ich wiederkomme wachsen da keine Osterglocken und Stiefmütterchen und Vergissmeinnicht mehr, dann Rosen und Efeu, sagt sie. Ich frage, ob das alles ist, was sie interessiert, Scheißblumen. Oder Scheißsteine, schreie ich.

März. Da hab ich ein Foto entdeckt, wo vorher keins war und es dann sofort in den Müll geschmissen. Wenn da vorher keins war, dann hat da auch jetzt keins was verloren, schreie ich sie an. Sie sagt, dass es nicht sie war, die das Foto da hin gestellt hat, dass das jemand anderes war, der es gut gemeint hat. Ich schreie immer noch und schreie, dass hier niemand das Recht hat herzukommen und einfach Fotos aufzustellen, wir sind hier kein Scheißmuseum, schreie ich. Jemand muss da sitzen auf seinem Platz, damit der nicht leer bleibt, schreie ich. Da muss jemand sitzen, damit jemand dann aufstehen kann, wenn er zur Tür rein kommt, damit er zur Tür rein kommen kann und sagen kann, das ist mein Platz, du sitzt auf meinem Platz. Damit jemand dann aufstehen kann und er sich dann hin setzen kann, schreie ich. Da hat sie jetzt Platz gemacht in der Garderobe, sagt sie, und im Kleiderschrank und in der Garage.

Februar. Da hab ich nicht aufgehört mit dem Rauchen, das würde ihn aber freuen, sagt sie. Woher sie das wissen will, schreie ich, woher sie wissen will ob er sich da wo er jetzt ist, da drüber freut, dass ich mit dem Rauchen aufhöre. Ich höre nicht auf.

Januar. Da ruf ich sie an, da sie ist nicht da, aber seine Stimme ist da, auf dem Scheißanrufbeantworter. Die darfst du nie löschen, schreie ich nach dem Piepton, nie.

Dezember. Da sagt sie, er hat was aufgeschrieben, für jeden von Euch. Ich will das nicht lesen, sage ich. ICH WILL DAS NICHT LESEN, ICH WILL DA NICHT DRÜBER REDEN, LASS MICH IN RUHE. Scheißweihnachten. Da hat er sich immer das ganze Jahr drauf gefreut, auf den Weihnachtsbaum, den auszusuchen und zu schmücken und da hat er dann geklingelt und dann durften wir rein. Letztes Jahr, da hat er es schon nicht mehr allein geschafft, da musste sie ihm dann helfen und da war er danach so erschöpft, das er sich dann hingelegt hat und wir haben uns alle betrunken, weil wir gewusst haben, das ist das letzte Scheißletzteweihnachten.

November. Da hat er dann auf einmal danach gefragt. Und ich hab ihn angeschrien und gesagt, wie kannst Du so was fragen, und dann hat sie gesagt, ja, und hat angefangen mit ihm über Gräber zu reden, aber da hat er dann schon nicht mehr zugehört. Sie hat gedacht, jetzt setzt er sich damit auseinander, aber er hat noch nie über Gräber geredet. Sie hat ihm gesagt, wir haben die Karten auch schon und die Anzeige, gut, hat er gesagt. Ich hab ihm vom weißen Wal vorgelesen, von Ismael und Kapitän Ahab.

Geh nicht weg, hat er gesagt.

Da hab ich ihm meine neuen Stiefel vorgeführt, die Absätze sind zu laut, hat er gesagt. Einmal, da hat er sich fast nicht mehr bewegt, da hab ich es mit der Angst zu tun gekriegt und die Schwester gerufen. Aber sie hat gesagt, das ist normal.

Ich hab Dich lieb, hat er gesagt, dann ist er wieder eingeschlafen, da bin ich raus und hab geweint und gedacht, mach, dass es aufhört, weil, ich hab dich so lieb, hab ich gedacht, lieber als irgendwen. Mach, dass es aufhört.

Ich hab mir dann Filme angeguckt die ganze Nacht lang, Zombiefilme.

Sie hat da übernachtet und mich dann angerufen so um acht in der früh.

Da hab ich dran gedacht, wie er da stand im Sommer am Meer, in einem Sommer am Meer mit seinem weißen Hut in hochgekrempelter Leinenhose, hab ihn da so stehen sehen im Wasser, wie er sich runterbeugt um eine Muschel aufzuheben und sich dann noch mal umdreht und so guckt, als ob er was weiß.

Wie er mich da so anguckt, als ob er was weiß.

Sie fragt ob ich was wissen will, ich schreie sie an:

ICH WILL NICHTS WISSEN UND ICH WILL IHN AUCH NICHT NOCHMAL SEHEN, ICH WILL IHN NICHT NOCHMAL SEHEN! schreie ich.

Da stehen wir dann stundenlang im Schnee und werfen Rosen auf ihn drauf und es ist scheißkalt und danach haben dann alle die Wahl zwischen Kürbiscreme und Leberknödel und dann Apfelstrudel mit einer Kugel Eis und Sahne, Getränke a la carte.

Oktober. Da bewegt er sich manchmal und zieht die Decke hoch bis zum Kinn. Da ist fast nichts mehr zu sehen von ihm, nur die Nasenspitze. Liegt einfach da und schnappt manchmal nach Luft. Träumt, vielleicht. Da will ich warum schreien und schreibe warum. Warum. Da will ich gegen die Tür treten und schreibe, will gegen die Tür treten. Will gegen die Tür treten. Und gehe aus der Tür, rauchen.

Da will er plötzlich Regale entwerfen. Regale entwerfen. Da will er, dass der Schreiner zu ihm kommt, um Regale zu entwerfen. Regale. Der ist dann auch gekommen der Schreiner und hat eines entworfen, aber das war dann zu groß, zu schwer, aber da hat er sich dann schon nicht mehr für Regale interessiert.

Da will er dann nur noch, dass es aufhört aber es hört nicht auf. Da hört er auf zu essen und zu trinken. Aber trinken ist wichtig, verdursten ist doch scheiße, sage ich zu ihm, da wird er wütend und ich sage, ich komm nicht mehr.

Aber es hört nicht auf, es fängt an zu schneien.

Da will er plötzlich nach Hause, sie redet über nach Hause holen und telefoniert wild in der Gegend herum, aber da will er dann schon nicht mehr nach Hause. Da will er dann nur noch, dass es aufhört. Das sagt er dann auch den Ärzten, die sagen, sie sind da machtlos. Dann will er auf einmal ans Meer. Aber da geht sie dann nicht mehr drauf ein.

An der Kasse im Supermarkt sagt die Frau vor mir, dass es ein Sprichwort gibt, WEN DER OKTOBER NICHT WILL, HOLT DER APRIL. Ich sage es ihm, da ist er drei Tage beleidigt.

September. Da hab ich ihm ein Kamel mitgebracht, aber er will es nicht, alles wieder mitnehmen, sagt er, hier ist alles so unordentlich. Da war ich zum ersten Mal in dem Scheißkrankenhaus und da will er dann, dass ich da bleibe und ich bleibe da.

August. Da geht die Pumpe vom Brunnen kaputt und da will er zu meinem Geburtstag kommen. Scheißgeburtstag. Er kann nicht raus. Hat eine Scheißkrankenhausinfektion bekommen, ich telefonierte mit ihm, er sagt, es tut ihm leid und, alles Gute, ganz leise. Ich geh nicht zu ihm in das Scheißkrankenhaus, ich steige stattdessen in ein Flugzeug und denke, wenn ich in die Klagemauer einen Zettel rein stecke, dann wird vielleicht alles gut. Scheißklagemauer, hab den Zettel rein gesteckt und jeden Abend mit ihr telefoniert. Sie hat sagt, genieß die Zeit und geweint.

Juli. Da bin ich von einer Reise zurückgekommen, mit Freundinnen. Da hat der Brunnen gerauscht und der Kies geknirscht und die Rosen haben geduftet. Da hab ich gerufen und da ist er uns aus dem Garten entgegen gekommen und hat gefragt ob er sich dazu setzen darf, zu den jungen Damen. Den jungen Damen. Und dann hat er sich ganz vorsichtig dazugesetzt und die jungen Damen haben Wasser getrunken und geraucht und geredet und der Brunnen hat gerauscht und der Kies geknirscht und die Rosen haben geduftet. Und dann sind die jungen Damen weitergefahren und ich bin noch geblieben.

Und dann sind wir da zusammen gesessen, sie und er und ich, und es war schon spät aber noch warm, da hat der Brunnen gerauscht und der Kies geknirscht und die Rosen haben geduftet, und da haben wir Wein getrunken und Reisen geplant und über Steuererklärungen geredet und Versicherungen und die Arbeit und das Leben und das er morgen wieder in die Klinik muss.