In seiner ersten grundsätzlichen und lang erwarteten Rede sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 3. Oktober 2017 Folgendes:
Die Lehren zweier Weltkriege, die Lehren aus dem Holocaust, die Absage an jedes völkische Denken, an Rassismus und Antisemitismus, die Verantwortung für die Sicherheit Israels – all das gehört zum Deutsch-Sein dazu.
Das war sie wieder einmal, die gute alte Weizsäcker-Tradition. Nur dass neun Tage vorher die Bundestagswahl stattgefunden hatte. Angesichts der Ergebnisse dieser Wahl wirkte Steinmeiers Wiederholung des Selbstbildes der guten Deutschen irgendetwas zwischen provokativ, trotzig und kurios. Denn am 24. September 2017 hatten nun einmal knapp sechs Millionen erwachsene Deutsche für völkisches, nationalistisches und antiplurales Denken gestimmt. Die Behauptung eines antirassistischen, anti-antisemitischen und antivölkischen Deutsch-Seins war von den jüngsten Ereignissen radikal widerlegt worden. Und damit meine ich nicht nur die Bundestagswahl, sondern etwa auch die Aufdeckung des NSU oder die Montagsdemos von Pegida.
Steinmeiers Abgrenzung von rassistischen und antisemitischen Positionen wurde also begleitet von seiner stillschweigenden Weigerung, die am Wahltag offenbar gewordene Verstrickung der deutschen Gesellschaft mit der Geschichte des Nationalsozialismus anzuerkennen. Stattdessen stand der Bundespräsident zum Tag der Deutschen Einheit am Rednerpult und tat so, als herrsche weiterhin die neue deutsche Normalität. Mir fällt es schwer, in diesem Beharren etwas anderes zu erkennen als den Ausdruck eines Wunsches, wie Deutschland sein sollte – aber eben nicht ist und auch niemals war. Eine solche Weigerung, die politische Realität anzuerkennen, ist keine Ausnahme unter deutschen Politiker*innen. So berichtete die Leiterin der gegen Rassismus, Rechtsextremismus und Antisemitismus eintretenden Amadeu Antonio Stiftung, Anetta Kahane, im Dezember 2017 in der Frankfurter Rundschau von einer Begebenheit, die sich einige Jahre zuvor bei einem Besuch beim Regierenden Bürgermeister von Berlin zugetragen habe:
Etwa 20 Personen waren gekommen, Juden aus dem Berliner Leben: Berater, Künstler, Sportler, Studierende, Journalisten, Geschäftsleute. Einer nach dem anderen erzählte eine Geschichte. Jede handelte von Beschimpfungen, Herabsetzungen, aufgezwungenen Diskussionen über die Schuld, den Holocaust und das böse Israel, vom mangelnden Schutz jüdischer Kinder vor Angriffen. Die Geschichten spielten auf der Straße, an der Uni, in der Schule, im Jugendclub, auf der Betriebsfeier, auf dem Kinderspielplatz, in der Kunstgalerie oder im Fitnessstudio. Die Aggressionen kamen von Mehrheits- und Minderheitsdeutschen, von Rechten und von Linken. Als alle Anwesenden gesprochen hatten, war es für einen Moment still im Raum. Dann stand der Bürgermeister auf. Nein, sagte er, das könne er nicht glauben. Es gibt keine antisemitische Gefahr, und Juden können sich dennoch frei bewegen. Er ließ sich noch mit einem jüdischen Sportler fotografieren, dann ging er. Und ließ uns mit offenen Mündern zurück.
Der Bürgermeister verließ den Raum, weil er nichts von der Normalität des Antisemitismus wissen wollte. Als Steinmeier behauptete, zum Deutsch-Sein gehöre die »Absage an jedes völkische Denken, an Rassismus und Antisemitismus«, ignorierte er ein Achtel der deutschen Wähler*innen. Mindestens. Bundespräsident wie Bürgermeister wussten scheinbar besser, wie Deutschland ist. In Mit Rechten reden, dem 2017 erschienenen »Leitfaden« von Per Leo, Maximilian Steinbeis und Daniel-Pascal Zorn, findet sich ein Versuch, derartige Realitätsverweigerung zu erklären. Für die Autoren wurzelt sie in einem Moralismus, den sie besonders bei ihren »linken Freunden« auszumachen meinen. Diese Verweigerung nehme ich auch wahr, die politische Verortung aber halte ich für Nonsens. Die Realitätsverweigerung ist nicht Eigenschaft linker Freund*innen, sondern bildet die Grundlage der deutschen Normalitätsbehauptung, die auf einer Verkehrung des Verhältnisses von Selbstbild und politischer Realität basiert. Weil die Deutschen nicht mehr völkisch, antisemitisch und rassistisch sein wollen, muss sich die politische Realität entsprechend verhalten. Da werden die 12,6 Prozent AfD-Wähler*innen eben von einer Affirmation völkischen Denkens zu einem Ausdruck politischer Frustration umgedeutet. Und die Vergangenheit wird weiterhin so behandelt, als wäre sie vergangen. Vergangenheitsbewältigung eben. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.
Ach, wäre es doch so, dass der Bundespräsident nur strategisch gesprochen hätte, um dem rechten Denken keinen Raum zu geben. Allerdings halte ich das für wenig plausibel. In Vorbereitung auf die Rede war Steinmeier nämlich monatelang durch Deutschland gefahren, um Menschen kennenzulernen und sich mit ihnen zu unterhalten. Darauf hatte die Republik lange gewartet. Seine Rede war Ergebnis dieser Feldforschung. Die Gorki-Theater-Kolumnistin und Autorin Mely Kiyak kommentierte sie mit folgenden Worten:
Vielleicht bin ich jetzt bescheuert, aber ich versuche es mal so zu erklären. Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe waren mustergültige Beispiele von Menschen, die sich völlig abgekehrt hatten von allem, was Steinmeier da aufzählte. Sie waren Antisemiten, Rassisten, völkisch und so weiter. Aber spricht man ihnen deshalb jetzt das Deutsch-Sein ab? Sind jetzt alle Deutschen von Natur aus Antirassisten?
Genau das. Nicht, dass Steinmeier die Rechten komplett ausgespart hätte, aber bezeichnend ist, wie er sie thematisierte: Er sprach von neuen »Mauern aus Entfremdung, Enttäuschung oder Wut«, die im Land entstanden seien, womit er wohl die Motivation der Wähler*innen der AfD zu erfassen meinte. Das war alles. Wirklich. Das ist nicht nur paternalistisch, weil es die politische Entscheidung der Menschen nicht ernst nimmt. Es zeigt auch Steinmeiers Weigerung, die AfD als eine Wiedergängerin völkischen Denkens anzuerkennen – und ihre Wähler*innen als deren willige Vollstrecker. Als wären AfD-Wähler*innen Kinder, die nicht wüssten, was sie anrichten. Was Blödsinn ist. Oder egal. Wer denkt schon, alle Wähler*innen der NSDAP hätten den Stürmer abonniert oder Mein Kampf gelesen. Doch über diesen Teil der Geschichte wollte der Bundespräsident ja sowieso nicht nachdenken. Seine Interpretation der politischen Situation basierte auf einem Selbstbild, das ihm um den Preis seiner Aufrechterhaltung keine andere Möglichkeit ließ, als die Wähler*innen einer offen rechten Partei als frustrierte Teile eines an sich guten, antirassistischen, nichtvölkischen Deutschlands zu deuten.
Es ist zu vermuten, dass eine solche vom Selbstbild als gute Deutsche ausgehende Analyse der Gegenwart umso mehr unter Druck gerät, desto weiter sich die politische Realität in Deutschland vom eigenen Selbstbild entfernt. Aber trotz aller Warnsignale, von denen die Bundestagswahl nur das letzte und sichtbarste gewesen ist, wird das Lied des neuen, normalen, positiv heimatbewussten Deutschlands weiterhin gesungen. Ich sage nur Heimatministerium. Oder wieder Steinmeier, der sagt: »Ich bin überzeugt, wer sich nach Heimat sehnt, der ist nicht von gestern.« Anscheinend sind die offiziellen politischen Vertreter*innen dieses Landes nicht bereit, die Befriedigung der eigenen nationalistischen Gefühle einfach so wieder herzugeben, bloß weil ein paar Deutsche über die Stränge schlagen. Die brennenden Flüchtlingsheime der letzten Jahre haben ja auch nicht wirklich beim Feiern gestört.
Kratzt man ein wenig an der Oberfläche, zeigt sich, dass auch der Heimatbegriff Steinmeiers alles andere als unproblematisch ist. Nachdem er die Bedeutung legaler Fluchtwege nach Deutschland angesprochen hat, kommt er auf die »Neuen« zu sprechen: »Für die Neuen heißt das zunächst mal Sprache, Demokratie, Grundgesetz, Geschichte.« Steinmeier fand es also wichtig, anzumahnen, dass sich die Geflüchteten gefälligst zu benehmen hätten, wenn sie nach Deutschland kämen. Hier sollte man kurz innehalten: In das Parlament zieht eine völkische rechte Partei ein, und Steinmeier ermahnt die zentrale Opfergruppe rechter Gewalt, sich zu integrieren. Als Geflüchteter fühle ich mich da doch richtig willkommen geheißen. Und den Mitgliedern einer »jungen, lebensfrohen Generation« in Deutschland ruft der Bundespräsident zu, dass sie sich freuen sollen über die deutsche Einheit. Moment! Ist das die gleiche lebensfrohe Generation, deren Mitglieder zu einem nicht kleinen Teil von Programm und Vorstellungen der AfD physisch bedroht sind? Es wäre doch zumindest eine Möglichkeit gewesen, den Geflüchteten, Migrant*innen und ihren Kindern zu versichern, dass der Staat sie beschützen wird. Aber dazu kein Wort von Steinmeier. Kein einziges Wort.
Am 3. Oktober 2017 in Mainz hat der Bundespräsident eine Entscheidung getroffen: Will er sich mit den Geflüchteten solidarisieren, den Migrant*innen, Postmigrant*innen und Muslim*innen, die von der Rhetorik und den Attacken der völkischen Rechten bedroht sind? Oder solidarisiert er sich mit denjenigen, die kein Problem damit haben, eine Partei mit völkischem Programm zu wählen? Der Bundespräsident entschied sich ziemlich eindeutig für die Empathie mit den Wähler*innen auch der AfD. Im Zweifel für die deutsche Volksgemeinschaft.
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Wie Steinmeier bin auch ich seit dem ersten Auftauchen der AfD in den Landesparlamenten viel durch die Republik gefahren und habe mich mit Menschen unterhalten. Dabei habe ich die unterschiedlichsten Erklärungen für die Erfolge dieser neuen Partei gehört. Manche erzählten mir, dass es sich um eine Protestbewegung, um das Resultat einer Art Politikverdrossenheit handle. Es gehe nicht so sehr um konkrete politische Inhalte, sondern vor allem »gegen das Establishment«. Das mag bei Hitler auch so gewesen sein, dachte ich und nippte an meinem Gin Tonic. Mir begegneten auch Leute, die in den AfDler*innen irritierte und verlorene Deutsche sahen, die es zurückzuholen gelte. Eine Zärtlichkeit klang da mit, die mich rasend machte. Als hätten wir vergessen, diese Leute mitzunehmen auf unsere antirassistische und anti-antisemitische Bildungsreise.
Was bedeutet dieses »Mitnehmen« eigentlich? Wollten die denn jemals mitfahren, als der Schulbus unten stand und gehupt hat? Haben sie auch nur einen Zentimeter weit ihre Daumen rausgehalten, als erst das deutsch-türkische und dann das postmigrantische Theater mit der Konfettikanone vorbeizog? Wann immer ich auf meinen Reisen das Mantra vom Mitnehmen der verlorenen AfD-Seelen hörte, wollte ich aufstehen, meinen Hartplastikbecher in eine dieser aufgeräumten Zimmerecken schmeißen, meine Gegenüber schütteln und rufen: Habt ihr wirklich nichts Besseres in petto? Nur entweder Empathie oder Achselzucken? Der eigentliche Skandal ist doch, dass im Jahr 73 nach dem Ende des Nationalsozialismus ein Programm wie das der AfD für so viele Menschen wählbar ist. Und das ist eine Katastrophe. Ka-Ta-Stro-Phe.
Auch auf politischer Ebene sind in den vergangenen Monaten Vorschläge für den Umgang mit der Neuen Rechten gemacht worden. Die Scheuklappen-Strategie des Ignorierens kann seit der Bundestagswahl als überholt gelten. Anklang fand die Idee der kontrollierten Konfrontation, die Per Leo, Maximilian Steinbeis und Daniel-Pascal Zorn in Mit Rechten reden vorschlagen. Wer sich durch die literarisierenden Passagen des Buches gekämpft hat, deren schwurbelige Metaphorik die Dinge komplizierter macht, als sie sind, findet hier als grundlegende Empfehlung: Argumentiert den Rechten gegenüber möglichst ernsthaft und überlasst es auf diese Weise ihnen selbst, sich lächerlich zu machen. Wichtig ist dabei allerdings, dass für die Autoren überhaupt nur als »rechts« bezeichnet werden kann, wer auf eine bestimmte Art redet. Wer aber gar nicht redet, sondern einfach eine der vier Straftaten begeht, die laut Amadeu Antonio Stiftung und Pro Asyl im Jahr 2017 täglich gegen Geflüchtete begangen wurden, der liegt bereits außerhalb des Suchfeldes. Damit schließen die Autoren einen zentralen Aspekt rechter Politik von vornherein aus, nämlich ihre Gewaltförmigkeit. Einfach wegdefiniert.
Die Autoren von Mit Rechten reden verfehlen mit ihrer schon im Titel enthaltenen Empfehlung aber auch die Neue Rechte selbst, der es nach eigenen Aussagen häufig gerade nicht um den Austausch, sondern schlicht um diskursive Hegemonie geht. Bei Thor von Waldstein, Autor des rechten Verlages Antaios, heißt diese Strategie Metapolitik – der Begriff geht ironischerweise auf den italienischen Marxisten Antonio Gramsci zurück, erfreut sich aber auch bei rechten Intellektuellen seit Alain de Benoist, dem Impulsgeber der Nouvelle Droite in Frankreich, großer Beliebtheit. Bei der Frage nach Hegemonie ist die Fähigkeit zentral, den anderen die eigenen Themen und Deutungen aufzuzwingen. Dabei kann argumentative Stringenz eine Rolle spielen, muss sie aber nicht. Den meisten Menschen scheint sie egal zu sein: denjenigen, für die Israel den Weltfrieden gefährdet, das Land aber wirklich schön finden, denjenigen, die den Rechtsstaat wichtig finden, aber kein Problem damit haben, die Nummern von den Polizeiuniformen zu entfernen, oder all den AfD-Herren, die zugleich Volkssolidarität und wirtschaftlichen Neoliberalismus fordern. Politische Einstellungen basieren nicht auf argumentativer Widerspruchsfreiheit – und können darum auch unmöglich auf dieser Ebene bewältigt werden. Für Leo, Steinbeis und Zorn stellt sich die Neue Rechte vor allem als »Sprachspiel« dar. Für mich und meine Freund*innen erhöht sie vor allem das Potential physischer Bedrohung.
Der vorherrschende Umgang mit der Neuen Rechten in der Politik ist allerdings das Verständnis für die schon sprichwörtlichen Sorgen und Nöte der Menschen. Diese Anerkennung läuft notgedrungen auf die Übernahme bestimmter politischer Grundannahmen hinaus – Überfremdung lässt sich nicht ohne Homogenitätsideal, Islamfeindlichkeit nicht ohne Leitkultur verstehen. Ich muss schon sagen, dass mich bei allem Pessimismus die Begeisterung überrascht hat, mit der viele deutsche Politiker*innen und Publizist*innen auf den Wahlerfolg der AfD reagierten. Es wirkte, als hätten sie regelrecht darauf gewartet, rechten, nationalistischen und nationalliberalen Positionen mal wieder einen Platz in ihren Homestorys, Interviews und Meinungsartikeln einzuräumen.
Ein beredtes Beispiel aus der Zeit rund um die Bundestagswahl bot natürlich die Rechts-von-mir-ist-nur-noch-die-Wand-Partei aus Bayern namens CSU, die sich ja überhaupt gerne mit rückwärtsgerichteten Neuerungsideen selbst übertrifft. War es nicht Franz Josef Strauß, der anlässlich des deutschen Wirtschaftswunders sinngemäß verkündete: Ein Volk, das diese wirtschaftlichen Leistungen vollbracht hat, hat ein Recht darauf, von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen? Alexander Dobrindt reihte sich in solches Denken mit seiner Forderung nach einer neuen konservativen Revolution naht los ein. Ich habe mich darüber schon in einem anderen Kapitel lustig gemacht, die Konsequenz einer solchen Haltung ist aber überhaupt nicht witzig. Wenn die Strategie zur Rückgewinnung rechter Wähler*innengruppen in der Übernahme rechter Positionen bestehen sollte, dann wird die CSU am Ende so rechts sein, dass es anderer rechter Parteien gar nicht mehr bedarf.
Auch die SPD treibt allen spitzenpolitischen Mittelfingern Richtung AfD und Pegida zum Trotz die eigene Sarrazinisierung voran. 2017 etwa formulierte der notorisch schrille und mittlerweile abgestellte Lautsprecher Sigmar Gabriel die Vision einer sozialdemokratischen Partei, die die Begriffe Heimat und Leitkultur nicht mehr tabuisieren müsse – lies: mal wieder positiv besetzen solle. Eine ausgiebige Anerkennung des Heimatbegriffs findet sich auch in Steinmeiers Rede, selbst wenn die bundespräsidentenmäßig überparteilich war. Beide Äußerungen sind keine Ausnahmen, sondern Ausdruck eines handfesten Trends. Der einflussreiche Landesverband NRW etwa wollte gleich nach der verlorenen Wahl die Umwandlung der SPD in eine »moderne Heimatpartei« angehen. Die Jusos widersprachen. Immerhin. Aber Thilo Sarrazin ist ja auch 2017 noch Mitglied der SPD – und nicht zufällig lässt die Spiegel-Journalistin Melanie Amann ihr Buch über das Erstarken der AfD mit Sarrazins Deutschland schafft sich ab beginnen.
Bei den Grünen sieht es nicht viel besser aus, auch wenn sie keine Gallionsfigur wie Sarrazin vorweisen können. So vermeldete die Vorsitzende Katrin Göring-Eckardt im Oktober 2017: »Wir lieben dieses Land. Es ist unsere Heimat.« Dafür erntete sie zwar Kritik von der Grünen Jugend, zugleich jedoch breite Unterstützung von Parteifreund*innen wie Cem Özdemir, Reinhard Bütikofer, Robert Habeck und Renate Künast. Von einer Populistin wie Sahra Wagenknecht fange ich hier erst gar nicht an, die kocht in der Linken seit einer Weile ihr eigenes nationales und soziales Süppchen zusammen. Und die FDP unter Christian Lindner spricht sich für eine Auswahl der Geflüchteten nach wirtschaftsliberalen Maßstäben und schnelle Abschiebungen aus. Dazu passt ganz gut, dass sich die FDP ihre monochrome Wahlkampfwerbung von der Berliner Agentur Heimat ausrichten ließ. Auch in Österreich ist die Heimatliebe kein Feld im alleinigen Besitz rechter oder konservativer Parteien, sondern wurde vom gegen die rechtspopulistische Konkurrenz ankämpfenden grünen Bundespräsidentschaftskandidaten Alexander Van der Bellen ausgiebig mit Slogans wie »Wer unsere Heimat liebt, spaltet sie nicht« oder »Heimat braucht Zusammenhalt« beackert.
Repräsentant*innen sämtlicher auf deutscher Bundesebene vertretener Parteien öffneten als Reaktion auf die AfD also dasselbe Fass, dessen trüber Inhalt sich unter der Formel zusammenfassen lässt: Man muss die Sorgen der Wähler*innen ernst nehmen. Die Parteien scheinen bemerkt zu haben, dass mit völkischen und nationalen Parolen wieder erfolgreich Politik gemacht werden kann. Und da machen sie halt mit. Als Konsequenz muss dann eben auch die Heimatliebe oder die Angst vor Überfremdung oder vor dem Islam nachvollzogen werden. Diesen um sich greifenden Rekurs auf die politische Empathie bezeichne ich als Rhetorik der Zärtlichkeit.
Die Rhetorik der Zärtlichkeit halte ich nicht nur für politisch und persönlich fragwürdig, sie scheint mir auch eine eigentümliche Schwerpunktsetzung für linke oder linksliberale Parteien zu sein. Stattdessen könnten sie sich ja auch mit Menschen mit Migrationshintergrund solidarisch erklären, die machen mittlerweile immerhin fast ein Viertel der deutschen Bevölkerung aus, von denen zur letzten Wahl knapp die Hälfte wahlberechtigt war. Ist das keine politische Zielgruppe mit Zukunft? Oder man könnte mal wieder Sozialpolitik machen, anstatt sich Heimatbegriffe anzueignen, vielleicht sogar mit echter Umverteilung und so. Sonst übernehmen die soziale Aufgabe nämlich neurechte Parteien, wie das etwa mit dem Front National in Frankreich und der PiS in Polen geschieht – der hierzulande vielgelesene Essay Rückkehr nach Reims des französischen Soziologen Didier Eribon widmet sich genau diesem Prozess der Übernahme ehemals linker und kommunistischer Milieus durch den Front National.
Der Rhetorik der Zärtlichkeit steht die Rhetorik der Härte gegenüber, die auf Migrant*innen, Muslim*innen und Geflüchtete zielt. Den Gründen für die Zärtlichkeit des demokratischen Spektrums gegenüber den Wähler*innen der AfD und für seine Empathielosigkeit gegenüber den von rechter Gewalt Bedrohten sollte einmal gründlich nachgespürt werden. Ich vermute, dass es sich um dieselbe Trübung des Auges handelt, die verhinderte, dass die Ermittler*innen das ausländerfeindliche Profil des NSU früher erkannten. Daran wird auch deutlich, dass man sich im Krisenfall eben doch mit denjenigen solidarisiert, mit denen man sich verbunden fühlt. Und das sind immer noch eher die heimischen Rechten als diejenigen, die vor Krieg oder Armut geflüchtet sind. Auch das bedeutet Integrationsdenken.
Vor diesem Hintergrund wird verständlicher, warum sich der politische Diskurs unter dem Eindruck einer antimigrantischen Partei wie der AfD so mühelos in Richtung Nationalismus verschieben konnte. Plötzlich wollten und wollen eben alle stolz auf ihre deutsche Heimat sein, aus welchen Gründen auch immer. Diese neue Heimatliebe würde ich als einen metapolitischen Sieg der Neuen Rechten auf ganzer Linie verbuchen. Und spätestens an dieser Stelle wird die eingangs beschriebene Dominanz des deutschen Selbstbildes über die politische Realität gefährlich. Denn zunehmend braucht es keine willentliche Entscheidung mehr, in Deutschland völkisch zu denken oder zu handeln. Es braucht eine Entscheidung, es trotz der Rhetorik der politischen Umgebung nicht zu tun.
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Mit wachsender Deutlichkeit zeichnet sich ab, dass das Integrationsdenken ein Teil des Problems und nicht der Lösung der jetzigen Situation darstellt, da es denjenigen die Empathie verweigert, die diese vielleicht am dringendsten benötigen. Der Schutz eines knappen Viertels der Bevölkerung Deutschlands gegen rechte Übergriffe darf keine Frage der politischen Haltung sein. Sie ist die Pflicht demokratisch gewählter Politiker*innen in einer pluralen Gesellschaft wie dieser. Und ja, ich finde, dass der Schutz vor einer existentiellen Bedrohung wichtiger ist als die ideologischen Anliegen von 12,6 Prozent der Wähler*innen.
Das rechte Phantasma gesellschaftlichen Zusammenlebens basiert auf der Angst vor der Fragmentierung, auf der Panik und Panikmache vor einer Desintegration der Gesellschaft. Schon historisch führt diese Panikmache in die Irre. Deutschland ist eigentlich nur einmal an seiner Fragmentierung zugrunde gegangen, nämlich während der Weimarer Republik – und daran hatten die Rechten entscheidenden Anteil. Was folgte, war der Faschismus als einzige echte deutsche Revolution, die eine radikale Vereinheitlichung gesellschaftlicher Komplexitäten und Widersprüche anstrebte. Dieselben Vereinheitlichungsphantasien feiern derzeit ihre Rückkehr. Ihnen keine Handbreit.
Empathie mit rechten Wähler*innen ist aber auch dann fahrlässig, wenn es einem um die politische Zukunft dieses Landes geht. Ich glaube nämlich, dass die Deutschen den Kampf gegen die Neuen Rechten ohne die migrantischen und postmigrantischen, jüdischen und muslimischen Wähler*innenstimmen nicht gewinnen werden. Für diese notwendigen und vielleicht ungewohnten neuen Allianzen braucht es starke Narrative, einen Willen zur Selbstkritik auf allen Seiten und eine politische Vision für eine Gesellschaft jenseits des Integrationsparadigmas.
Doch wohin ich auch schaue, weiterhin nur Gedächtnis- und Integrationstheater. Wenn es hochkommt, findet an einem Sommerwochenende der Karneval der Kulturen statt, bei dem alle mal zeigen dürfen, wie ihr Kopftuch aussieht und wie sie ihre Musikinstrumente bedienen. Oder man geht zu den Jüdischen Kulturtagen und träumt zum traurigen Klang der Klarinette von einer verlorenen Welt. Oder man lauscht einem schmalzigen israelischen Popsänger, wie er Lieder aus sich rausquetscht, die man mit ungetrübten Sinnen schleunigst weggeschaltet hätte. Es ist doch eigentlich eine alte, vielfach vorgebrachte Kamelle gerade auch linker Kritik am Multikulturalismus: Die Inszenierung von Kultur und Vielfalt für eine deutsche Mehrheit ist etwas anderes als die Anerkennung von Vielfalt. Stattdessen wollen alle Deutschen eine Kippa tragen und zeigen, wie anti-antisemitisch sie sind. Bei der Aktion ist den meisten vermutlich gar nicht klar, dass sie mit der Kippa auch das religiöse Judentum stärken. Als wäre Deborah Feldmans Satmar-Gemeinde in Williamsburg, New York, der dominante Ausdruck von Jüdischkeit in diesem Land. Er ist es nicht.
Wir sind noch lange nicht da angekommen, wo die Rechten die Gesellschaft schon lange sehen. Und weil ich dieses Buch schreibe, um ihre Vision gesellschaftlicher und kultureller Homogenität unmöglich zu machen, lautet der Titel ja auch: Desintegriert Euch!