Kaiser von Amerika

Martin Pollack

Artwork by Lee Wan Xiang

Jüdische Flüchtlinge in Brody

Der große jüdische Exodus beginnt jedoch nicht in Galizien, sondern in Russland. Nach der Ermordung des russischen Zaren Alexander II. am 1. März 1881 durch Mitglieder des terroristischen Flügels der Narodniki kommt es in Städten und Dörfern im jüdischen Ansiedlungsrayon zu grausamen Ausschreitungen. Es gibt Dutzende Tote, Frauen und Mädchen werden vergewaltigt, Geschäfte und Wirtshäuser geplündert. Die lokalen Behörden machen keine Anstalten, die Pogrome zu verhindern, mancherorts stacheln sie den Pöbel sogar auf. Nicht zum ersten Mal sind die Juden willkommene Sündenböcke. An ihnen sollen Bauern, Arbeiter und verarmte Kleinbürger ihre Wut und Frustration über ihre Misere abreagieren. Die Juden sind Schuld an eurem Elend, haut die Blutsauger!

Die Pogrome lösen eine gigantische Fluchtbewegung aus, auch aus Gebieten, die zunächst gar nicht von den Ausschreitungen betroffen sind. Die Juden verschleudern Häuser und Grundstücke, sperren Läden und Werkstätten zu—nur weg aus dem Zarenreich! Ganze Familien machen sich davon, von einem Tag auf den anderen, getrieben von der Angst vor neuen Massakern. Ihr Leben in Russland war schon vorher ein einziges Jammertal, unablässig wurden sie drangsaliert durch bürokratische Schikanen und diskriminierende Gesetze; die Pogrome sind der letzte Tropfen, der das Fass der Verzweiflung zum Überlaufen bringt. Die Flüchtlingsströme nach Westen wählen verschiedene Wege, einer führt nach Brody, die kleine ostgalizische Bezirksstadt an der russischen Grenze, in einer weiten, sumpfigen Ebene gelegen.

Auch unter den Juden in Galizien erzeugen die Nachrichten aus dem benachbarten Russland Abscheu und Schrecken, umso mehr, als in manchen Dörfern Stimmen zu hören sind, die mit den russischen Pogrombanden sympathisieren. Die Russen wissen, wie man mit den Juden umspringen muss! Kurzen Prozess muss man den Blutsaugern machen! In Lisko sind ebenfalls solche Töne zu vernehmen, wenn auch vereinzelt, hinter vorgehaltener Hand, in der Schenke, auf dem Markt, vor der Kirche.

Mendel Beck erinnert sich später an die gedrückte Stimmung in der jüdischen Gemeinde, an das Entsetzen angesichts der blutigen Exzesse, an das Mitgefühl mit den unschuldigen Opfern, aber auch an die schleichende Ungewissheit und Angst. Und was, wenn es bei uns zu so etwas kommt? Wenn auch unsere Bauern zu Knüppeln und Sensen greifen? Die älteren Männer versuchen zu beruhigen, der österreichische Kaiser werde das nie zulassen, er werde seine Soldaten schicken, der Kaiser liebe die Juden, er wisse, dass sie treu zu ihm hielten. Doch der Kaiser ist in Wien, und Wien ist weit. Damals ist erstmals von Auswanderung die Rede. Man liest in den Zeitungen, dass die russischen Juden übers Meer geschickt werden, angeblich nimmt Amerika die Vertriebenen mit offenen Armen auf. In Amerika gibt es keinen Zaren und keine Pogrombanden, keine geifernden Popen und betrunkenen Bauern, dort haben Juden nichts zu befürchten, dort können sie in Sicherheit ein neues Leben beginnen. Hat Mendel Beck damals schon den Entschluss gefasst, Lisko zu verlassen und nach Amerika zu gehen?

Die kleine Grenzstation Radziwiłłów ein paar Kilometer östlich von Brody wird von den Flüchtlingen förmlich überrollt, die unbefestigte Straße verwandelt sich unter Rädern und Tritten in knöcheltiefen Morast, in dem die erschöpften Menschen und mit Hausrat und Kindern hoch beladenen Wagen, gezogen von mageren, struppigen Kleppern, nur langsam vorankommen. Soldaten und die Zöllner treiben die Exilanten an, vorwärts!, schneller!, auch die Bezirksstadt ist auf den Ansturm der Massen nicht vorbereitet, viele werden anfangs ihrem Schicksal überlassen, hungrig, abgerissen, ohne ein Dach über dem Kopf. Die Behörden erklären sich für nicht zuständig, sie hoffen, dass die russischen Juden bald wieder freiwillig in ihre Heimat zurückkehren. Die jüdische Gemeinde von Brody, rund zwei Drittel der Einwohner sind Juden, ist hoffnungslos überfordert, sie hat selber genug Arme zu unterstützen. Brody erlebt in dieser Zeit, ähnlich wie Lisko, einen wirtschaftlichen Niedergang, seit der Abschaffung der Privilegien einer «Freien Handelsstadt» im Jahre 1880 geht der Handel zurück, nennenswerte Industrie gibt es keine, außer einer Spiritusbrennerei, drei Brauereien und einer Dampfmühle.

Die Hilfe der reichen westeuropäischen Gemeinden setzt zögerlich ein, sie haben kaum Erfahrung mit solchen Katastrophen. Schließlich richten jüdische Hilfsorganisationen mit Unterstützung des Eisenbahnmagnaten und Philanthropen Baron Moritz Hirsch und der Alliance Israélite Universelle in Brody ein Büro ein, um die Ankömmlinge, von denen viele nichts als ihr nacktes Leben retten konnten, in Empfang zu nehmen, sie mit dem Nötigsten zu versorgen und bei der Weiterreise zu unterstützen. Die meisten wollen nach Amerika, möglichst weit weg von Russland, wo sie ihres Lebens nicht sicher sind.

Der aus Ungarn gebürtige Religionsphilosoph Moritz Friedländer, seit 1875 Schriftführer der Wiener Zweigstelle der Alliance Israélite Universelle, begibt sich im Spätherbst 1881 im Auftrag der Organisation mit einigen Helfern nach Brody, um die dort im Einsatz befindlichen Delegierten abzulösen und zu helfen, «eine Welt von Jammer und Verzweiflung zu bewältigen». Was er in Brody zu sehen bekommt, entsetzt den liberalen Denker. Zahllose Flüchtlinge sind in großen, provisorisch errichteten Baracken zusammengepfercht, jämmerliche, abgerissene Gestalten, ängstlich geschart um ihre wenigen Habseligkeiten, als befürchteten sie einen erneuten Überfall. Viele Frauen mit Kindern, Säuglingen, manche nur notdürftig bekleidet, weil sie mehr nicht retten konnten, die Männer wurden ermordet oder von der Familie getrennt. Viele starren stumpf vor sich hin, als könnten sie immer noch nicht fassen, was ihnen geschehen ist, dass ihre kleine, erbärmliche Welt zerstört und zertrampelt wurde. Verletzte, notdürftig verbunden, Opfer von Pogromisten, die Angst steht ihnen ins Gesicht geschrieben, viele haben mit ansehen müssen, wie ihre Nächsten erschlagen, vergewaltigt, grausam verstümmelt wurden, Mütter, Väter, Frauen, Kinder, Geschwister.

«Dort keucht ein gebrochener Greis mühselig daher, gestützt von seinen beiden Enkeln, die ihren Ernährer verloren. Hier drängt sich ein Weib mit verzweifelten Gebärden durch die Massen, nach ihrem verlaufenen Kinde suchend; dort wimmert eine ganze Familie, von Hunger und Kälte gefoltert . . . überall Noth, Elend und Verwirrung», so beschreibt Friedländer die Zustände in der Grenzstadt in seinem Bericht mit dem nüchternen Titel: «Fünf Wochen in Brody unter jüdisch-russischen Emigranten».

Die Vertreter der Alliance Israélite müssen in all dem Chaos entscheiden, wer von den Flüchtlingen repatriiert, nach Russland zurückgeschickt, und wer expediert werden kann. Sie bemühen sich, die zur Expedierung, zum Weitertransport, bestimmten Personen, oft ganze Familien, möglichst rasch aus dem aus allen Nähten platzenden Brody fortzuschaffen, zunächst nach Oświęcim, dem österreichischen Grenzbahnhof zu Preußen, und dann weiter nach Hamburg, von wo sie mit Schiffen nach Nordamerika und Argentinien gebracht werden sollen.

Jüdische Organisationen schicken ihre Schützlinge, wenn es sich irgendwie machen lässt, über Hamburg und nicht über Bremen. Das hat einen guten Grund. Während sich Bremen Juden gegenüber lange Zeit verschlossen hat—bis 1848 ist es Juden nicht gestattet, sich in der Stadt niederzulassen, 1860 leben erst zwanzig jüdische Familien in Bremen –, ist Hamburg viel aufgeschlossener und großzügiger: Um 1850 zählt die jüdische Gemeinde bereits rund 10 000 Mitglieder. In der Alsterstadt können jüdische Emigranten daher eher auf die Hilfe begüterter deutscher Glaubensgenossen zählen; dazu kommt, dass man im Hamburger Transithafen mehr Rücksicht auf die speziellen Bedürfnisse gläubiger Juden nimmt.

Im Pogromjahr 1881 wird auch das «Deutsche Central-Comité für die Russischen Juden» ins Leben gerufen, mit der Absicht, die Flüchtlinge von ihrer Ankunft in Deutschland bis zur Abreise zu betreuen und nach Möglichkeit von der Straße fernzuhalten. Man will verhindern, dass sie bettelnd herumziehen und den Ärger der Behörden oder der Bevölkerung erregen.

Paul Lasker ist ein Repräsentant des Central-Comités in Hamburg. Er ist damit beschäftigt, die aus Brody kommenden Flüchtlinge vom Bahnhof abzuholen und auf die verschiedenen, vom Comité angemieteten Herbergen zu verteilen sowie dafür zu sorgen, dass sie eine warme Mahlzeit erhalten, Milch für die Kinder. Er ist auch verantwortlich für die Ausgabe der nötigen Sachen für die Überfahrt, «wie Matratzen, Decken, Blechgeschirre etc. und Versorgung mit Kleidungsstücken. Ferner überwachten wir die Einschiffung der Emigranten», schreibt Lasker in einem Rechenschaftsbericht.

1882 fegt eine zweite Pogromwelle über Russland, wieder strömen Scharen von Flüchtlingen bei Brody über die Grenze. Zeitweise lagern bis zu 20 000 Menschen in der rund 15 000 Einwohner zählenden Stadt. Die Notquartiere sind überfüllt, die Leute gezwungen, auf der Straße, in den Parks zu übernachten. Die Hilfsorganisationen bemühen sich nach Kräften, die Ankömmlinge umgehend nach Deutschland zu lenken. Viele deutsche Juden scheuen sich allerdings, den unverschuldet in Not geratenen Glaubensgenossen aus Russland allzu offen ihre Solidarität zu zeigen—aus Angst vor dem wachsenden Antisemitismus in Deutschland. Das bringt der bekannte jüdische Historiker Heinrich Graetz, Vertreter des Breslauer Komitees der Alliance Israélite, in einem Brief an die Leitung am 4. Juli 1881 ganz unverblümt zum Ausdruck:

Geehrte Herren vom Central-Comité,
Ich glaube Ihnen eine Erklärung geben zu müssen, dass bisher von hier aus keine Sammlung für die Opfer des südrussischen Fanatismus an die Alliance gesandt wurde. Der Grund ist, dass ein Aufruf zu Beiträgen unter der Fahne der Alliance am allerwenigsten erlassen werden konnte, weil die exorbitante Antipathie der Deutschen gegen unsere Glaubensgenossen ganz besonders gegen die Alliance gerichtet ist, und diese geradezu öffentlich als eine internationale Verschwörung fletrirt wird, und daher sich nicht wenige unserer Glaubensgenossen scheuen, als Mitglieder derselben zu gehören. Wir versuchen daher ein gemischtes Comité von Juden und Christen wie in Berlin zu bilden, von dem aus der Aufruf ergehen soll. Aber der Plan scheiterte an dem hier herrschenden Illiberalismus.

 

Oświęcim, Auschwitz, Oschpitzin

Die über Brody flüchtenden russischen Juden—eine andere Route führt im Norden über den ostpreußischen Grenzort Eydtkuhnen, wo die Hapag ebenfalls eine Agentur unterhält—landen meist in Oświęcim. In Brody werden sie in Eisenbahnwaggons gesteckt und über Lemberg und Przemyśl in die Stadt an der Grenze zu Preußen geschickt. Dort heißt es wieder warten, die preußischen Behörden verlangen Papiere, Namenslisten. Jüngere Kinder, Waisen, deren Eltern ermordet wurden, wissen häufig kaum etwas über sich selber, nur den Vornamen, Chaskel, Berl, Meilech; die Vertreter der deutschen Hilfskomitees, eingesetzt in Oświęcim, um hier die russischen Juden zu übernehmen und weiter nach Deutschland zu geleiten, sind der Verzweiflung nahe. Die deutsche Bürokratie kennt keine Gnade, sie legt den Flüchtlingen zahlreiche Hindernisse in den Weg.

Oświęcim. Auschwitz. Über die Hälfte der Bewohner sind Juden, sie nennen ihre Stadt Oschpitzin. Die einstige Hauptstadt des Herzogtums Oświęcim-Zator—der österreichische Kaiser führt bis 1918 unter seinen vielen Titeln auch den eines Herzogs von Auschwitz und Zator—entwickelt sich dank ihrer Lage zu einem wichtigen Sammelzentrum und Umschlagplatz für die große Wanderung von Osten nach Westen.

Durch die zirka 10 000 Einwohner zählende Stadt am Zusammenfluss von Sola und Weichsel kommen polnische und ukrainische Arbeitskräfte für Deutschland ebenso wie Auswanderer nach Übersee. Die Saisonarbeiter, Schnitter und andere Erntehelfer, allgemein Preußen- oder Sachsengänger genannt, weil sie früher vorwiegend auf großen Gütern in Sachsen Beschäftigung fanden (darauf bezieht sich auch die bis heute für jede Form der Arbeitsemigration verwendete polnische Bezeichnung «na saksy», nach Sachsen), ziehen in Partien durch die Stadt, auf der Suche nach billigen Quartieren und Kneipen, sie kommen zweimal im Jahr nach Oświęcim, im Frühjahr und Herbst. Für polnische Wanderarbeiter gelten in Deutschland restriktive Maßnahmen wie die Rückkehrpflicht in der winterlichen Sperrfrist oder Karenzzeit (im Winter benötigt man keine landwirtschaftlichen Arbeiter). Wer dagegen verstößt, wird ausgewiesen, um eine dauerhafte Niederlassung zu verhindern—Ruthenen sind von dieser Regelung ausgenommen. Auch die Kohlegruben und die neu entstehenden Industriebetriebe im Ruhrgebiet locken billige Arbeitskräfte aus Galizien an, vorwiegend Polen. Die Wege der Arbeitswanderer kreuzen und überlappen sich mit jenen der Überseeauswanderer; die haben hier Anschluss an die preußische Staatsbahn, vom deutschen Grenzbahnhof Myslowitz/Mysłowice nach Hamburg beziehungsweise Bremen.

Die Bewohner von Oświęcim haben sich längst gewöhnt an die Auswanderer und Saisonarbeiter, sie strömen im Frühjahr und Herbst in ihre kleine Stadt, als folgten sie, Zugvögeln oder Lemmingen gleich, einem zwanghaften Naturgesetz. Die Emigranten sammeln sich in der zwei Kilometer vor der Stadt liegenden Gemeinde Brzezinka, zu deutsch Birkenau, wo sich der Bahnhof von Oświęcim befindet: ukrainische und polnische Bauern und Häusler, Gesinde großer Gutshöfe und Tagelöhner, slowakische Dörfler und Hirten, galizische und russische Juden, kleine Handwerker und Händler, unstete Existenzen ohne nennenswerten Beruf. Deserteure, Gauner, steckbrieflich gesuchte Personen—in Amerika sind sie vor dem Zugriff des Gesetzes sicher. Im Sommer und Winter lässt der Strom etwas nach, völlig versiegt er nie.

Oświęcim ist eine typische galizische Kleinstadt mit einem weitläufigen Ringplatz mit dem Rathaus, zahlreichen Läden und einem Hotel namens «Herz», benannt nach seinem Eigentümer, dem Leiter der Hamburger Auswanderungsagentur, einem halbverfallenen Schloss der Piasten, auf das die Bewohner der Stadt stolz sind, ein paar nebensächlichen Ämtern (die wichtige Bezirkshauptmannschaft befindet sich in der mehrheitlich von Deutschen bewohnten Stadt Biała), einigen Kirchen und einem Dutzend jüdischer Bethäuser. Die Große Synagoge liegt in der Nähe des Marktplatzes, am Ufer der Sola. Wirtschaftlich geht es Oświęcim besser als zahlreichen anderen Städten vergleichbarer Größe in Galizien.

Unter der österreichischen Verwaltung erlebt die galizische Wirtschaft einen dramatischen Niedergang: Was es an heimischen Betrieben gibt, wird von der Konkurrenz aus den wirtschaftlich höher entwickelten Gebieten Österreichs vom Markt verdrängt; eine verhängnisvolle Rolle spielt dabei die über Oświęcim führende Eisenbahnlinie von Wien nach Krakau. Sie bringt bessere und zugleich billigere Produkte ins Land, mit denen die galizischen Erzeugnisse nicht mithalten können. Nur von der Landwirtschaft abhängige Betriebe wie Spiritusbrennereien und Bierbrauereien können sich behaupten. In Oświęcim weiß man die Chance zu nützen, die Stadt entwickelt sich zu einem Zentrum der Branntwein- und Likörherstellung, bekannte Firmen wie Jakob Haberfeld und Henoch Henenberg beliefern mit ihren Produkten die gesamte Monarchie und das Ausland. Jakob Haberfeld, Dampffabrik feinster Liqueure, erzeugt ausgesuchte Wodkasorten, Wiśniówka, Pomarańczówka, mit Weichsel- und Orangengeschmack, sowie Rum und Cognac, daneben braut er Bier.

Das zweite wirtschaftliche Standbein der Stadt stellen die Auswanderer dar. Viele sind völlig mittellos, wie die russischen Juden, trotzdem lässt sich an den Auswanderern, noch an den ärmsten, verdienen. Kaufleute, Restaurateure und Hotelbesitzer, vor allem aber die Agenten von Schifffahrtslinien nützen die Konjunktur. In den späten achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts etablieren sich in Oświęcim Vertretungen der beiden großen deutschen Atlantiklinien, zuerst der Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt-Actien-Gesellschaft (Hapag), später auch des Bremer Norddeutschen Lloyd. Albert Ballin, der umtriebige, weitsichtige junge Direktor der Packetfahrt, erkennt als erster die Möglichkeiten der Kleinstadt: Hier müssen die Auswanderer auf dem Weg nach Hamburg durchgeschleust werden, hier muss man ihnen Schiffskarten für die Hapag verkaufen, damit sie gar nicht erst auf die Idee kommen, die Dienste der Konkurrenz in Bremen, des Norddeutschen Lloyd, in Anspruch zu nehmen. Die beiden Firmen liefern einander heftige Konkurrenzkämpfe. Die Agenturen wollen möglichst viele Emigranten nach Oświęcim locken und von hier zu den Überseehafen schaffen, während die preußischen Behörden umgekehrt versuchen, den Auswandererstrom nach Möglichkeit einzudämmen.

In Deutschland ist man besorgt, dass zahlreiche Auswanderer aus dem Osten, voran galizische und russische Juden, nicht nach Amerika gehen, sondern in den großen deutschen Städten wie Berlin oder Hamburg bleiben wollen, um sich als Straßenhändler, Hausierer oder Lumpensammler durchzuschlagen; auch herrscht die Befürchtung, mit den Ostjuden könnten ansteckende Krankheiten wie Typhus und Cholera eingeschleppt werden. Für die deutschen Schifffahrtslinien wiederum können gar nicht genug Auswanderer aus Osteuropa kommen.

Auch in Amerika regt sich zunehmend Widerstand gegen den ungehemmten Zustrom von Einwanderern. Immer öfter werden mittellose oder kranke Emigranten auf dem Schiff zurückgeschickt, mit dem sie gekommen sind. Die Rückkehrer stranden in den Ausgangshäfen und verursachen in der Folge für die deutschen Behörden Kosten und allerlei Ärger, weil sie außerstande (und auch gar nicht willens) sind, nach Hause zurückzukehren. Um dem vorzubeugen, verschärfen die preußischen Behörden die Einreisebestimmungen. Manche Auswanderer werden so von einem Land ins andere geschoben oder bereits an der Einreise gehindert. Unbemittelte Fremde sind überall gleichermaßen unwillkommen. Keiner will sie aufnehmen, keiner sich mit ihnen belasten. Am besten, man lässt sie gar nicht erst ins Land. Oft bleibt ihnen nichts anderes übrig, als heimlich über die Grenze zu gehen und in die Illegalität abzutauchen. Die jüdisch-russischen Flüchtlinge von 1881-82 können von Glück reden, dass Hilfsorganisationen für sie garantieren.

Im Dezember 1886 weist der galizische Statthalter in einem Rundschreiben an die Bezirkshauptmannschaften des Landes darauf hin, dass die preußischen Behörden von Auswanderern beim Grenzübertritt eine bestimmte Geldsumme verlangen: «In den letzten Tagen ist es immer wieder vorgekommen, dass die preußischen Grenzbehörden alle Emigranten zurückweisen, die nicht 800 Mark pro erwachsener Person und 400 Mark für Kinder bis zu zehn Jahren vorweisen können, von manchen hingegen verlangen sie nur, dass sie 200 Gulden vorzeigen können.»

Das gilt für russische Auswanderer ebenso wie für galizische. Was die russischen Emigranten angeht, so der Statthalter, bleiben viele von ihnen in Galizien und fallen der örtlichen Bevölkerung und den Behörden zur Last. Daher werden alle Organe angewiesen, russische Auswanderer, die nicht die nötigen Mittel für die Weiterreise besitzen, schon an der Grenze zurückzuschicken.

Die Maßnahmen der Behörden gegen die dżuma amerykańska, die amerikanische Pest, wie die Amerikaauswanderung bald genannt wird, bleiben jedoch halbherzig, die zentralen Institutionen erlassen Verordnungen, die auf lokaler Ebene nur zögernd, wenn überhaupt, umgesetzt werden. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die in Galizien weitverbreitete und tiefverwurzelte Korruption.

Um die Kontrollen an den größeren Bahnhöfen und Grenzen zu umgehen, vertrauen sich die Auswanderer Schleppern an, die sie auf Schleichwegen über die Grenze bringen und erst zwei oder drei Stationen hinter der Grenze wieder in den Zug setzen. Auch dann werden sie angewiesen, nicht gleich eine Fahrkarte nach Hamburg oder Bremen zu lösen, sondern in eine näher gelegene Industriestadt. Bei allfälligen Kontrollen sollen sie angeben, sie reisten dorthin, um Arbeit zu suchen. Wie soll ein einfacher preußischer Polizist einen Sachsengänger von einem Amerikagänger auseinanderhalten? Erst in jener Stadt dürfen sie die Fahrkarte bis nach Hamburg kaufen. Manchmal begleiten die Menschenschmuggler die Auswanderer ein paar Stationen weit und weisen im Fall einer Kontrolle die erforderliche Summe vor.

Immer wieder kommt es vor, dass leichtgläubige Auswanderer bereits in Krakau betrügerischen Schlepperbanden zum Opfer fallen. Berüchtigt sind die Kutscher von Podgórze, einem kleinen Ort in der Nähe von Krakau, in dem viele Amerikafahrer den Zug verlassen, um den strengen Kontrollen am Bahnhof der großen Stadt zu entgehen. Die Fiaker von Podgórze bieten den Auswanderern an, sie für zehn Gulden pro Person über die preußische Grenze zu bringen, dann stopfen sie acht bis zehn Personen in den Wagen, fahren in der Nacht bis Bierzanów, noch auf der österreichischen Seite, setzen die Leute auf offenem Feld aus, sagen ihnen, sie befänden sich bereits in Preußen, und überlassen sie ihrem Schicksal. Zehn Gulden sind ein kleines Vermögen. Die Überfahrt von Hamburg nach New York kostet etwas mehr als sechzig Gulden, das sind rund hundert deutsche Mark. So viel und mehr bekommt der Kutscher für eine einzige Menschenladung von Podgórze nach Bierzanów oder ein anderes grenznahes Dorf.

Viele der so getäuschten Emigranten werden von Gendarmeriepatrouillen aufgegriffen und per Schub, unter Eskorte, wieder nach Hause geschickt. Deserteure haben strenge Strafen zu erwarten. Anzeige erstatten die Betrogenen in der Regel nicht, auch wenn es ihnen gelingt, sich auf eigene Faust nach Preußen durchzuschlagen. Sie haben Angst vor den Behörden, obendrein haben ihnen die Schlepper eingeschärft, als illegalen Auswanderern drohten ihnen in Deutschland Gefängnis oder, schlimmer noch, Deportation.

Die galizische Landbevölkerung ist allen Vertretern der Staatsmacht gegenüber, vor allem wenn sie Uniform tragen, misstrauisch und ängstlich und geht ihnen mit gutem Grund aus dem Weg. Die kleinen Bauern und Landarbeiter werden in Galizien von der Obrigkeit gewöhnlich unglaublich brutal behandelt, nicht besser als das Vieh.

Auch findige Bewohner von Oświęcim nützen die Konjunktur. Sie fahren in Dörfer im Inneren des Landes und dienen sich dort Auswanderungswilligen als Führer über die Grenze an. Selbstverständlich lassen sie sich für ihre Ortskenntnisse fürstlich entlohnen.

In Oświęcim wimmelt es von zwielichtigen Existenzen, die mit solchen Geschäften ihren Lebensunterhalt verdienen. Neben der offiziellen Emigration entwickelt sich eine Schattenwirtschaft der Auswanderung, eine weitgehend rechtlose Grauzone, wobei die Grenzen zwischen den beiden Bereichen fließend sind: Offizielle Agenten fungieren gleichzeitig als Schlepper, illegale Subagenten treiben den offiziellen Agenturen mit unerlaubten Mitteln, nicht selten mit Gewalt, Kunden zu.


From: Martin Pollack, Kaiser von Amerika. Die große Flucht aus Galizien © Paul Zsolnay Verlag Wien 2010