— Leszek Kołakowski
“What would happen if you were just swept along like a leaf on the water? What would happen to you?”
— Rachel Cusk
Meine Geschichte mit dem Zufall muss wohl während der Taxifahrt zum Istanbuler Flughafen begonnen haben, als ich im Stau stecken blieb und so meinen Flug nach Hause verpasste. Der Fahrer schimpfte auf Griechisch, ich schwitzte. Vom Innenspiegel baumelte ein kleines, metallenes Kreuz mit zwei zusätzlichen Querbalken, der untere davon war schräg. Als mich der Taxifahrer unter vielen Entschuldigungen und Flüchen endlich am Flughafen abgesetzt hatte, war mir klar, dass ich den Flug längst verpasst hatte. Ich ließ mich neben ein paar Leuten nieder, deren Flüge wohl gestrichen worden waren und die sich darauf vorbereiteten, die Nacht am Flughafen zu verbringen. Am Handy konnte ich noch einen komplizierten Flug mit Übernachtung in Belgrad ergattern. Lieber das, als eine weitere Nacht in der Stadt verbringen zu müssen.
Beim Verlassen des Belgrader Flughafens begegnete mir ein kleiner Mann mit Bäuchlein und einem fettigen Zopf, dessen Alter schwer einzuschätzen war. Zögerlich ließ ich mich in ein Gespräch im Bus vom Flughafen verwickeln und ging schließlich mit ihm in einem upscale italienischen Restaurant im Stadtzentrum essen. Bei Wein und der Belgrader Imitation italienischer Küche erzählte er mir von einer App aus Island, mit der die Nutzer checken konnten, ob sie mit ihrem potentiellen Partner verwandt waren, oder zumindest, bevor sie daran gingen, miteinander Kinder zu zeugen. Ich meinte, gelesen zu haben, dass es etwas Ähnliches unter Haredim in New York auch gäbe. Er redete von Ethnostaaten und den Sex and Love Addicts Anonymous, und ging bald dazu über, mir von seinem Trip in die Ukraine zu berichten, der ihn in das Kriegsgebiet geführt habe, weil sein Onkel dort ein hochdekorierter Offizier sei. Wir gingen dann noch in ein Automatencasino trinken, weil alles andere bereits geschlossen hatte, und ich war mir nicht sicher, ob er versuchte, mit mir zu flirten. Als sich unsere Wege betrunken trennten, drängte er darauf, ihn auf Facebook zu adden, was ich nicht tat, auch nicht am folgenden Tag.
Zurück in Berlin musste ich mich der Realität meiner vor meiner Abreise begonnenen Affäre stellen. Noch am Abend meiner Rückkehr gingen wir im Dämmerlicht spazieren und es war schwül und ich sah sie mit ganz neuen Augen. Der Abstand hatte mir gut getan, ich konnte nun verstehen, dass das hier ernst war und ich vielleicht den Rest meines Lebens mit ihr verbringen wollte. Vermutlich spürte sie es auch, anders konnte ich mir nicht erklären, dass sie meine Hand fest und entschlossen drückte, trotz unserer Klebrigkeit, in genau dem Moment meiner Realisierung. Als ich am nächsten Morgen neben ihr aufwachte, beschlich mich ein heftiger Verdacht, den ich nicht zurückdrängen konnte. Noch während sie schlief, nahm ich Haarproben von ihr und mir und schickte sie am selben Tag zu zwei verschiedenen Laboren, um sicher zu gehen. Nach anderthalb Wochen kam das erste Ergebnis, aber ich wartete noch eine weitere halbe Woche, um beide Ergebnisse zusammen in Empfang zu nehmen. Ich hatte meine Geliebte während der Wartezeit nicht getroffen, ich konnte ihr nicht ins Gesicht schauen. Ich öffnete beide Internetseiten in zwei verschiedenen Browsern. Der Test, den ich in Opera geöffnet hatte, ergab, dass wir mit einer 99,998%igen Wahrscheinlichkeit nicht verwandt waren, der andere jedoch, in Safari, behauptete, wir seien Cousins dritten Grades. Ich war sprachlos, aber ließ mich von der Kraft der Wahrscheinlichkeit überzeugen, dass wir eine Zukunft hatten. Nur wenige Tage später machte ich ihr den Antrag.
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In seinem in Abendlicht getauchten Haus steht Joseph Kern, der pensionierte Richter, vornüber gebeugt vor seinem Fernseher, in dem von einer Schiffskatastrophe auf dem Ärmelkanal berichtet wird: Ein plötzliches Unwetter habe eine Fähre zum Kentern gebracht, von Hunderten hätten nur sieben Passagiere überlebt. Danach werden die Namen und Nationalitäten der einzelnen Überlebenden vom Sprecher genannt. Zunächst wird die Französin Julie Vignon gezeigt, die erschöpft an Fernsehreportern vorbei durch die Nacht geführt wird, die „Julie!“ rufen, kurz darauf der Pole Karol Karol auf einer Rettungstrage, der verwirrt in das Licht der Kamera blinzelt. Das Gesicht des alten Richters bleibt gespannt, aber unbewegt, als zwei Schweizer angekündigt werden: Es sind Auguste Bruner und Valentine Dussaut. Sie gehen durch die Menge der Helfer und Reporter, stehen dann ganz nah beieinander, gehüllt in graue Decken, die Gesichter feucht von Regen und Meerwasser. Sie sind dem Tod von der Schippe gesprungen.
Diese bekannte letzte Szene aus Krzysztof Kieślowskis „Drei Farben: Rot“ ist eine Zusammenführung. Julie Vignon ist die Hauptfigur des ersten Films der Trilogie („Blau“), Karol Karol die des zweiten („Weiß“). Die drei Filme durchdringen sich gegenseitig mit einem Netz aus wiederkehrenden Motiven, Symbolen und Cameo-Auftritten, auch wenn sie als jeweils eigenständige Arbeiten funktionieren. Dass sich die Hauptfiguren in der letzten Szene dieses letzten Filmes als Überlebende eines sinnlosen und tragischen Unfalls begegnen, ist mehr als nur Anschauungsmaterial für Kieślowskis Streben nach formaler Strenge und symbolischer Struktur. Es ist Paradebeispiel für etwas, das ich narrativen Zufall nennen möchte, und das in seinen Filmen immer wieder auftaucht, vielleicht sogar konstitutiver Motor für die „Drei Farben“-Trilogie ist. Und, um es klar zu sagen, ich meine damit die Erzählung des Zufalls, nicht zufällige Akte des Erzählens.
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Narrativer Zufall hat als Erzeuger von Effekt und Treiber von Plot einen großen Stellenwert im Kino, im Grunde, seitdem es Hollywood gibt. Ein Drehbuchautor namens Scott Myers verweist auf seinem Schreibratgeber-Blog etwa auf Casablanca („Of all the gin joints, in all the towns, in all the world, she walks into mine“). Und er gibt praktische Tipps an die Hand, wie mit Zufall im Drehbuch umzugehen sei:
- „You are only allowed one coincidence per script
- If you’re going to have a coincidence, might as well be a big one
- Avoid writer’s coincidence by making it a bad coincidence
- If you have a coincidence, have a character acknowledge it in dialogue“
In diesem Kontext gelten sichtbare Spuren der Gemachtheit, Geschriebenheit des Skripts als schlechtes Handwerk. Myers’ Tipps zeigen vor allem auf, wie narrativer Zufall als Effekt eingesetzt werden kann, ohne zu viel Aufsehen zu erregen, er versucht im Grunde also, fiktionalen Zufall zu renaturalisieren. Bemerkenswert ist, dass er meint, Schicksalhaftigkeit quantifizieren zu können: „One coincidence pretty much falls under the umbrella of Fate“, aber ab zwei Zufällen kann nicht mehr das Schicksal als Ursache unterstellt werden, da ist lediglich der fade Nachgeschmack von langen Nachmittagen im Writers’ Room.
Zufall als Werkzeug erzählerischer Kunst stößt schnell an seine Grenzen. Narrativer Zufall im emphatischen Sinne – wie ich mich ihm nähern möchte – meint diejenigen erzählerischen Situationen, in denen Zufall als erzählter Zufall offen hervortritt, als Selbstzweck. Damit kann narrativer Zufall auch dazu dienen, auf den Status der Erzählung als Produkt künstlerischer Tätigkeit zu verweisen. André Gides „Die Falschmünzer“ etwa, erschienen 1925, arbeitet extensiv mit Zufall, um die Effekthascherei und Illusionsästhetik des französischen Romans des 19. Jahrhunderts über sich selbst hinauszutreiben.
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Zwar sind die Auftritte der Figuren aus den anderen Filmen der Trilogie Kieślowskis bemerkenswert, doch „Rot“ läuft auf die oben beschrieben Szene als seinem Schlüsselmoment zu. Aufgrund eines Zufalls – Valentine fährt mit ihrem Auto den Hund des alten Richters an und bringt ihm das verletzte Tier – begegnen sie und Joseph sich. Joseph versucht den Hund an Valentine loszuwerden. Sie erwischt ihn beim Abhören der Telefongespräche seiner Nachbarn; sozusagen gegen ihren jeweiligen Willen, obwohl sie sich gegenseitig abstoßen, kommen sie einander näher.
Ihre Beziehung entsteht durch den Hund Rita als Vermittlungsinstanz, aber vor allem dadurch, dass sie Josephs obsessives Spionieren miteinander aushandeln. Valentine zeichnet sich durch moralische Anteilnahme und den daraus entstehenden Wunsch nach richtigem Handeln aus, während Joseph seine Desillusionierung und Indifferenz der Welt gegenüber zur Schau trägt. Es zeigt sich jedoch schnell, dass sein geheimes Schauen und Hören mehr ist als das, dass er sich wieder in die Rolle als Richter zurückwünscht, nur ohne formalisierte Vorgaben, sozusagen ohne Gesetzbuch. Zunächst scheinen sein Schauen und Hören alleine bereits den Lauf der Dinge um ihn herum unsichtbar zu verändern, aber insbesondere dann geraten die Dinge in Bewegung, als Valentine beginnt, sich als handelnde Agentin aktiv einzuschalten. Sie besteht darauf, das Überleben des Hundes zu sichern, sie droht einem vermeintlichen Heroinhändler per Telefon mit dem Tode, sie ist im Begriff, einer Nachbarsfrau das Fremdgehen ihres Ehemannes mitzuteilen (und stoppt sich dabei, weil sie merkt, dass es mehr Schaden als Nutzen bringen würde).
Je weiter sich Valentine und Joseph annähern, desto sichtbarer werden Josephs Eingriffe in die Handlungen seiner Mitmenschen, desto klarer wird, dass sein Spionieren weniger von Voyeurismus motiviert ist als von einem Wunsch nach einer humanen Art von Schöpfertum, das im Kontrast zu seiner ostentativen Misanthropie steht. Er prophezeit Valentine, dass Auguste, der Lover von Josephs Nachbarin, der – wie die Zuschauer wissen, aber nicht die Figur selbst – wiederum Valentines Nachbar ist, noch nicht die große Liebe gefunden hat. Als sie schon miteinander vertraut sind, erzählt Joseph Valentine von einem prophetischen Traum, in dem sie als 40- oder 50-Jährige auftaucht: Er erklärt ihr, dass er ganz sicher wüsste, dass sie einmal glücklich und geliebt sein würde. Diese Prophezeiungen, die fundamentale Wünsche in Valentine aufrufen und sich alleine schon durch die Selbstsicherheit, mit der sie von Joseph als ihrem Gegenüber vorgetragen werden, in der Realität Geltung verschaffen, sind ebenso Ausdruck von Josephs Wünschen für Valentine. Sein Traum ist weniger Prophezeiung als ein klassischer Wunschtraum, aber dass er ihr davon erzählt, ein quasi-schöpferischer Akt.
In der letzten Szene des Films bündeln sich nun diese verschiedenen Interventionen von Joseph. Weil er sich für seine Bespitzelung selbst anzeigt, lernt seine Nachbarin bei dem folgenden Gerichtsprozess einen neuen Mann kennen und lässt Auguste fallen. Auf Anraten von Joseph plant Valentine, die Fähre nach Großbritannien zu nehmen. Mit gebrochenem Herzen nimmt Auguste dieselbe Fähre, es wird angedeutet, dass Joseph dafür sorgt, dass er dies tut. Joseph hat sich aus seinem passiv-misanthropischen Zustand herausgearbeitet (oder wurde von Valentine aus ihm herausgeführt) und ist nun Schöpfer der Situation, in der sich die beiden Figuren kennenlernen müssen, die sich durch den gesamten Film hinweg immer wieder begegnen und von denen wir ahnen, dass sie füreinander bestimmt sind. Nun ist dieser Schöpfer auf der einen Seite selbst gleichsam dem Zufall unterworfen, wie das Kennenlernen von ihm und Valentine und ihr Bootsunglück während des Ungewitters anzeigt. Nachdem er geformt, arrangiert und manipuliert hat, schaut Joseph auf seinem flirrenden Fernseher dabei zu, wie die – seine? – Figuren in ihrem Schicksal aufgehen.
Auf der anderen Seite ist er der selbstreflexive Spiegel der Schöpfer dieser Trilogie selbst – und noch größer: Autoren erzählerischer Kunstwerke überhaupt. In der Figur Joseph Kerns zeigen sich der Filmemacher Kieślowski und sein Co-Autor Krzysztof Piesiewicz sozusagen bei der Arbeit. Sie sind diejenigen, die Situationen schaffen, die eigentlich gar nicht sein können, die ihre Figuren und Figurenschatten zufälligen Ereignissen, Begegnungen und Mustern unterziehen. Wie könnte Josephs Gesichtsausdruck also anders als gespannt, aber reglos sein, da er nun mit dem Ergebnis seiner sorgfältig eingefädelten Situation konfrontiert ist, die wiederum selbst sich ihm entziehenden Gesetzen unterworfen ist. Wie könnte sein – also Kieślowskis – Gesicht anders als gelöst sein, da er, wie er das im letzten Bild des Filmes tut (der wiederum aufgrund seines frühzeitigen Todes zu Kieślowskis letztem wurde, wodurch sich eine weitere Ebene des Rückbezugs von schöpferisch-narrativem Zufall und lebenswirklichem Schicksal zu öffnen scheint), uns Zuschauer direkt anblickt, während man im Hintergrund die Geräusche eines Flugzeuges oder Hubschraubers vernehmen kann und Joseph Kern eine Träne die Wange hinabläuft, wissend, dass er eine Art Erlösung, ein Happy End geschaffen hat.
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Walter Benjamin schreibt: „Gibt es denn im Schicksal eine Beziehung auf das Glück? Ist das Glück, so wie ohne Zweifel das Unglück, eine konstitutive Kategorie für das Schicksal? Das Glück ist es vielmehr, welches den Glücklichen aus der Verkettung der Schicksale und aus dem Netz des eignen herauslöst“. Damit verweist er auf den potenziell reaktionären Charakter des Schicksalsbegriffs, der sich in seiner ungeglaubtesten, abgegriffensten und kommodifiziertesten Erscheinungsform in der gegenwärtigen digitalen Renaissance von Astrologie und Spiritualität zeigt – so müde wie die Frage nach dem Sternzeichen auf einem Tinder-Date. Kein Zufall ist es, dass sich der Begriff des Schicksals mit dem der Gemeinschaft in der Schicksalsgemeinschaft verkettet, als einer, die die Glieder einer Gruppe, die objektiv sich widersprechende Interesse aufweisen, auf einen gemeinsamen Feind einschwört und keine Abweichung duldet.
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Als ich auf einer Bank bei der Iglesia de San Francisco de Asis saß, begannen ihre Glocken zu läuten und ältere Leute in Festtagsanzügen, einige Paare, die meisten allein, schritten langsam und würdevoll über den Platz zur Kirche. Es war mittags und vor dem Hintergrund eines klaren, blauen Himmels türmten sich einige imposante Wolken – sie erschienen mir wie Weisungen. Zurück in meinem Zimmer mit den abgerissen aussehenden gelben Wänden leerte ich meine Taschen, schaute meinen Rucksack und Koffer nach Hinweisen durch, die mir mit einem, diesem, Text helfen könnten. Ich fand:
- eine hölzerne Gebetskette mit einem kleinen Kreuz daran, wie sie von Orthodoxen verwendet wird, um das Jesus-Gebet aufzusagen, jede Perle eine Wiederholung
- ein leeres Case aus mattem schwarzem Plastik, das vermutlich zu einem iPhone 12 gehörte
- ein Beleg einer Drogeriekette in London, in der um 18:23 Uhr ein Meal Deal, bestehend aus einem Thunfisch-Mais-Sandwich, einem abgepackten Obstsalat und einem Iced Cappuccino aus der Dose, Gleitgel und zwei Packungen Melonenkaugummi gekauft worden waren
- einen Katalog einer Gentest-Agentur aus Prag, deren Slogan lautete: „Your DNA – Your History – Your Truth. We will find it!“
- den Ausdruck eines amateurhaft layouteten Blogeintrags aus dem Jahr 2010, der sich mit Roberto Bolaños Verhältnis zum Zufall befasste, zwei Zitate von Bolaño selbst mit Bleistift unterstrichen
- drei Pfund-Münzen, die mir aus der Hand rutschten und so auf dem Fliesenboden landeten, dass zwei Mal Kopf und ein Mal Zahl oben lagen
- einen Abschiedsbrief, eher eine Notiz, ein Zettel, auf dem stand: „Du weißt wahrscheinlich selbst, dass ich gehen muss… Du hast gutes Karma. Pass auf dich auf. Z.“
- meinen Reisepass, der aussah, als sei er mindestens drei Mal gewaschen worden
- eine Packung Mentholzigaretten, in der nur noch zwei Stück übrig waren, eine davon umgedreht
- eine Programmbroschüre eines großen Londoner Kinos, in der Werbung für ein Screening des gesamten Dekalogs von Kieślowski über ein Wochenende im April verteilt zu finden war
- ein schwarzes Stück Stoff, nicht größer als meine Handfläche
- ein grüner Spielchip mit kyrillischer Aufschrift
Nur manches davon kam mir bekannt vor.
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In der Erzählung ist der Akt der Schöpfung angelegt – es wird durch Autoren, deren Erzähler und Figuren aktiv erzählt. In „Rot“ findet das etwas verschachtelter und unzuverlässiger in der Figur Josephs statt. Dadurch werden Zufall und Schicksal miteinander eng geführt, ohne auf einen schuldhaften Zusammenhang zu verweisen, ohne das Glück von vornherein auszuschließen. Im narrativen Zufall gibt es keine Zufälle. Der narrative Zufall als klar erkennbar fabrizierte Situation ermöglicht es, eine Erfahrung zu erzählen, die sich der Rationalität entzieht oder gar auf ein mögliches Jenseits von Rationalität und Irrationalität verweist. Der narrative Zufall eröffnet es, die Frage nach Gott zu stellen, ohne sie beantworten oder auch nur explizit aussprechen zu müssen. Und auf der anderen Seite befreit er Künstler davon, Antworten auf die falschen Fragen liefern zu müssen, die aber unausweichlich gestellt werden.
Wie kann es sein, dass sich all die Figuren ausgerechnet auf dieser Fähre begegnen? Wie können ausgerechnet sie unter den Überlebenden sein? Wie kann es überhaupt sein, dass dieser Unfall ausgerechnet ihnen geschieht, sodass sie für uns Zuschauer in diesem letzten Moment sichtbar werden, sodass wir ins Staunen geraten? Es kann eben nicht sein. Oder doch? Die Frage ist falsch gestellt, da das erzählerische Jenseits von Rationalität und Irrationalität sich einer logischen oder irrationalistischen Schließung entzieht. Es ist nicht relevant, ob es (kosmische oder ganz alltägliche) Gründe dafür gibt, die eine solche unwahrscheinliche Häufung von Zufällen ermöglicht. Dass wir uns mit einem genuin erzählerischen Kunstwerk beschäftigen, befreit uns von der Last, restlos verstehen und auflösen zu müssen.
Als Übergangsraum – „Transitional Space“ – bezeichnet der britische Psychoanalytiker Donald Winnicott einen Raum zwischen Subjektivität und Objektivität, zwischen interner und externer Welt. Wenn sich ein Kleinkind im Prozess befindet, sich von seiner Mutter abzulösen und als separates Individuum zu konstituieren, erkundet es zunächst diesen Raum. Hier findet vor allem das Spielen statt, dessen Objekte für das Kind weder ganz der Außenwelt angehören noch reine Einbildung sind. Ein einfaches Stück Holz kann die lebhaftesten Bedeutungen im Spiel des Kindes annehmen, ohne seine Eigenschaften als Holzstück ganz aufzugeben. Deswegen wissen Erwachsene meist intuitiv, dass es ganz sinnlos wäre, das Kind im Spiel zu fragen, was daran wirklich, was echt oder bloß ausgedacht ist. Die Frage würde im besten Falle ignoriert werden und im schlechtesten das Spiel und vorübergehend vielleicht sogar den Transitional Space zerstören. Laut Winnicott finden genau in diesem psychischen Raum, den er auch Dritten Raum nennt, kulturelle und religiöse Erfahrung statt.
I'mFalle von „Rot“ ist es also ein Übergangsraum im Übergangsraum – Schicksalserfahrung, eingewoben in die Erzählung; ein Spiel im Spiel – der uns begegnet. Die Frage der Realität ist suspendiert, aber die Frage des Realismus ist es nicht. Ich würde sogar behaupten, dass narrativer Zufall nur im Kontext im weitesten Sinne realistischen Erzählens funktionieren kann, da der Zufall als unerhörte Begebenheit nur in der Spannung zum (oder als Verstoß gegen den) ansonsten behaupteten Realismus hervortritt. Das ist vermutlich, was ein Begriff wie magischer Realismus einmal meinte, bevor er zum Catch-All für lateinamerikanische Literatur gemacht wurde: Magisches ist explizit und selbstverständlich in einem solchen Erzählen präsent, das gleichzeitig Wirklichkeitsnähe behauptet. Im narrativen Zufall hält das Jenseitige auf eine Art Einzug in die erzählerische Wirklichkeit, die nicht auf logische oder spirituelle Schließung drängt.
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“Der Zufall (…) ist die totale Freiheit, der wir aufgrund unserer eigenen Natur zustreben. Der Zufall gehorcht keinen Gesetzen, und wenn doch, so kennen wir sie nicht. Der Zufall (…) ist wie der in jeder Sekunde auf unserem Planeten sich manifestierende Gott. Ein unbegreiflicher Gott, der seinen unbegreiflichen Geschöpfen unbegreifliche Fingerzeige gibt. In diesem Orkan, in dieser knöchernen Implosion vollzieht sich die Kommunion. Die Kommunion des Zufalls mit den Spuren des Gottes und die Kommunion seiner Spuren mit uns.”
—Roberto Bolaño
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Drei Jahre später begegnete ich dem Fremden aus Belgrad auf der anderen Seite der Erde wieder. Vielreisende behaupten, dass diese Art von Dingen oft passiert, aber ich bin mir da nicht ganz so sicher. Ich traf ihn in einer Hotellobby in Porto Alegre im Süden von Brasilien. Er war Brasilianer und arbeitete, wie sich herausstellte, in der Stadt als Bundesrichter. Als wir uns erkannten, warf er mir zuerst vor, ihn nicht geaddet zu haben. Ich war erleichtert, das erste Mal seit langem wieder ein bekanntes Gesicht zu sehen, und umarmte ihn. Es war schon einige Monate her, dass ich verlassen worden war, und es fiel mir zunächst schwer, ein zusammenhängendes Gespräch aufrechtzuerhalten.
In den darauffolgenden Tagen fuhr er mich mit dem Auto durch die Stadt, die Klimaanlage voll aufgedreht, damit wir im Kühlen seine Mentholzigaretten rauchen konnten, und er brachte mich zu einer Augenklinik, da meine Kontaktlinsen verschwunden waren. Ich war ihm sehr dankbar und fügte ihn auf Facebook hinzu. Er schien nie wirklich arbeiten zu müssen und zeigte mir auch nicht seine Wohnung, weswegen er mir wie eine Erscheinung vorkam, wie eine verzerrte Ausgeburt meiner Vorstellung. Ich lernte seine Freundesgruppe und vor allem seinen Boyfriend kennen, der ein tunesischer Ingenieur in seinen Mittzwanzigern war. Wir gingen in ein libanesisches Restaurant essen und der Boyfriend erzählte davon, dass er ein halbes Jahr in Berlin verbracht hatte – seine Wohnung befand sich in der selben Straße in Charlottenburg wie meine – und dass es ihn manchmal selbst überraschte, wie es ihn ausgerechnet in den deutschesten Teil von Brasilien verschlagen hatte. Mein Fremder schmunzelte – ihn schien das weniger zu überraschen.
Da ich kurz darauf entschied, abzureisen, brachte mich der Fremde zum Flughafen. Als wir auf einen Autobahnzubringer auffuhren, sah ich eine junge Frau auf dem Bürgersteig stehen, die in unsere Richtung schaute. Sie hatte einen Arm in die Seite gestützt und eine Tasche neben sich stehen. Sie kam mir sehr bekannt vor. War das etwa…? Nein, ganz unmöglich. Oder doch? Ich schüttelte mich. Ich öffnete das Fenster, lehnte mich hinaus und beobachtete, wie wir uns schnell voneinander entfernten, bis sie nur noch ein Schemen in der Ferne war.