Auszug aus dem Roman Der einzige Ort
Thomas Stangl
Störe nicht die Geister in ihrer ewigen Ruhe, warnen die Griots (das Bild eines schlanken alten Mannes in einer weißen Toba, mit weißer Schädelkappe auf dem kahlen Kopf und fein zurechtgestutztem weißem Kinnbart; eine isolierte Figur: da ist kein Dorf, da ist keine Schar von Zuhörern, kein Boden unter seinen Füßen), ihre Warnung ist Teil des Erzählens oder Singens, sein Anfang oder Ende, doch die Quelle und der Gegenstand des Gesangs (ein Fluß mit Klippen, Strömungen, Engstellen und Untiefen, doch unveränderlichem Lauf) ist Soundjata Keita, der erste König von Mandingo, der Mann mit den zwei Namen, der siebte und letzte Eroberer, der Niani zur größten Stadt der Erde gemacht hat. Der Djeli Mamadou Kouyaté überläßt einem Autor die Geschichte: sobald sie verraten ist, kann sie die Sprache, die Gestalt wechseln, zerschnitten und neu zusammengesetzt werden, auf dem Papier ruhen oder (fast) verloren gehen, in der Fremde unverständlich werden; er sagt, die Griots haben gelernt und geschworen, zu vermitteln, was zu vermitteln ist, und zu verschweigen, was zu verschweigen ist; sie sind Brunnen der Wörter und nur durch sie und in ihnen lebten die Geschichten von Soundjata und von den vielen Mansas, die nach ihm in Mandingo geherrscht haben, fort, neue Städte, heißt es (ein Lächeln, aus dem wir nichts herauslesen, ein Mund, der sich nicht öffnet), entstanden und verschwanden: der Auserwählte Gottes Hadj Mansa Mussa ließ in Mekka Häuser für die Pilger von Mandingo errichten, doch die Städte, die er gründete, gibt es alle nicht mehr: Karanina, Djèdjèfé, Bourunkuna, jeder hat die Namen von seinen Lehrern gehört und an seine Schüler weitergegeben, heute (stumme Blicke, eine notwendige Feindseligkeit) stehen sie in den Büchern. Geh nicht in die toten Städte, die Vergangenheit zu befragen, denn die Geister verzeihen nie, sagt Mamadou Kouyaté: vergebliche Wiederholung einer Warnung, die Generationen von Griots vor ihm ausgesprochen haben, ein Rhythmus, der sich aus Wiederholungen speist, als könnte man in jedem Satz die ganze Reihe von Sprechern mithören, die, an den Palaverbaum am Hauptplatz gelehnt, ihren festen Platz (sie sind Belen Tigui: Meister des Wortes, Meister des Baumes) lehrten, sangen und dem Balaphon, wir zitieren eine andere Stimme, sanfte und wilde Töne entlockten, the soft and wild tunes of the ballyphone. Gesichtszüge, die ineinander übergehen, immer fast die gleichen Gewänder und Gesten, winzige Variationen anstelle einer Abfolge, dies wäre, endlos, in einer einzigen Bildschleife, für sie die Zeit, dies wäre ihre Zeit gewesen.
Wenn das Geschriebene auch auf den ersten Blick wie ein fast zufälliger Schnitt durch die Vorgänge des Denkens, Erlebens, Erinnerns, Erzählens erscheint: nur von hier aus wird Denken, Erleben, Erinnern, Erzählen möglich sein. Beklemmung und Freiheit sind fast eins, die Augen geschlossen, auf den Leinwänden der Lider zeichnen sich Lichtflächen ab, Farben entstehen, klarer und reiner als man sie wirklichen Gegenständen zutrauen würde, Verbindungen, die zugleich ungreifbar und offenkundig sind. Jeder Ort muß einem bekannt vorkommen, gerade weil man ihn in seinem Geheimnis entdeckt; jede Bewegung muß erscheinen wie ein Zurückgleiten, ins Innere des Gegenstands. Als gäbe es einen erinnerten Raum, der über Tode, Übersetzungen und Interpretationen hinweg unzerstört geblieben ist, in den man schlafwandlerisch immer wieder eintreten kann; nur in einem selbst wäre immer etwas da, das den Ort von einem entfernt hält, die Verletzung, der Schnitt. Ein Mann namens Joseph Cartaphilus folgt in einer Erzählung von Borges Gerüchten, die von einem Fluß sprechen, dessen Wasser Unsterblichkeit gibt, und von einer Stadt der Unsterblichen, reich an Bollwerken, Amphitheatern und Tempeln. Sein Weg führt ihn, vom Nil (dem Aegyptos) an westwärts, in ein klar eingrenzbares Gebiet, das aber hinter den Wüsten versteckt, wie von einer Faltung der Landkarten verborgen ist. Daß diese barbarischen Weltgegenden, wo die Erde Ungeheuer gebiert, in ihrem Schoß eine berühmte Stadt bergen soll, schreibt er (Cartaphilus, Borges), erschien uns allen unbegreiflich. Er irrt durch die schwarze Wüste; nahe am Verdursten (an einem einzigen ungeheuren Tag, den Sonne, Durst und Furcht vor dem Durst vervielfachten) sieht er, am anderen Ufer eines trüben, von Abfällen und Sand stockenden Flusses, die Pyramiden und Türme der Stadt auf einem schwarzen Tafelberg; er träumt von einem winzigen glänzenden Labyrinth. Borges’ Erzählung handelt vom vollkommenen Gewinn und vom vollkommenen Verlust (denn es geht ihr noch die Person des Erzählers verloren), läßt aber, wenn das Ende naht, Wörter bleiben.
Herodot berichtet im zweiten Buch seiner Historien von einer Gruppe von jungen Abenteurern aus der Gegend von Syrtis, den Söhnen von Nasamonierfürsten, die sich bei einer Expedition, anscheinend einer Art von Initiationsreise, weiter als jeder andere zuvor von ihrer Heimat entfernen; sie durchqueren die Gebiete von Libyen, wo nur mehr wilde Tiere hausen, und die endlosen Sandwüsten und kommen, als sie in einer Oase Früchte von einem Baum pflücken wollen, in die Gefangenschaft eines Volkes von kleinen Menschen mit dunkler Haut. Diese Menschen sind Magier; sie bringen ihre Gefangenen über Sumpfgebiete hinweg in ihre Stadt, die von Osten nach Westen von einem großen Fluß voller Krokodile durchquert wird. Szenen mit Fragen, die ohne Antwort bleiben, mit vergeblichen Versuchen der Verständigung, mit Anklagen oder Erklärungen müssen folgen; die Stadt mit dem Fluß ohne Namen (dem Fluß, der Namen wie Orte wechseln wird) erscheint den Gefangenen (an diese Angst halten wir uns) wie eine Region ohne Sprache, eine Region, wo man die Sprache verliert; die Verstrickung in Übersetzungen, Mißverständnisse und die Ängste, den Stolz und die Einsamkeit des Unübersetzbaren scheint aber nicht ausweglos gewesen zu sein. Herodot, der die Geschichte von einigen Leuten aus Kyrene gehört hat, die sie vom König der Ammonier gehört haben, der einmal von Nasamoniern besucht wurde, sagt nichts darüber, wie die jungen Männer wieder in ihre Heimat zurückkommen; ob sie aus Gutmütigkeit oder Desinteresse oder durch eine Art von Vertrag (und wechselseitigen Betrug) freigelassen werden, ob sie durch Gewalt oder List entkommen, in einer Flucht, deren Abenteuer nicht erzählt sind und niemals erzählt werden. Je näher man den Rändern der Welt kommt, desto wilder verwachsen im Raum der Beschreibung die Landschaft und ihre Bewohner. Südlich von den Nasamoniern leben in der Gegend voll von wilden Tieren (Strauße, die unter der Erde leben, kleine einhörnige Schlangen) die Garamanten, die jeden Kontakt mit Menschen vermeiden, keine Kriegswaffen besitzen und sich nicht zu verteidigen wissen; sie besiedeln einen Hügel aus Salz, über das sie eine dünne Schicht Erde breiten, um Getreide anbauen zu können; die Hörner ihrer Rinder sind nach unten gebogen, und sie müssen beim Grasen rückwärts gehen, um nicht im Boden steckenzubleiben. Auf ägyptischen Bildern sind allerdings nicht Bauern und Viehzüchter, sondern Krieger und Feldherren der Garamanten dargestellt: die Umrisse von großen und schlanken Männern mit geflochtenem Haar und tätowierten Armen an der steinernen Mauer eines Königsgrabes, kniend oder stehend, im perlenbesetzten Lendenschurz mit über der Brust gekreuzten längsgestreiften Gürteln oder in offene, vielfältig gemusterte Mäntel gekleidet, alle tragen sie am Kinn spitze Bärte; das lange Haar ist mit Federn geschmückt, in ihren Händen halten sie Schwerter, Äxte oder Bögen. Die friedlichen und schutzlosen Garamanten gehen, wie Herodot bald selbst sagt (es ist die erste in einer langen Reihe von Umkehrungen), in Streitwägen, die von vier Rössern gezogen werden, auf Jagd nach den äthiopischen Höhlenmenschen, den Troglodyten, die anstatt zu sprechen schrille Schreie ausstoßen wie Fledermäuse; fast wie Fledermäuse, jedoch flach auf der Erde, schwirren sie auch herum, sie sind geschwinder zu Fuß als alle anderen Menschen, von denen man je gehört hat. Sie ernähren sich von Schlangen und Eidechsen; man kann sich vorstellen, wie sie, fast nur Schatten, ihnen in die Ritzen im Boden und die winzigen Felsnischen folgen. Soldaten (Jäger, Sportler) aus dem Norden, beinahe Europäer, Mischwesen aus Mensch, Tier und Maschine trachten ihnen nach dem Leben: wir stellen uns vor, die Troglodyten sind immer nackt und wie enthäutet, schlafen schutzlos wie Mäusekinder, mit rasch und flüchtig schlagenden Herzen, auf dem Boden, in den Höhlen, die sie gemeinsam mit den Reptilien, mit großen, zarten Insekten mit durchscheinenden Flügeln und mit ihren Fledermausbrüdern bewohnen. In Heliodors Aethiopischen Geschichten, einem Abenteuerroman aus dem vierten Jahrhundert, in dem er (ein hellenischer Bischof, der über heidnische Barbaren spricht) mit genrebegründender Verlogenheit die Fährnisse keuscher und überirdisch schöner Liebender schildert, die andauernd in Gefangenschaft geraten, getrennt und wieder verbunden, mit dem Tode oder (schlimmer noch) der Verheiratung mit Fremden, Ungläubigen bedroht werden, tauchen die Troglodyten während einer langwierigen Schlachtbeschreibung kurz als nackte, bloßfüßige und kaum bewaffnete Krieger wieder auf, deren höchste Kunst im Ausweichen besteht; sobald sie eine Überlegenheit des Feindes bemerken, verkriechen sie sich in enge Löcher und verborgene Felsspalten. Sie laufen so schnell, daß sie Reiter und Streitwägen überholen können; das Kämpfen und Sterben ist für sie ein Spiel. An ihrem Kopf tragen sie einen Kranz von Pfeilen, die aus dem Rückenknochen von Drachen gefertigt sind, sie springen, während sie einen Pfeil nach dem anderen abschießen, übermütig wie Satyrn umher, mit einer Schwerelosigkeit, die ihren plumpen Feinden provokant und gespenstisch erscheint. Die Nacktheit gibt und nimmt ihnen den Körper.
Auf seinem Weg in die geheimnisvolle Stadt durchquert Joseph Cartaphilus die Länder der Troglodyten und der Garamanten, dann, zehn Tagesreisen weiter westlich, erreicht er (wenn wir uns nicht täuschen) den Salzhügel, auf dem die Ataranten wohnen, die einzigen Menschen ohne Namen; sie erwarten den Tod und verfluchen die Sonne, weil sie ihr Land und alles Lebendige mit ihrer Glut vernichtet; nochmals zehn Tagesreisen weiter westlich würde er das Atlasgebirge vor sich sehen, schmal und kreisförmig wie eine Säule zum Himmel erhoben, sich in den Wolken verlierend; seine Bewohner, die Atlanten (sie scheinen schon den Grenzen der Pflanzenwelt nahegerückt), essen keine Lebewesen und träumen nicht; das erscheint uns nahe am äußersten Traum. Die Stadt der Unsterblichen selbst ist nur durch einen Brunnen und ein unterirdisches Gelaß mit neun Türen (von denen sich nur eine zum Weg durch das Labyrinth öffnet) zu erreichen, sie ist menschenleer; ihre verwirrende, allen Zwecken entgegengesetzte Architektur löst in Cartaphilus, solange er noch sterblich ist, eine tiefe Verzweiflung aus. Stumme und stumpfe, grauhäutige, nackte Männer leben in den Höhlen vor der Stadt; Cartaphilus glaubt, in ihnen die Troglodyten wiederzufinden, später merkt er, daß diese halbtierischen, scheinbar degenerierten Wesen die ermüdeten und – zwischen den Spiegeln gefangen – in ihr gleichgültiges Denken verlorenen Unsterblichen sind, die vor Jahrhunderten ihre Stadt verlassen, zerstört und als Parodie wiederaufgebaut haben.
Ein gewisser Cornelius Balbus aus Gadés in Spanien wird zur Zeit des Augustus für seine Feldzüge gegen die Städte der Garamanten als erster Zugewanderter mit einem Triumphzug geehrt. Er hat Talgae jenseits der schwarzen Berge von Phazania erobert, Debris – wo einer Quelle durch ein Wunder zwölf Stunden am Tag heißes und zwölf Stunden am Tag kaltes Wasser entspringt – und die berühmte Hauptstadt Garama, die Städte Cyramus, Baracum, Buluba, Alasit, Galia, Balla, Maxalla und Zigama, Plinius, der diese Geschichte überliefert, zählt fünfundzwanzig Orte auf. Ein Fluß namens Dasibari, den er erwähnt, wird von manchen für den Djoliba, den Niger gehalten; Balbus hätte dann, in einer schwer vorstellbaren Anstrengung, als Anführer einer Armee, von der Unzählige in der Wüste zugrundegegangen sein müssen, Eroberungszüge späterer Jahrtausende vorweggenommen, ohne eine Spur in den durchquerten Landschaften zu hinterlassen, ohne sie in den Karten des Weltreichs, dem er dient, einschreiben zu können. Nur durch Zufall hätte er mit einigen seiner Weggefährten überlebt und seinen sinnlosen Triumph für einen kurzen Moment in seiner Hauptstadt als gefeierter Held ausleben dürfen, bevor er binnen kurzem wieder in Vergessenheit gerät. Auf der wachen Seite der Geschichte sind die Ziele der Römer und die Dienste, die der ausländische Heerführer ihnen leistet, einfacher zu bestimmen. Plinius schreibt von einem Berg namens Gyri, wo wertvolle Steine – Karfunkel oder Lapislazuli – gewonnen werden; man weiß heute, daß die Troglodyten, schnell gewinnen sie menschliche Gestalt, diese Halbedelsteine abgebaut haben und daß die Kriegszüge der Garamanten im Lauf der Zeit in Handelsbeziehungen übergegangen sind; sie kaufen den Troglodyten die Steine für Kaurimuscheln ab, wie sie in den Ruinen ihrer Städte zu finden sind und wie sie, mit rasch wechselndem Wert, bis zur Zeit der späteren Eroberer und Kolonialisten in einem weiten Gebiet vom Westen Afrikas bis nach Indien verwendet werden. Man weiß auch, daß die Häuser der Garamanten so wie später die Häuser in den Dörfern und Städten der Sahara und südlich der Sahara aus Lehm errichtet sind und zumeist nur aus einem einzigen fensterlosen Raum bestehen, der von Menschen, Ziegen, Rindern, Schweinen, Schafen und Hunden gemeinsam bewohnt wird. Die Garamanten lieben, so scheint es, ihre Hunde und können ihnen vertrauen; in einem Abschnitt seiner Naturgeschichte, der von den Haustieren handelt, erwähnt Plinius einen namenlosen Garamantenkönig, den seine zweihundert Hunde aus dem Exil heimholen: ein zielgerichteter Marsch der Tiere, die stumm und abgemagert, doch mit gebleckten Zähnen und triefenden Lefzen über hunderte Meilen durch die Wüste jagen und allein durch ihren Anblick jeden vertreiben, der sich ihnen in den Weg stellen will; ein Schutz, der in der wachen Welt wenig wirksam erscheint. Man erahnt, wie es den von den Römern gefangenen und (neben den wertvolleren Steinen) als Sklaven oder als Schaustücke mitgebrachten Garamanten ergangen ist. Ein Fußbodenmosaik, das in Leptis Magna an der libyschen Küste freigelegt wurde, zeigt einen stehenden, an eine Stange gefesselten Barbaren, den viele als einen Garamanten identifizieren: es ist ein Wilder wie aus dem Bilderbuch, ein fast nackter Mann mit tiefliegenden Augen, krummer Nase, krausem Haar und struppigem Bart, zwei Raubtiere sind gerade dabei, ihn zu zerfleischen.
Die erzählerischen Gesetzmäßigkeiten, denen Reisen ans Ende der Welt folgen müssen, sind vielleicht Rückstände halb vergessener magischer Rituale, und jede der Reisen stellt die Wiederholung und Variation früherer Reisen dar; das Wirkliche folgt nur (bis zur Ermüdung) durch die Geschichte hindurch diesen Gesetzen. Der Reisende hat Mühen, Verzögerungen und Todesgefahren zu überwinden, eine Abfolge von öden Wegstrecken wie Schichten von Leere; er hat Verletzungen, eine Art von Zerstückelung zu überstehen, einen äußersten Verlust, dem ein zweifelhafter Gewinn gegenübersteht; er muß, um etwas zu entdecken, zerstören, was er entdecken will, oder seinen eigenen Wunsch zerstören, etwas zu entdecken: ein Feld von Möglichkeiten zwischen dem Realen und dem Imaginären, zwischen dem Mord, der Entzauberung und Enttäuschung und der Selbstauslöschung. Das Fremde und der eigene Traum von der Fremdheit (das Gleichgewicht zwischen dem Eigenen und Fremden) stehen auf dem Spiel, die Namen drohen sich von geheimnisvollen Chiffren in bloße Bezeichnungen zu verwandeln. Der Staatsdichter Vergil schmeichelt seinem Kaiser, er würde die Herrschaft Roms bis zu den Indiern und den Garamanten ausdehnen, bis hin zu den äußersten erreichbaren, fast schon jenseitigen Punkten der Erde; ist man erst einmal angekommen, so hat man bloß wirkliche Menschen vor sich, die man töten kann; man hat bloß das Netz von wirklichen Wegen ausgedehnt. Vor der römischen Eroberung war es unmöglich, Straßen ins Land der Garamanten offenzuhalten, weil nur diesen (Plinius redet als guter Propagandist von Räuberbanden) die unter einer Sandschicht versteckten Orte der Wasserstellen bekannt waren; sie selbst konnten das Wasser leicht wieder freilegen, doch jeder Eindringling wäre rettungslos verdurstet. Einige Zeit nach dem Krieg wird das Eintreffen einer garamantischen Handelsdelegation in Rom vermeldet; das Aufsehen, das die fast unbekleideten, tätowierten und bemalten Botschafter mit ihren schwarzen, von Butter glänzenden Haarzöpfchen erregen (die Mädchen lieben sie), ist rasch verflogen; in den nächsten Jahrhunderten herrschen vielfältige und für beide Seiten fruchtbare Handelsbeziehungen zwischen der Peripherie des Imperiums und seinem Zentrum, ohne daß man sich hier wie dort für die anderen im mindesten interessierte.
Einige der Straßen werden in Karawanenwegen bis heute überlebt haben und in den letzten Jahrzehnten in Asphaltbänder umgewandelt worden sein (wenige Autos fahren; stundenlang unterwegs durch eine Landschaft, in der sich nichts bewegt als unmerklich langsam die Sonne am Himmel; alleine sein mit dem Tageslicht, bevor am Horizont die Berge auftauchen; manchmal überdeckt eine dünne Schicht von verwehtem Sand den Asphalt). Was den Reisenden (Touristen oder Archäologen) im Fezzan in der Nähe des Dorfes Germa, früher eine berühmte Hauptstadt, auffällt, sind vor allem die ausgedehnten Gräberfelder; Gräber in verschiedenen Formen, verwitterte Steinmonumente auf den kahlen Ebenen oder dunkle Vogelnester an den Berghängen, man hat die Zahl dieser Grabstellen auf fünfzigtausend geschätzt: da sind kleine Pyramiden und Stufenpyramiden nach ägyptischem oder hellenistischem Vorbild, da sind spitz zulaufende Türme aus großen Steinblöcken, als wäre eine christliche Kirche bis übers Dach im Wüstenboden versunken, da sind an den Hängen der Berge Steinkränze rund um die Orte, an denen Tote, so scheint es, zum bewachten Schlaf gebettet wurden. Das Skelett (zumindest eines ist verblieben und nicht von Grabräubern geschändet oder von gefräßigen Tieren abgenagt und verschleppt, stattdessen ins Museum und ins Innere eines wiederaufgebauten Grabmals verbracht worden) liegt mit angezogenen Knien, in der Haltung eines Embryos, in der Mitte des Kreises; an den niederen Mauern, wie für ein Tiergehege, lehnen die Amphoren, in denen berauschende Getränke dem Toten fürs Leben im Jenseits bereitgestellt wurden; außerhalb dieser Mauern schützt, größer als ein Mensch, eine Stele in Form einer vierfingrigen, daumenlosen Hand den Ort und seinen dauerhaften Bewohner. In diese Hand sind einige Zeichen in einer Schrift namens Tifinagh eingraviert, die manche Tuaregs noch zu entziffern und zu deuten wissen.
Nach der Zerstörung kann man das Bild zurückkehren lassen, in bequemer Distanz, jenseits der Grenze, von der die offene Hand mit ihrem Haltesignal einen abweist. Haut, die sich über dem Rund der Augäpfel spannt; hinter den Namen, den Legenden, dem Bildungsschrott sichtbar die Gespenster jener Höhlenmenschen, die unter Zeitschichten vergraben sind, ohne Halt, ohne Fesseln und ohne Aussicht, wie es die Art von Gespenstern ist. In der Phantasie des deutschen Afrikanisten, Hochstaplers, Liebhabers und Irren Leo Frobenius tauchen die Garamanten nach Jahrhunderten aus dem Dunkel wieder auf, nach Westafrika gewandert, wohin sie, Reiche gründend, ihre Kultur verpflanzen und dafür sorgen, daß nichts von dem den Europäern Lesbaren und, wie sie glauben, Geerbten ganz aus der Wirklichkeit verschwunden ist. Vielleicht folgen wir auf etwas weniger direkte Weise einem ähnlichen Ziel wie jener deutsche Professor, weniger gläubig als er, bescheidener in der Welt der Buchstaben verbleibend. Doch es gibt den Moment, wo sich die Sätze verschließen; alle Analogien werden unmöglich, weil man vergeblich nach Zusammenhängen forscht und die Hände ins Leere greifen; der Boden unter den Füßen ist eins, das andere sind die Sätze, die zwischen Schreibenden und Lesenden weitergereicht werden, die Lettern auf dem Papier und im Stein. Eine plötzliche letzte Verbindung dann, ein letzter Gedanke in seinem abgetrennten Kopf (er, die Person, die endlich auftaucht, sich aus der Leere heraustastet, unbestimmt und immer in der falschen Zeit, die sich auf den Weg macht und schon am Ende ihres Weges ist), der Ort steht fest, sonst kaum etwas, es muß ein Gedanke, ein Satz sein, der an diese Grenze paßt, zu einer Geschichte gehört, die sich an der Grenze zwischen dem Wirklichen und der Täuschung, zwischen dem Eigenen und dem Fremden formen soll; ein verschwindender Satz: Bestimmungen entstehen und verschwinden hier. Eine hoffnungslose, aufs niemals Erlebte gerichtete Bemühung hält das Spiel in Gang; eine versuchte Annäherung, die nie gelingt, weil sich die Sehnsucht immer nur in sich selbst dreht und wuchert, fast ohne Träger.
Wenn das Geschriebene auch auf den ersten Blick wie ein fast zufälliger Schnitt durch die Vorgänge des Denkens, Erlebens, Erinnerns, Erzählens erscheint: nur von hier aus wird Denken, Erleben, Erinnern, Erzählen möglich sein. Beklemmung und Freiheit sind fast eins, die Augen geschlossen, auf den Leinwänden der Lider zeichnen sich Lichtflächen ab, Farben entstehen, klarer und reiner als man sie wirklichen Gegenständen zutrauen würde, Verbindungen, die zugleich ungreifbar und offenkundig sind. Jeder Ort muß einem bekannt vorkommen, gerade weil man ihn in seinem Geheimnis entdeckt; jede Bewegung muß erscheinen wie ein Zurückgleiten, ins Innere des Gegenstands. Als gäbe es einen erinnerten Raum, der über Tode, Übersetzungen und Interpretationen hinweg unzerstört geblieben ist, in den man schlafwandlerisch immer wieder eintreten kann; nur in einem selbst wäre immer etwas da, das den Ort von einem entfernt hält, die Verletzung, der Schnitt. Ein Mann namens Joseph Cartaphilus folgt in einer Erzählung von Borges Gerüchten, die von einem Fluß sprechen, dessen Wasser Unsterblichkeit gibt, und von einer Stadt der Unsterblichen, reich an Bollwerken, Amphitheatern und Tempeln. Sein Weg führt ihn, vom Nil (dem Aegyptos) an westwärts, in ein klar eingrenzbares Gebiet, das aber hinter den Wüsten versteckt, wie von einer Faltung der Landkarten verborgen ist. Daß diese barbarischen Weltgegenden, wo die Erde Ungeheuer gebiert, in ihrem Schoß eine berühmte Stadt bergen soll, schreibt er (Cartaphilus, Borges), erschien uns allen unbegreiflich. Er irrt durch die schwarze Wüste; nahe am Verdursten (an einem einzigen ungeheuren Tag, den Sonne, Durst und Furcht vor dem Durst vervielfachten) sieht er, am anderen Ufer eines trüben, von Abfällen und Sand stockenden Flusses, die Pyramiden und Türme der Stadt auf einem schwarzen Tafelberg; er träumt von einem winzigen glänzenden Labyrinth. Borges’ Erzählung handelt vom vollkommenen Gewinn und vom vollkommenen Verlust (denn es geht ihr noch die Person des Erzählers verloren), läßt aber, wenn das Ende naht, Wörter bleiben.
Herodot berichtet im zweiten Buch seiner Historien von einer Gruppe von jungen Abenteurern aus der Gegend von Syrtis, den Söhnen von Nasamonierfürsten, die sich bei einer Expedition, anscheinend einer Art von Initiationsreise, weiter als jeder andere zuvor von ihrer Heimat entfernen; sie durchqueren die Gebiete von Libyen, wo nur mehr wilde Tiere hausen, und die endlosen Sandwüsten und kommen, als sie in einer Oase Früchte von einem Baum pflücken wollen, in die Gefangenschaft eines Volkes von kleinen Menschen mit dunkler Haut. Diese Menschen sind Magier; sie bringen ihre Gefangenen über Sumpfgebiete hinweg in ihre Stadt, die von Osten nach Westen von einem großen Fluß voller Krokodile durchquert wird. Szenen mit Fragen, die ohne Antwort bleiben, mit vergeblichen Versuchen der Verständigung, mit Anklagen oder Erklärungen müssen folgen; die Stadt mit dem Fluß ohne Namen (dem Fluß, der Namen wie Orte wechseln wird) erscheint den Gefangenen (an diese Angst halten wir uns) wie eine Region ohne Sprache, eine Region, wo man die Sprache verliert; die Verstrickung in Übersetzungen, Mißverständnisse und die Ängste, den Stolz und die Einsamkeit des Unübersetzbaren scheint aber nicht ausweglos gewesen zu sein. Herodot, der die Geschichte von einigen Leuten aus Kyrene gehört hat, die sie vom König der Ammonier gehört haben, der einmal von Nasamoniern besucht wurde, sagt nichts darüber, wie die jungen Männer wieder in ihre Heimat zurückkommen; ob sie aus Gutmütigkeit oder Desinteresse oder durch eine Art von Vertrag (und wechselseitigen Betrug) freigelassen werden, ob sie durch Gewalt oder List entkommen, in einer Flucht, deren Abenteuer nicht erzählt sind und niemals erzählt werden. Je näher man den Rändern der Welt kommt, desto wilder verwachsen im Raum der Beschreibung die Landschaft und ihre Bewohner. Südlich von den Nasamoniern leben in der Gegend voll von wilden Tieren (Strauße, die unter der Erde leben, kleine einhörnige Schlangen) die Garamanten, die jeden Kontakt mit Menschen vermeiden, keine Kriegswaffen besitzen und sich nicht zu verteidigen wissen; sie besiedeln einen Hügel aus Salz, über das sie eine dünne Schicht Erde breiten, um Getreide anbauen zu können; die Hörner ihrer Rinder sind nach unten gebogen, und sie müssen beim Grasen rückwärts gehen, um nicht im Boden steckenzubleiben. Auf ägyptischen Bildern sind allerdings nicht Bauern und Viehzüchter, sondern Krieger und Feldherren der Garamanten dargestellt: die Umrisse von großen und schlanken Männern mit geflochtenem Haar und tätowierten Armen an der steinernen Mauer eines Königsgrabes, kniend oder stehend, im perlenbesetzten Lendenschurz mit über der Brust gekreuzten längsgestreiften Gürteln oder in offene, vielfältig gemusterte Mäntel gekleidet, alle tragen sie am Kinn spitze Bärte; das lange Haar ist mit Federn geschmückt, in ihren Händen halten sie Schwerter, Äxte oder Bögen. Die friedlichen und schutzlosen Garamanten gehen, wie Herodot bald selbst sagt (es ist die erste in einer langen Reihe von Umkehrungen), in Streitwägen, die von vier Rössern gezogen werden, auf Jagd nach den äthiopischen Höhlenmenschen, den Troglodyten, die anstatt zu sprechen schrille Schreie ausstoßen wie Fledermäuse; fast wie Fledermäuse, jedoch flach auf der Erde, schwirren sie auch herum, sie sind geschwinder zu Fuß als alle anderen Menschen, von denen man je gehört hat. Sie ernähren sich von Schlangen und Eidechsen; man kann sich vorstellen, wie sie, fast nur Schatten, ihnen in die Ritzen im Boden und die winzigen Felsnischen folgen. Soldaten (Jäger, Sportler) aus dem Norden, beinahe Europäer, Mischwesen aus Mensch, Tier und Maschine trachten ihnen nach dem Leben: wir stellen uns vor, die Troglodyten sind immer nackt und wie enthäutet, schlafen schutzlos wie Mäusekinder, mit rasch und flüchtig schlagenden Herzen, auf dem Boden, in den Höhlen, die sie gemeinsam mit den Reptilien, mit großen, zarten Insekten mit durchscheinenden Flügeln und mit ihren Fledermausbrüdern bewohnen. In Heliodors Aethiopischen Geschichten, einem Abenteuerroman aus dem vierten Jahrhundert, in dem er (ein hellenischer Bischof, der über heidnische Barbaren spricht) mit genrebegründender Verlogenheit die Fährnisse keuscher und überirdisch schöner Liebender schildert, die andauernd in Gefangenschaft geraten, getrennt und wieder verbunden, mit dem Tode oder (schlimmer noch) der Verheiratung mit Fremden, Ungläubigen bedroht werden, tauchen die Troglodyten während einer langwierigen Schlachtbeschreibung kurz als nackte, bloßfüßige und kaum bewaffnete Krieger wieder auf, deren höchste Kunst im Ausweichen besteht; sobald sie eine Überlegenheit des Feindes bemerken, verkriechen sie sich in enge Löcher und verborgene Felsspalten. Sie laufen so schnell, daß sie Reiter und Streitwägen überholen können; das Kämpfen und Sterben ist für sie ein Spiel. An ihrem Kopf tragen sie einen Kranz von Pfeilen, die aus dem Rückenknochen von Drachen gefertigt sind, sie springen, während sie einen Pfeil nach dem anderen abschießen, übermütig wie Satyrn umher, mit einer Schwerelosigkeit, die ihren plumpen Feinden provokant und gespenstisch erscheint. Die Nacktheit gibt und nimmt ihnen den Körper.
Auf seinem Weg in die geheimnisvolle Stadt durchquert Joseph Cartaphilus die Länder der Troglodyten und der Garamanten, dann, zehn Tagesreisen weiter westlich, erreicht er (wenn wir uns nicht täuschen) den Salzhügel, auf dem die Ataranten wohnen, die einzigen Menschen ohne Namen; sie erwarten den Tod und verfluchen die Sonne, weil sie ihr Land und alles Lebendige mit ihrer Glut vernichtet; nochmals zehn Tagesreisen weiter westlich würde er das Atlasgebirge vor sich sehen, schmal und kreisförmig wie eine Säule zum Himmel erhoben, sich in den Wolken verlierend; seine Bewohner, die Atlanten (sie scheinen schon den Grenzen der Pflanzenwelt nahegerückt), essen keine Lebewesen und träumen nicht; das erscheint uns nahe am äußersten Traum. Die Stadt der Unsterblichen selbst ist nur durch einen Brunnen und ein unterirdisches Gelaß mit neun Türen (von denen sich nur eine zum Weg durch das Labyrinth öffnet) zu erreichen, sie ist menschenleer; ihre verwirrende, allen Zwecken entgegengesetzte Architektur löst in Cartaphilus, solange er noch sterblich ist, eine tiefe Verzweiflung aus. Stumme und stumpfe, grauhäutige, nackte Männer leben in den Höhlen vor der Stadt; Cartaphilus glaubt, in ihnen die Troglodyten wiederzufinden, später merkt er, daß diese halbtierischen, scheinbar degenerierten Wesen die ermüdeten und – zwischen den Spiegeln gefangen – in ihr gleichgültiges Denken verlorenen Unsterblichen sind, die vor Jahrhunderten ihre Stadt verlassen, zerstört und als Parodie wiederaufgebaut haben.
Ein gewisser Cornelius Balbus aus Gadés in Spanien wird zur Zeit des Augustus für seine Feldzüge gegen die Städte der Garamanten als erster Zugewanderter mit einem Triumphzug geehrt. Er hat Talgae jenseits der schwarzen Berge von Phazania erobert, Debris – wo einer Quelle durch ein Wunder zwölf Stunden am Tag heißes und zwölf Stunden am Tag kaltes Wasser entspringt – und die berühmte Hauptstadt Garama, die Städte Cyramus, Baracum, Buluba, Alasit, Galia, Balla, Maxalla und Zigama, Plinius, der diese Geschichte überliefert, zählt fünfundzwanzig Orte auf. Ein Fluß namens Dasibari, den er erwähnt, wird von manchen für den Djoliba, den Niger gehalten; Balbus hätte dann, in einer schwer vorstellbaren Anstrengung, als Anführer einer Armee, von der Unzählige in der Wüste zugrundegegangen sein müssen, Eroberungszüge späterer Jahrtausende vorweggenommen, ohne eine Spur in den durchquerten Landschaften zu hinterlassen, ohne sie in den Karten des Weltreichs, dem er dient, einschreiben zu können. Nur durch Zufall hätte er mit einigen seiner Weggefährten überlebt und seinen sinnlosen Triumph für einen kurzen Moment in seiner Hauptstadt als gefeierter Held ausleben dürfen, bevor er binnen kurzem wieder in Vergessenheit gerät. Auf der wachen Seite der Geschichte sind die Ziele der Römer und die Dienste, die der ausländische Heerführer ihnen leistet, einfacher zu bestimmen. Plinius schreibt von einem Berg namens Gyri, wo wertvolle Steine – Karfunkel oder Lapislazuli – gewonnen werden; man weiß heute, daß die Troglodyten, schnell gewinnen sie menschliche Gestalt, diese Halbedelsteine abgebaut haben und daß die Kriegszüge der Garamanten im Lauf der Zeit in Handelsbeziehungen übergegangen sind; sie kaufen den Troglodyten die Steine für Kaurimuscheln ab, wie sie in den Ruinen ihrer Städte zu finden sind und wie sie, mit rasch wechselndem Wert, bis zur Zeit der späteren Eroberer und Kolonialisten in einem weiten Gebiet vom Westen Afrikas bis nach Indien verwendet werden. Man weiß auch, daß die Häuser der Garamanten so wie später die Häuser in den Dörfern und Städten der Sahara und südlich der Sahara aus Lehm errichtet sind und zumeist nur aus einem einzigen fensterlosen Raum bestehen, der von Menschen, Ziegen, Rindern, Schweinen, Schafen und Hunden gemeinsam bewohnt wird. Die Garamanten lieben, so scheint es, ihre Hunde und können ihnen vertrauen; in einem Abschnitt seiner Naturgeschichte, der von den Haustieren handelt, erwähnt Plinius einen namenlosen Garamantenkönig, den seine zweihundert Hunde aus dem Exil heimholen: ein zielgerichteter Marsch der Tiere, die stumm und abgemagert, doch mit gebleckten Zähnen und triefenden Lefzen über hunderte Meilen durch die Wüste jagen und allein durch ihren Anblick jeden vertreiben, der sich ihnen in den Weg stellen will; ein Schutz, der in der wachen Welt wenig wirksam erscheint. Man erahnt, wie es den von den Römern gefangenen und (neben den wertvolleren Steinen) als Sklaven oder als Schaustücke mitgebrachten Garamanten ergangen ist. Ein Fußbodenmosaik, das in Leptis Magna an der libyschen Küste freigelegt wurde, zeigt einen stehenden, an eine Stange gefesselten Barbaren, den viele als einen Garamanten identifizieren: es ist ein Wilder wie aus dem Bilderbuch, ein fast nackter Mann mit tiefliegenden Augen, krummer Nase, krausem Haar und struppigem Bart, zwei Raubtiere sind gerade dabei, ihn zu zerfleischen.
Die erzählerischen Gesetzmäßigkeiten, denen Reisen ans Ende der Welt folgen müssen, sind vielleicht Rückstände halb vergessener magischer Rituale, und jede der Reisen stellt die Wiederholung und Variation früherer Reisen dar; das Wirkliche folgt nur (bis zur Ermüdung) durch die Geschichte hindurch diesen Gesetzen. Der Reisende hat Mühen, Verzögerungen und Todesgefahren zu überwinden, eine Abfolge von öden Wegstrecken wie Schichten von Leere; er hat Verletzungen, eine Art von Zerstückelung zu überstehen, einen äußersten Verlust, dem ein zweifelhafter Gewinn gegenübersteht; er muß, um etwas zu entdecken, zerstören, was er entdecken will, oder seinen eigenen Wunsch zerstören, etwas zu entdecken: ein Feld von Möglichkeiten zwischen dem Realen und dem Imaginären, zwischen dem Mord, der Entzauberung und Enttäuschung und der Selbstauslöschung. Das Fremde und der eigene Traum von der Fremdheit (das Gleichgewicht zwischen dem Eigenen und Fremden) stehen auf dem Spiel, die Namen drohen sich von geheimnisvollen Chiffren in bloße Bezeichnungen zu verwandeln. Der Staatsdichter Vergil schmeichelt seinem Kaiser, er würde die Herrschaft Roms bis zu den Indiern und den Garamanten ausdehnen, bis hin zu den äußersten erreichbaren, fast schon jenseitigen Punkten der Erde; ist man erst einmal angekommen, so hat man bloß wirkliche Menschen vor sich, die man töten kann; man hat bloß das Netz von wirklichen Wegen ausgedehnt. Vor der römischen Eroberung war es unmöglich, Straßen ins Land der Garamanten offenzuhalten, weil nur diesen (Plinius redet als guter Propagandist von Räuberbanden) die unter einer Sandschicht versteckten Orte der Wasserstellen bekannt waren; sie selbst konnten das Wasser leicht wieder freilegen, doch jeder Eindringling wäre rettungslos verdurstet. Einige Zeit nach dem Krieg wird das Eintreffen einer garamantischen Handelsdelegation in Rom vermeldet; das Aufsehen, das die fast unbekleideten, tätowierten und bemalten Botschafter mit ihren schwarzen, von Butter glänzenden Haarzöpfchen erregen (die Mädchen lieben sie), ist rasch verflogen; in den nächsten Jahrhunderten herrschen vielfältige und für beide Seiten fruchtbare Handelsbeziehungen zwischen der Peripherie des Imperiums und seinem Zentrum, ohne daß man sich hier wie dort für die anderen im mindesten interessierte.
Einige der Straßen werden in Karawanenwegen bis heute überlebt haben und in den letzten Jahrzehnten in Asphaltbänder umgewandelt worden sein (wenige Autos fahren; stundenlang unterwegs durch eine Landschaft, in der sich nichts bewegt als unmerklich langsam die Sonne am Himmel; alleine sein mit dem Tageslicht, bevor am Horizont die Berge auftauchen; manchmal überdeckt eine dünne Schicht von verwehtem Sand den Asphalt). Was den Reisenden (Touristen oder Archäologen) im Fezzan in der Nähe des Dorfes Germa, früher eine berühmte Hauptstadt, auffällt, sind vor allem die ausgedehnten Gräberfelder; Gräber in verschiedenen Formen, verwitterte Steinmonumente auf den kahlen Ebenen oder dunkle Vogelnester an den Berghängen, man hat die Zahl dieser Grabstellen auf fünfzigtausend geschätzt: da sind kleine Pyramiden und Stufenpyramiden nach ägyptischem oder hellenistischem Vorbild, da sind spitz zulaufende Türme aus großen Steinblöcken, als wäre eine christliche Kirche bis übers Dach im Wüstenboden versunken, da sind an den Hängen der Berge Steinkränze rund um die Orte, an denen Tote, so scheint es, zum bewachten Schlaf gebettet wurden. Das Skelett (zumindest eines ist verblieben und nicht von Grabräubern geschändet oder von gefräßigen Tieren abgenagt und verschleppt, stattdessen ins Museum und ins Innere eines wiederaufgebauten Grabmals verbracht worden) liegt mit angezogenen Knien, in der Haltung eines Embryos, in der Mitte des Kreises; an den niederen Mauern, wie für ein Tiergehege, lehnen die Amphoren, in denen berauschende Getränke dem Toten fürs Leben im Jenseits bereitgestellt wurden; außerhalb dieser Mauern schützt, größer als ein Mensch, eine Stele in Form einer vierfingrigen, daumenlosen Hand den Ort und seinen dauerhaften Bewohner. In diese Hand sind einige Zeichen in einer Schrift namens Tifinagh eingraviert, die manche Tuaregs noch zu entziffern und zu deuten wissen.
Nach der Zerstörung kann man das Bild zurückkehren lassen, in bequemer Distanz, jenseits der Grenze, von der die offene Hand mit ihrem Haltesignal einen abweist. Haut, die sich über dem Rund der Augäpfel spannt; hinter den Namen, den Legenden, dem Bildungsschrott sichtbar die Gespenster jener Höhlenmenschen, die unter Zeitschichten vergraben sind, ohne Halt, ohne Fesseln und ohne Aussicht, wie es die Art von Gespenstern ist. In der Phantasie des deutschen Afrikanisten, Hochstaplers, Liebhabers und Irren Leo Frobenius tauchen die Garamanten nach Jahrhunderten aus dem Dunkel wieder auf, nach Westafrika gewandert, wohin sie, Reiche gründend, ihre Kultur verpflanzen und dafür sorgen, daß nichts von dem den Europäern Lesbaren und, wie sie glauben, Geerbten ganz aus der Wirklichkeit verschwunden ist. Vielleicht folgen wir auf etwas weniger direkte Weise einem ähnlichen Ziel wie jener deutsche Professor, weniger gläubig als er, bescheidener in der Welt der Buchstaben verbleibend. Doch es gibt den Moment, wo sich die Sätze verschließen; alle Analogien werden unmöglich, weil man vergeblich nach Zusammenhängen forscht und die Hände ins Leere greifen; der Boden unter den Füßen ist eins, das andere sind die Sätze, die zwischen Schreibenden und Lesenden weitergereicht werden, die Lettern auf dem Papier und im Stein. Eine plötzliche letzte Verbindung dann, ein letzter Gedanke in seinem abgetrennten Kopf (er, die Person, die endlich auftaucht, sich aus der Leere heraustastet, unbestimmt und immer in der falschen Zeit, die sich auf den Weg macht und schon am Ende ihres Weges ist), der Ort steht fest, sonst kaum etwas, es muß ein Gedanke, ein Satz sein, der an diese Grenze paßt, zu einer Geschichte gehört, die sich an der Grenze zwischen dem Wirklichen und der Täuschung, zwischen dem Eigenen und dem Fremden formen soll; ein verschwindender Satz: Bestimmungen entstehen und verschwinden hier. Eine hoffnungslose, aufs niemals Erlebte gerichtete Bemühung hält das Spiel in Gang; eine versuchte Annäherung, die nie gelingt, weil sich die Sehnsucht immer nur in sich selbst dreht und wuchert, fast ohne Träger.
From: Thomas Stangl, Der einzige Ort. Roman © Literaturverlag Droschl Graz - Wien 2004