der Fluss und das Meer

Natascha Wodin

Artwork by Anastassia Tretiakova

Als Kind wohnte ich einige Jahre an dem kleinen fränkischen Fluss namens Regnitz. Dort standen die vier neuen Wohnblocks, in die man uns 1951 gebracht hatte, aus einem Lager für Displaced Persons, ehemalige osteuropäische Zwangsarbeiter, die während des Zweiten Weltkriegs zu Millionen nach Deutschland verschleppt worden waren und für die es nun keine Verwendung mehr gab.

Eine meiner eindringlichsten Erinnerungen an diese Zeit ist die Überschwemmung, zu der es dort einmal gekommen war. Nachdem es tagelang ohne Unterlass geregnet hatte, begann die Regnitz sich langsam zu dehnen und über die Ränder ihres schmalen Bettes zu ergießen. In den Flussauen breiteten sich immer mehr und immer größere Pfützen aus—zur Begeisterung von uns Kindern, den multiethnischen, gettoisierten Nachkommen der einstigen Arbeitssklaven. Wenn der Regen für kurze Zeit aufhörte und die Sonne herauskam, durften wir barfuß nach draußen und sprangen johlend vor Glück durch die sommerlich warmen Wasserlachen, die sich bald zu einem kleinen See zusammengeschlossen hatten. Nach und nach verwandelte sich das beschauliche Flüsschen, aus dem wir sonst das Gießwasser für unsere Gemüsebeete hinter den Blocks schöpften, in einen gewaltigen, reißenden Strom, der, braun und dröhnend, mit unheimlicher Geschwindigkeit durch die Landschaft raste und tote Hühner und entwurzelte Bäume mit sich trug. Gebannt, aus sicherer Entfernung beobachteten wir das schaurig-schöne Spektakel, aber eines Morgens, als wir aufwachten und aus dem Fenster schauten, stand das Wasser in unserem Hof. Über Nacht hatte es sich unmerklich an uns herangeschlichen, genauso flach und harmlos wie vor kurzem in den Flussauen stand es jetzt zwischen unseren Häusern und leckte leise an den Schwellen unserer Haustüren.

Von da an wagte ich es nicht mehr, nachts zu schlafen. Ich lag wach, lauschte in das nicht nachlassende Geräusch des Regens, ich sah das Wasser im dunklen Hof steigen, ich sah, wie es unsere Fenster erreichte und die Scheiben eindrückte, wie es durch unsere Schlafzimmertür brach. Ich wusste, dass die Regnitz kam, um meine Mutter zu holen. Schon so lange sprach sie davon, dass sie nicht mehr leben konnte, dass sie in die Regnitz gehen wollte. Sie sagte es fast jeden Tag. Jetzt kam die Regnitz zu ihr, sie kam, um sie mitzunehmen, aus ihrem Bett zu heben, während sie schlief, und endlich von dem Leben zu erlösen, das sie nicht mehr ertragen konnte.

Ich weiß nicht mehr, wie viel Zeit nach dieser Überschwemmung verging, vielleicht waren es zwei Jahre, vielleicht weniger, die Regnitz hatte sich längst wieder in das kleine, gemütliche Flüsschen zurückverwandelt, das sie immer gewesen war, bis meine Mutter eines Tages aus der Wohnung ging und nicht wiederkam. Man fand ihre Leiche am Rand einer Sandbank, auf der wir Kinder uns im Sommer immer getummelt hatten. Die Strömung hatte sie an diese kleine Insel gespült, nicht weit entfernt von der Stelle, an der sie ihren Mantel am Ufer gelegt hatte.

Sie war an einem Meer geboren und aufgewachsen, aber sie muss Nichtschwimmerin gewesen sein. Ein Mensch, der schwimmen kann, ist vermutlich nicht in der Lage, sich zum Ertrinken in einem ruhigen, harmlosen Fluss zu zwingen. Aber vielleicht war sie gar nicht ertrunken, vielleicht war ihr schwarzes Herz schon vorher stehen geblieben, nachdem sie in einer Oktobernacht des Jahres 1956 ihren Mantel ausgezogen hatte und in die schwarze, kalte Strömung hineingegangen war.

Das Meer, von dem sie kam, war das flachste Meer der Welt. So flach, dass es möglich schien, es bis ans andere Ende zu durchwaten, bis hinüber zur anderen Seite, nach Kertsch, wo man sich endlich in die wilden Wellen des Schwarzen Meeres hätte werfen können, die Wellen jenes Meeres, über das man meine Eltern im Jahr 1944 auf einem deutschen Kriegschiff mit geraubten Menschenfracht zuerst nach Rumänien, dann nach Deutschland brachte. Allein aus Mariupol, der Heimatstadt meiner Mutter, verschleppten die deutschen Nazis im Lauf des Krieges 60000 Menschen zur Zwangsarbeit nach Deutschland, etwa ein Viertel der gesamten damaligen Bewohnerschaft.
Es muss sich noch um das vorrevolutionäre, multikulturelle Mariupol handeln, das ein unbekannter russischer Autor so beschreibt: Hinter dem Fenster des Hotels Palmyra fiel nasser Schnee. Hundert Schritte weiter das Meer, von dem ich nicht zu sagen wage, dass es rauschte. Es gluckste, röchelte, das flache, unbedeutende, langweilige Meer. Ans Wasser angeschmiegt das unscheinbare Stätdchen Mariupol mit seinen sechs russisch-orthodoxen Kirchen, seinem polnischen Kościół und seiner jüdischen Synagoge. Mit seinem stinkenden Hafen, seinen Lagerschuppen, mit dem löchrigen Zelt eines Wanderzirkus am Strand, mit seinen griechischen Tavernen und der einsamen, matten Laterne vor dem Eingang des erwähnten Hotels.

Hat meine Mutter das flache, langweilige, unbedeutende Meer geliebt, hat sie darin gebadet? War es das ideale Meer für eine Nichtschwimmerin, ein Planschbecken, ein Meer für Kinder, für Familienurlaube an den weiten, hellen Sandstränden in der sommerlichen Hitze des Südens, mit einer Temperatur von über dreißig Grad? Hat sie Muscheln am Strand gesammelt, den schreienden Möwen nachgeschaut und im Sand gelegen? Ich suche ihr Bild dort und kann es nicht finden. Vielleicht auch deshalb, weil ich sie nie in einem Badeanzug gesehen habe, sie war mir nicht vorstellbar in so einem Kleidungsstück, und wahrscheinlich hatte sie so etwas auch nie besessen. Ihre Lebenszeit in Mariupol war nicht gemacht für Badefreuden. Sie war in das nachrevolutionäre Chaos hineingeboren, in den Bürgerkrieg, in den Terror, in die Enteignungen, Säuberungen, Verhaftungen, in die biblische Hungersnot, die während der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in der Ukraine ausbrach. Die Menschen wankten wie betrunken durch die Straßen und fielen irgendwann um, am Abend wurden die Leichen aufgesammelt und auf Pferdefuhrwerke geworfen.

Früher nannten die Mariupoler das Asowsche Meer ihre Nährmutter. Das seichte Wasser hatte gekocht, wenn die riesigen Stör- und Zanderschwärme vorbeizogen. Nun war alles leer gefischt, es blieben nur noch die mageren Meergrundeln, die die Menschen zu fangen versuchten, indem sie Kissenbezüge ins kniehohe Wasser hielten. Nachdem es auch keine Meergrundeln mehr gab, wurde alles gegessen. Tapetenkleister, Schuhsohlen, Hunde, Katzen, Menschenleichen.

Auch damals schon existierte Asowstal, das größte Stahlwerk der Welt, zwanzig Kilometer lang, dreißig Meter tief. Ein Vorzeigemonster frühkommunistischer Industrialisierung, das fast ein Jahrhundert sein ungefiltertes Gift in die Welt schleuderte, auf einer Strecke von zwanzig Kilometern rauchte die Hölle. Die schönen hellen Sandstrände hatte es in Mariupol vielleicht nie gegeben. Ein deutscher Autor, der vor ein paar Jahren zu einem deutsch-ukrainischen Schriftstellertreffen nach Mariupol gefahren war, musste wieder umkehren, er bekam keine Luft. Auch das Asowsche Meer kann schon lange kaum noch atmen, seit vielen Jahren stirbt es eines langsamen Todes, erstickt an Zink und Ammoniak, an den Pestiziden der Landwirtschaft, am Dreck des Hafens, am Schweröl leckender, sinkender Tanker.

Wie muss ich mir dieses Meer heute vorstellen? Was würden seine Wellen mir erzählen, wenn sie sprechen könnten und ich sie hörte? Sie haben die dreifache Zerstörung Mariupols miterlebt. Zum ersten Mal durch Revolution und Bürgerkrieg, zum zweiten Mal durch die deutsche Wehrmacht, zum dritten Mal jetzt, in diesem Sommer, durch die Bomben eines wahnsinnigen russischen Hegemons. Es ist wie ein dritter  Mordversuch an meiner Mutter. Sie kennt das vom Krieg verheerte Mariupol: die Steinhaufen der zertrümmerten Häuser in den Straßen, die leise brennenden Möbel in den Häusern mit den abgerissenen Fassaden, das ständige Sirenengeheul. Kein Trinkwasser, kein Strom, keine Nahrungsmittel. Es wird wieder Katzen und Hunde gegessen. Die verwaisten, ausgehungerten Hunde fressen unterdessen die Menschenleichen an, die in den Straßen liegen. Zum Glück muss sie das alles nicht noch einmal erleben. Die Geschichte wiederholt sich, sie bewegt sich nicht linear, sondern dreht sich im Kreis.

Ich habe mir erzählen lassen, dass die Stadt bis heute durchdrungen ist von einem penetranten, nicht mehr weichenden Verwesungsgeruch. Wegen der ständigen Luftangriffe konnten viele Toten nicht bestattet werden, ihre Körper zersetzen sich langsam an der Luft. Die Stadt soll verseucht sein von diesem Geruch wie für die Ewigkeit. Mariupol—ein Segensname wie ein Fluch. Eine Stadt, deren Name bis vor Kurzem niemand kannte und die jetzt Weltruhm erlangt hat als Mater dolorosa der überfallenen Ukraine.

Zwischen 1960 und 1992 wurde in Deutschland der Rhein-Main-Donau-Kanal gebaut, in den auch der Teil der Regnitz integriert wurde, in dem meine Mutter einst ihr Leben gelassen hat. In meiner Vorstellung fließen seitdem Tag für Tag ein paar Tropfen der fränkischen Regnitz ins Asowsche Meer. Ganz allmählich kehrt meine Mutter mit dem Wasser der Donau zurück in ihre alte Welt, die Tropfen der Regnitz erreichen über Ungarn, Bulgarien, Rumänien das Schwarze Meer, passieren die Meerenge von Kertsch und gehen ein in das Asowsche Meer, in dem meine Mutter vielleicht einmal gebadet hat und dessen Wellen immer noch ans Ufer von Mariupol schlagen.