Besetzt

Robert Walser

Photograph by Sherman Ong

Wie oft, wenn ich mit dem altertümlichen, schwerfällig und doch leicht dahintrampelnden Pferde-Omnibus durch die Berliner Straßen und durch das Berliner Leben fuhr, was mich immer wieder von neuem belebte und ergötzte, hörte ich, vom ältlichen, gutmütigen Schaffner auf bescheidene und drollige Art ausgesprochen, dieses kleine, unbedeutende, aber im gegebenen Moment doch auch wieder ziemlich wichtige Wort, das übrigens auch noch, der Ordnung und Genauigkeit halber, auf einer Tafel geschrieben stand, die sichtbar oder unsichtbar gemacht werden konnte. Hing die Inschrift

BESETZT 


nett und artig herunter, so wußten die Leute, daß einstweilen niemand mehr einsteigen und hinauf klettern durfte, weil die Gondel oder das auf Rädern rollende Lustgemach bereits beinahe bis zum Ersticken voll war, ein bedauerlicher Tatbestand, den die mahnende Tafel ja deutlich genug ankündigte: «Halt! Wer die auch immer sein mögen; bis hierher und nicht weiter!» Mitunter gab es aber trotz der ablehnenden und abweisenden Tafel starken Publikumsandrang, stürmisches Verlangen, einzusteigen und mitzufahren. Dann sagte etwa der diensttuende Kammerherr mit höflicher Stimme: «Besetzt, meine Herrschaften», oder er sagte: «Bitte nicht drängen. Es hat keinen Zweck», oder es fiel ihm vielleicht ein, zu sagen: «Mit dem größten Vergnügen, meine Damen und Herren, möchte ich Sie auffordern, einzusteigen und Platz zu nehmen, aber es ist meine rauhe Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß der Wagen bis in die kleinste Ecke hinein dicht mit Fahrgästen besetzt ist. Entschuldigen Sie sehr, daß ich gezwungen bin, Ihnen den Einlaß und Durchbruch zu verweigern.» Während auf der einen Seite gestürmt und angegriffen und auf der andern Seite abgewunken und abgewiesen wurde, fuhr das Boot mitten durch all den Großstadtverkehr, der fast einem Meere glich, immer ruhig und munter weiter. Schon will wieder ein hastiger Ungestümer aufspringen, doch schon tönt dem Kecken wieder das ruhige «Besetzt» in die Ohren, worauf er den Fuß vom Wagentritt wieder sorgfältig zurückziehen muß.

Einmal, als sich der Omnibus in voller, schöner Fahrt befand, alles glatt und fein dahinging, niemand auch nur von ferne an einen Überfall oder an einen Gewaltstreich dachte, drang einer hinein, der offenbar von Haus aus gewöhnt war, durch dick und dünn zu gehen und alles zusammenzuhauen, was sich ihm in den Weg stellen mochte.

«Besetzt, mein Herr», bemerkte der Beamte.

«Dummer, blöder Quatsch», versetzte der Monsieur Draufgänger. Das war ganz gewiß einer, der es für klug hielt, rücksichtslose Machtpolitik zu treiben. «Verzeihen Sie, haben Sie nicht gehört, was ich sagte?» fragte der gute Fahrmann. Es ergoß sich aber auf sein armes Haupt ein wahrer Platzregen von Schimpfwörtern. Der Anprall und die Überschwemmung des Unangenehmen und Unvorhergesehenen waren so gewaltig, daß der gute Mann nachgeben mußte. Er klagte jedoch und sagte folgendes:

«Das ist nun aber doch nicht recht, und es ist ein Glück daß nicht alle Leute so sind, wie dieser Herr, der mich beschimpft, wo ich ihm doch nur «besetzt» gesagt habe. Es war doch meine Pflicht, ihm das zu sagen, aber gewisse Leute wollen alles zerstampfen und zerdrücken, wenn sie sich einmal irgend etwas in den Kopf gesetzt haben. Ich sage ja nicht zu meinem Vergnügen , oder um die Menschen zu ärgern, oder als wenn ich eine Schadenfreude hätte. Jeder tut seinen Dienst und erfüllt seine tägliche Pflicht, und die meinige besteht nun einmal darin, daß ich sage, wenn sich das so verhält. Da ist es doch ungerecht, wenn man sich darüber empört. Es ist überhaupt lächerlich, wie schnell manche Leute zornig werden können. Ei nun! ich halte mich an die Vernünftigen, und diese sind gottlob und dank noch nicht ausgestorben.»

So sprach der Schaffner, indem der Omnibus gemütlich weiterhumpelte.

"Full" is taken from Berlin Stories by Robert Walser, forthcoming in late 2011, translated and with an introduction by Susan Bernofsky, New York Review Books Classics.

The German original is used by permission of Suhrkamp Verlag.

Click here to read another short story from Robert Walser, “Circle Dance,” translated by Susan Bernofsky, in the Spring 2018 issue.