Das Gurkerl

Johanna Sebauer

Illustration by Hugo Muecke

Am Ende war der Pertak schuld. Nicht immer kann man das, was einem so widerfährt in seinem Leben an Aus-den-Fugen-Geratenem, im Nachhinein noch erklären, aber in diesem Fall besteht kein Zweifel. Der Pertak war schuld, an allem, und dies hier ist der Grund.

Er kam herein in die Redaktion, ein dröhnend heißer Julitag war es, das weiß ich noch, alle Fenster hatten wir aufgerissen. Er kam herein, der Pertak, wie immer in großer Eile den Weg durch den Großraum hinüber zu seinem Einzelbüro mit großen Schritten nehmend, wie immer telefonierend. An manchen Feierabenden droben beim Schlosswirt ließ ich mich zur bösartigen Mutmaßung hinreißen, der Pertak täte dies, das eilige Schreiten und das raumerobernde Telefonieren, um uns, aber vor allem sich selbst, daran zu erinnern, dass er in Wichtigkeit sich von uns Großraumsitzern abhob, Eile und Lautstärke Teil seiner Arbeitspraxis waren, und ihn dies nun einmal zur Inanspruchnahme eines Einzelbüros qualifizierte. Mit langen Stelzenschritten eilte er also telefonierend an den Tischen der Großraumsitzer vorbei zu seiner Kammer, kickte mit der Schuhspitze den speckig-abgegriffenen Holzkeil, mit dem wir seine Tür an diesem heißen Tag luftstromhalber festgeklemmt hatten, beiseite und schloss sie hinter sich. Heraus kam der Pertak erst wieder, um sich in der Kaffeeküche mit geschirrklappernder Hektik sein spätes Frühstück zu richten, was er als Mann von seinem Unabkömmlichkeitsrang meist an seinem Schreibtisch einnahm, wo des Nachts dann die Frau Kőszegi die Kornspitzbrösel zwischen seinen Tastenreihen hervorkletzeln durfte. Der Pertak klapperte dahin in der Kaffeeküche, rührte in der Besteckschublade, äußerte Missmut, weil er irgendetwas nicht dort fand, wo er es zu finden gewünscht hatte, säbelte knuspernd Gebäckteile entzwei und knackte – und hier passierte es nun – den Deckel eines Gurkenglases auf. Das Nächste, was zu uns hinüber in den Großraum drang, war ein Schrei, dann ein ärgerliches Zischen, dann eine Kette derbster Flüche. Im Großraum verstummte das Tastaturenklackern.

Die Schweiger, die mir gegenübersaß und dort täglich ihre Sportseite schrieb, sah mich über den Bildschirmrand an. 

 

*

„Is was?“, fragten wir, also die Schweiger und ich, mehr oder weniger gleichzeitig im Türrahmen der Kaffeeküche stehend. 

Der Pertak hatte den Handballen in die Höhle seines linken Auges gepresst, fluchte und zischte. Man möge sich vorstellen, begann er, er sei dabei gewesen, sein Frühstück zu richten, Semmel, Käse, Wurst, dann habe er aus diesem Gurkenglas, Herr im Himmel, wer hatte den bloß dieses Gurkenglas in die Redaktion gebracht, schimpfte er und deutete auf die gelblichtrüben 500 Milliliter auf der Anrichte, in denen sich ein paar Gurkerl, noch sichtlich aufgebracht vom gerade Geschehenen, im Kreis drehten. Er habe also ein Gurkerl herausgefischt aus diesem fetzengschissenen Gurkerlglas, habe abgebissen und das Gurkerl, das von ihm erwählte, sei von einer solchen Knackigkeit gewesen, gefedert habe es, das Gurkerl, beim Abbeißen, und habe ihm einen Tropfen dieses scheißdrecksgschissenen Hurnsgurkerlwassers in sein linkes Auge geschossen, wo es jetzt brannte wie das Höllenfeuer und seinen gesamten Augapfel würde wegätzen, so nämlich fühle sich das an.

„Hast dus schon ausgewaschen?“, fragte die Schweiger in ihrer Gemütsruhe, die sie noch nie abgelegt hatte, selbst beim 7:1 Deutschland-Brasilien nicht, das ihr, der Sportreporterin, damals bloß ein etwas lauteres „Verrückt!“ entlockt hatte.

Der Pertak, den Handballen immer noch fest an sein linkes Auge gedockt, sah die Schweiger an, dann das Gurkerlglas, dann mich, dann wieder die Schweiger.

„Dein Auge“, ergänzte sie, und der Pertak nickte stumm und schritt eilig – selbst in der kleinen Redaktionsküche schaffte er es, eilig zu schreiten – hinüber zum Waschbecken und hielt seinen Kopf unter den Wasserstrahl. 

In seinen hellblauen Hemdskragen fraß sich langsam die Feuchtigkeit.

 

*

Als ich am nächsten Morgen in die Redaktion kam, saß der Pertak bereits in seinem Einzelbüro und tippte konzentriert. Neben der sich vor Gedankenanstrengung in die Haut zwischen den Augenbrauen gegrabenen Falte klebte, das gesamte linke Auge, das Gurkerlwasserauge, bedeckend, ein weißes Pflaster. Er sei beim Arzt gewesen gestern nach dem Vorfall, erklärte er mir. Beim Wort „Vorfall“ zog er beide Augenbrauen hoch, wobei sich jene, unter der das Augenpflaster klebte, nicht so weit hochziehen ließ wie die andere, was seinem Gesicht etwas karikaturenhaft Verrutschtes sowie den vom Pertak sicherlich nicht gewollten Ausdruck der Skepsis verlieh. 

Das Augenpflaster trug der Pertak die gesamte Woche lang. Am Freitag dann erschien seine Kolumne. Wir im Großraum konnten es nicht glauben. Rotteten uns zusammen um den Schreibtisch der Schweiger und lasen über ihre Schulter, was der Pertak über den Gurkerlwasservorfall tatsächlich in unserem kleinen Lokalblatt zu schreiben gewagt hatte. Eines musste man ihm lassen: Es brauchte schon einiges an Schreibtalent und wohl auch den Hang zur – dem Journalistischen ja der Not halber fast ständig anhaftender – Übertreibung, wegen eines ins Auge gesprungenen Essigtropfens diese Brandrede zu konstruieren.

Ob man da nicht einmal genauer hinschauen sollte, schrieb er, auf die Gurkerl in Essig. Einer dem Menschen potentiell das Augenlicht wegätzenden Flüssigkeit. Die man verkaufte, einfach so, ohne Warnhinweis, für jedes Kleinkind erreichbar in den heimischen Supermarktregalen? Wer wisse denn schon, wie viele Schäden möglicherweise durch Unfälle mit Gurkerlwasser bereits entstanden waren? Ob wir es unserem solidarischen Gesundheitssystem, das ohnehin aus dem letzten Loch pfeife, nicht schuldig seien? Derartige Flüssigkeiten als das zu deklarieren, was sie waren, nämlich gefährlich? 

„Jetzt hagelt er komplett aus“, sagte die unerwartet aus ihrer Stoik gerissene Schweiger und klappte die Wirtschaftsseite zu. „Blattkritik wird heute lustig.“

Doch lustig wurde nichts. Ungläubig sahen wir unserer Chefredakteurin im Konferenzraum dabei zu, wie sie ihre Lesebrille überzog und sich mit befeuchteten Fingerspitzen in den Wirtschaftsteil hineinblätterte. 

„Sehr feine Klinge“, sagte sie. „Ferienzeit. Saure-Gurken-Zeit. Schöner Schachzug. So ein Scherz ab und zu schadet unserem Blatt doch nicht. Aber klären Sie das in der nächsten Ausgabe auf, sonst kriegen wir Ärger mit den Gurkerlabfüllern.“

 

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Die Aufklärungsgeschichte, die die von der Chefredaktion als Scherz missverstandene, vom Pertak aber ganz sicherlich bitterernst gemeinte Gurkerlkolumne richtigstellen sollte, erschien am nächsten Montag nicht. Beim Vorbeigehen an des Pertaks Einzelbüro sah ich den von einer schneeweißen Dauerwelle umwölkten Hinterkopf eines dem Pertak gegenübersitzenden Gastes.

„Frau Kemety“, erklärte mir die Schweiger. „Die hat seine Gurkerlgeschichte gelesen und wollte mit ihm reden.“

In der Dienstagsausgabe dann – ein Interview mit ebenjener Dauerwellenfrau, ganzseitig. Die ehemalige Schuldirektorin ließ sich durch des Pertaks Suggestivfragen entlocken, dass sie zu ihrer aktiven Zeit einem jeden Kind eigenhändig das Essiggurkerl aus der Semmel gezogen habe, wenn sie auf dem Pausenhof eines zwischen den Wurstscheiben hervorblitzen gesehen hatte. Man könne sich heutzutage gar nicht vorstellen, welchen Wirbel eine so kleine Gurke in ihrem sauren Saft in einer Schule anzurichten im Stande war. Nicht nur in der Kinder Augen könne die ätzende Flüssigkeit geraten, sondern bei hastigem Verzehr auch in die falsche Röhre, was noch viel schlimmer sei. Brandgefährlich seien außerdem die zwischen den Wurstlagen unbemerkt auf den Schulboden herabgleitenden Gurkerlscheiben, auf die später eine unschuldige Lehrkraft einen unbedarften Tritt setzte und ausrutschte. Steißbeinbruch, Oberschenkelhals, Aortariss, weiß der Herr was. Außerdem, fuhr sie fort und wurde ein bisschen philosophisch, habe sie schon damals in den Sechzigern nie verstanden, warum man überhaupt noch die Notwendigkeit gesehen hatte, Gurkerl in Essigwasser einzulegen. Der Krieg sei doch schon lange vorbei gewesen. Auf dem Marchfeld wucherte das Gemüse in solchen Mengen, dass man schon bald einen Pansen gebraucht hätte, um all das zu verdauen. Aus Übersee importierte man Früchte, betrieb Glashäuser drüben in Holland, konnte alles haben, zu jeder Jahreszeit frisch. Ein Essiggurkerl sei eine Verfälschung der Gurke, eine Verhöhnung gar. Keine Demut habe er wohl mehr, der Mensch, vor dem, was Natur und Schöpfung ihm darböten, müsse alles verändern mit seinem Kultivierungswahn bis man es nicht mehr wiedererkannte.

Diese starke Gefühlsregung in Verbindung mit den Gurkerln, ich konnte sie nicht verstehen. Aber was wusste ich schon. Ich war nicht so einer. So einer wie der Pertak. Ambitionierter Journalist, „meinungsstark“, wie man ihn gerne nannte. Ich hatte keine Meinung zu Gurkerl, so wie ich zu vielem im Leben keine hatte. In meinem Chronikressort schrieb ich seit Jahren gemächlich dahin, über all das, was sich neben den großen Themen Welt sonst noch so ereignete. Ein paar Tage lang dachte ich, die Gurkerlgeschichte hätte ihren kurzen Höhepunkt hinter sich und wäre in der endlosen Hitze des Sommers still verdunstet, doch es kam, wie Ausden-Fugen-Geratendes immer kam, nämlich anders.



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Es erreichte mich eine Presseaussendung eines Kindertagesstättenträgers. Das jüngst in unserem Blatt erschienene Interview habe man zum Anlass genommen, über neue Maßnahmen zur Gefahrenreduktion nachzudenken und die Einigung erzielt, den Verzehr von Essiggurken fortan nicht mehr zu gestatten. Durch das ätzende Gurkerlwasser, durch die Glitschigkeit – in der Presseaussendung stand tatsächlich „Glitschigkeit“ – insbesondere der bereits geschnittenen Gurkerl, insbesondere der zu Dekorationszwecken beliebten, in gleich mehrere Lamellen geschnittenen Gurkenfächer entstehe ein Sicherheitsrisiko, welches man hiermit zu minimieren versuche. Mein erster Impuls war, die Aussendung an den Pertak weiterzuleiten, schließlich hatte er begonnen mit diesem Gurkerlunsinn. Irgendetwas aber in mir sträubte sich. Ich gab sie an meinen Praktikanten weiter. 

Am nächsten Tag bekam ich es dann zu hören. Der Pertak kam an meinen Schreibtisch geeilt und klatschte mir die aufgeschlagene Zeitung auf die Tastatur. 

„Das hättest du mir sagen können“, sagte er und tippte auf die Kurzmeldung Gurkerlverbot in Kindertagesstätte. 

Sein linkes Auge war mittlerweile pflasterlos. Unterschiede in Bräunungsgrad innerhalb und außerhalb der bepflasterten Hautfläche waren deutlich zu erkennen, sowie Reste des sich vom Pflasterrand gelösten, bei der morgendlichen Gesichtswäsche offenbar nicht vollständig abgegangenen Klebematerials. 

„Ist doch ein so großes Thema aktuell. Da kannst du doch nicht einfach eine Kurzmeldung draus machen.“

„In deiner Welt ist es vielleicht ein großes Thema“, sagte ich. „Ich finde das Gurkerltheater ehrlich gesagt übertrieben.“

„So?“ Der Pertak blähte die Nasenflügel auf. „Weißt du was? Dann schreibst du mir bis morgen einen Antwortkommentar, wenn du so ein glühender Gurkerlfreund bist.“

 

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Ich hasste das Kommentarschreiben, was vor allem an meiner bereits erwähnten fehlenden Meinungsstärke lag. Wenn ich Kommentare schrieb, wurde ich zum Romanschreiber. Ich stellte mir dann einen klugen Journalisten vor, der über das zu kommentierende Thema nachdachte und eine Meinung dazu formulierte, die in wirklich wenigen Fällen meine eigene war. Ich spann irgendwelche Gedanken herum, die in meiner Vorstellung irgendeiner schon würde haben können.

Eine Essiggurke ist eine Essiggurke ist eine Essiggurke, schrieb ich in meinen Gurkerlkommentar. Der Mensch mochte die Kulturtechnik der Pasteurisierung einst erfunden haben, um Gemüse über lange bitterkalte Winter hinüberzuretten, und obwohl wir dieses Drüberretten in unserer hochglobalisierten Welt, in der zu jeder Zeit irgendwo eine frische Gurke wächst, nicht mehr bräuchten, sei die eingelegte Essiggurke Teil einer kulinarischen Tradition geworden. Und wie es Traditionen nun einmal an sich hätten, gehe es nicht um eine Notwendigkeit, sondern um die Sache an sich. Um die Eigentlichkeit. Wir tränken doch auch nach wie vor vergorenes Gerstenwasser, nicht aus der Not, Wasser haltbar und keimfrei machen zu müssen, sondern, weil wir Bier trinken wollten. So äßen wir auch die Essiggurke aufgrund ihrer Eigentlichkeit als Essiggurke. Die plötzliche Aufregung um ihre Existenz, das laute Nachdenken über ihr Verbot breche mit einer langen Tradition des Essiggurkerlessens des Essiggurkerlessens wegen. Dies solle man in all der Aufregung bitte nicht vergessen, bevor man das Gurkerl als Gefahr und Ewiggestriges hochbausche. 



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In den sozialen Netzwerken verbreitete sich die Gurkerldebatte wie ein Schilfbrand im trockenen August. Unter meinen Gurkerlverteidigungskommentar schrieb jemand: „Kaum erwägt man die kleinste Veränderung, wittert manch einer direkt den Untergang des Abendlandes“. Als  meinungsloser Journalist, der ich war, berührte mich Kritik an meinem mit meiner Fantasiemeinung geschriebenen Kommentar nicht. Was mich aber berührte und in einen immer umfassenderen Zustand des Unglaubens versetzte, war die Tatsache, dass sich mit einem Mal so viele Menschen in so tiefer emotionaler Verstrickung in der Essiggurkerlthematik wiederfanden. 

Plötzlich nämlich musste man mit jedem, den man traf, darüber reden. Bist du dafür oder bist du dagegen? Die Gurkerlgegner hatten vor allem die Gesundheit im Blick, zumindest taten sie so. Man dürfe die körperliche Unversehrtheit der Individuen nicht aufs Spiel setzen, bloß weil ein paar Großkapitalisten mit Gurkerlabfüllanlagen Geld machen wollten, in denen, so hatten es ein paar Menschenrechtsaktivisten angeblich mit versteckten Kameras in Erfahrung bringen können, hauptsächlich migrantische Arbeitskräfte, hauptsächlich weibliche, unter menschenunwürdigen Bedingungen schufteten. In der Fußgängerzone verteilten sie Flugzettel: Das Gurkerl im Semmerl der Bourgeoisie sei „das Joch auf den Schultern der marginalisierten Arbeiter*innen“. Die Aufregung sprang bald von unserem kleinen Lokalblatt auf größere Blätter über. Dass die Gewürzgurke ihren Ursprung in China habe, schrieb eine Wochenzeitung aus der Hauptstadt, zur Zeit der Mingh-Dynastie habe sie die Arbeiter ernährt, die, zwangsverpflichtet, die Chinesische Mauer errichten mussten. Ein Gemüse, nicht frei von problematischer Geschichte mit ihr eingewobenen Unterdrückungsmechanismen, die sich strukturell würden fortschreiben, blieben sie unkommentiert. Brauchten wir sie denn wirklich noch, die Gurkerl?

Die Gurkerlverteidiger, zu denen ich nach meinem ersten Fantasiemeinungsartikel sofort gezählt wurde, die mir im Grunde aber genauso egal waren wie die Gurkerlgegner, beriefen sich auf die Tradition, die die Gurkerlgegner in ihrem ideologischen Wahn dabei seien, zu zerstören. Auf die Freiheit, die doch wohl bitte ein jeder mündige Bürger habe, nämlich, selbst zu entscheiden, ob er, sich dieser von den Gurkerln ausgehenden Gefahr auszusetzen, gewillt ist oder nicht, und schließlich auf die Vernunft, die in dieser Debatte mehr und mehr entgleite, und zu der zurückzukehren, nun wirklich angebracht sei.

In der Redaktion war man gespalten. Neben dem Pertak war nun auch die Chefredaktion zu den Gurkerlgegnern übergegangen, auch mein Praktikant hatte eine durchgestrichene Gurke auf dem Laptop kleben. Die Schweiger war Gurkerlverteidigerin und lagerte absichtlich einen Jahresvorrat Gurkerlgläser in der Kaffeeküche und blockierte damit den halben Kühlschrank. Ich stand wie immer gemütlich zwischen den Stühlen und beobachtete das Treiben. Meinen durch meinen Fantasiekommentar erworbenen Ruf als Gurkerlverteidiger wurde ich in regelmäßigen Abständen beauftragt, weiterhin zu verteidigen. Ich dichtete mir zusammen, dass man doch auch wirtschaftliche Aspekte betrachten müsse. Der Gurkerlabfüller sei immerhin ein wichtiger Arbeitgeber in der Region und zuverlässiger Großkunde unserer Bauern. In den sozialen Netzwerken nannte man mich einen neoliberalen Gurkerlfaschisten.

 

*

Die erste Protestaktion ging von den Arbeitern aus. Ein richtiger roter Aufmarsch. Trillerpfeifen, Schnauzbärte, wehende Gewerkschafts-Fahnen. Reporterhaft wand ich mich durch die Menge. Angst mache ihr ein mögliches Gurkerlverbot, sagte mir eine Sabrina, die in einer Abfüllanlage die Maschine bediente, die die Gurkerlgläser luftdicht verschloss. Was, wenn sie nun ihren Job verlöre, fragte sie und wartete nicht auf meine Antwort, so gern habe sie ihn doch, ihren Job, endlich Festanstellung, nicht mehr diese elendige Schwarzarbeit wie bis zuletzt. Drei Kinder habe sie alleine großgezogen, drei, ob ich mir das vorstellen könne. Was sich diese Wahnsinnigen überhaupt dächten, das Hirn voll Wohlstandswichse, hätten die keine ärgeren Probleme diese…, diese… diese… Ihre Worte verloren sich in der Trillerpfeifenfanfare. Dass es ja nicht bei den Gurkerln aufhören würde, polterte mir ein paar Meter weiter Walter, Spediteur, ruhestandsnah, durch seine Bartborsten direkt in mein Ohr, es gebe doch noch so viel anders eingelegtes Gemüse, Kraut beispielsweise, Pfefferoni oder Silberzwiebel, diese kleinen, ich wisse schon, was sei mit denen? Würde man die auch verbieten? Was käme als nächstes?

Die Gurkerlsache war unter der brüllenden Hitze dieses Sommers ein Monster geworden, zu dem sich jeder irgendwie verhalten musste. Man musste überlegen, was man sagte, und zu wem. Musste aufpassen bei welcher Feinkostabteilung welcher Supermarktkette man sein Extrawurstsemmerl orderte. Denn je nachdem wo, bekam man entweder ein feuchtes Gurkerl reingeklatscht, auch wenn man gar keines bestellt hatte. Aus Prinzip, sagte einem dann der Verkäufer. Oder aber man bekam, geriet man an eine Feinkostabteilung gegenteiliger Gesinnung, ebenso aus Prinzip, keines, auch wenn man eines bestellt hatte. Es waren komplizierte Zeiten. 

 

*

Eines Nachts schreckte ich hoch aus einem Traum, in dem mir Gurkerl in allen Größen und Farben um die Ohren geflogen waren und fand nicht zurück in den Schlaf. Ich trottete ins Wohnzimmer und machte den Fernseher an. Im Zweier lief die sonntägliche Talksendung, die ich in der Regel verschlief. Ich goss mir Kräuterschnaps, übriggeblieben von irgendeiner Adventfeier, in ein kleines Glas, dann sah ich ihn. Hellwach, mit manischem Blick saß, zwischen einem ergrauten Herren mit hellgrünem Stecktuch, einer jungen Dame mit messerscharfkantiger Helmfrisur und der Moderatorin, der Pertak. 

„Die Essiggurke, ‚Das Gurkerl‘“, sagte er aufgeregt, nur mit dem halben Hintern auf der Sesselkante sitzend, „ist ein gesellschaftliches Konstrukt, wenn man so will.“

Die Dame mit der Helmfrisur nickte energisch. Erst das Gurkerlwasser, der Essig, mache die Gurke zum Gurkerl, sagte er. Ein sozio-kulinarischer Transformationsakt sei das, den wir aufhalten könnten, den wir aufhalten sollten, wenn wir als Gesellschaft letzte Reste an Haltung besäßen. Wieder nickte die Helmfrisurdame. Die messerscharfen Kanten des Helms schwangen gefährlich nahe an ihrem schlanken Hals hin und her. Der ergraute Stecktuchprofessor schnaubte. Worüber man denn mittlerweile überhaupt rede, wer denn da bitteschön noch mitkommen solle. Ihm, dem Herrn Pertak, sei doch bloß ein Essigtropfen ins Auge gesprungen. Nun solle das Gurkerl verboten werden, nun höre man doch aber auf!

Ich lachte müde, leerte das Kräuterschnapsglas in einem Zug und goss mir ein neues ein. Die Helmfrisur erklärte dem Stecktuch mit wütend zuckenden Haarkanten, dass das Gurkerl eben doch viel mehr sei, als die Summe seiner Teile. Der Pertak grinste selbstzufrieden. Das Fernsehpuder auf seinem gut ausgeleuchtetem Gesicht überdeckte den Pflasterschatten restlos. In diesem Moment meinte ich, hinter mir die Tür quietschen zu hören. Ich drehte mich um.

Das Schnapsglas glitt mir aus der Hand. Das konnte doch nicht… Ich machte einen Satz auf die Ledercouch. Ich keuchte. Auf dem Boden, an den Wänden, rund um mich: Ranken. Dicke grüne Triebe, die sich bewegten und unter konstantem Rauschen und Ächzen immer länger und dicker wurden. Das konnte doch bei Gott nicht… Vor meinen Augen sprossen aus den Ranken weitere Triebe, an ihnen baumelten kleinere und größere krumme Gurkerl, knackig und feuchtglänzend, wie frisch aus dem Einlegeglas. Ich träumte doch, oder nicht? Die Ranken kamen näher, als wüssten sie genau, was sie taten. Krochen die Ledercouch empor. Ich sprang davon, doch stolperte über einen Trieb. Es war zu spät. Die Pflanze wand sich um meine Knöchel, um meine Arme, meinen Brustkorb und drückte mir langsam den Atem aus den Lungen. Mir wurde schwarz vor Augen. Mit letzter Kraft brüllte ich um Hilfe. Ich weiß noch, dass ich in diesem Moment dachte: Vielleicht hat er doch recht, der Pertak, dieser Hund.



*

Als ich wieder zu mir kam, schoss mir grelles Licht entgegen. Alles schmerzte. Um mich herum, alles weiß. War ich tot? Ich sah an mir hinab. Die Ranken, immer noch, um meine Handgelenke. Ich blinzelte abermals. Riemen aus Leder um meine Schulter. Ich rüttelte daran, es klapperte. Das Bettgestell. Ich lag in einem Bett, das…

„Guten Morgen!“

Eine Tür quietschte auf.

„Auch endlich wach?“

Eine weiße Gestalt näherte sich. Sie lächelte. 

„Die Fixierung ist nicht angenehm für Sie, ich weiß.“ Sie sprach langsam und sehr laut. 

Ich öffnete den Mund. Schmatzend schälte sich meine Zunge vom Gaumen. Wollte etwas sagen, doch heraus kam bloß ein Krächzen. Die weiße Gestalt zückte ein Klemmbrett und klickte mit einem Kugelschreiber.

„Ich muss Ihnen jetzt ein paar Fragen stellen. Hatten Sie schon einmal eine kichererbsenfarbene Haartönung?“ Ich schüttelte den Kopf. 

„Ihr letzter Purzelbaum, wie lange ist der her?“ „Lange“, hauchte ich.

„Was ist mit Buntspechten? In den letzten acht Wochen einen gesehen?“

Ich zog die fixierten Schultern millimeterweit hoch. Kurz danach wurde mein Kopf auf dem Kissen schwer und ich fiel in einen langen, tiefen Schlaf.

 

*

Wie viel Zeit verging bis ich wieder im Großraum saß, ich weiß es nicht und es ist mir ein wenig unangenehm, die anderen danach zu fragen. Lange genug jedenfalls war ich der Redaktion ferngeblieben, sodass die Gurkerlthemen zur Gänze aus unseren Seiten hatten verschwinden können. Kein vom Wind umhergewehtes Flugblatt fand man mehr in der Fußgängerzone, kein erhitzt brodelnder Gurkerl-Leserbrief flatterte ins Haus, auch der Praktikant hatte keinen Anti-Gurkerl-Sticker mehr auf dem Laptop kleben. Alles schien zur Normalität zurückgekehrt zu sein. Das gewohnte Klackern der Tastaturen, des Pertaks hektische Stelzenschritte, das Schnaufen des Druckers.

Eines Mittags dann, der Winter war ins Land gezogen, vor den Fenstern des Großraums hämmerten sie die Glühweinstände zusammen, hörte ich es aus der Kaffeeküche rumoren. Ein Jauchzen, ein Klappern, ein Fluchen. Eilig kam der Pertak in den Großraum gestelzt. Schnell, keuchte er, ob jemand ein Pflaster habe. Diese Hawaii-Ananas, diese brunzdepperte, mit ihren scharfen Blättern oben, Herrgotthimmelundjosef, so helfe ihm doch jemand. Diese Drecksorschlochananasblättern, meine Güte, was seien die scharf. Mir wurde heiß. Auf den grauen Teppichboden fiel stumm ein roter Tropfen.



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