Natura Morta Extracts

Josef Winkler

Illustration by Hugo Muecke

MIT WEIßEN PFIRSICHEN und mit einem Strauß roten Ginsters lief ein alter Mann einer gehbehinderten, auf einen Ubahneingang der Stazione Termini zuhumpelnden Frau nach, die in einem durchsichtigen Plastiksack zwischen frischem Gemüse die Cronaca Vera stecken hatte, überreichte ihr die Blumen und rief der überrascht sich umdrehenden, den Ginster in Empfang nehmenden Frau ››Auguri e tante belle cose!‹‹ zu, die sich für die Aufmerksamkeit bedankte, ehe sie vorsichtig über die Treppe der Ubahn hinunterschlurfte mit ihrem Pfirsichsäckchen, dem roten Ginsterstrauß, den Leibesleid- und Unglücksgeschichten, den Mord- und Selbstmordgeschichten in der Cronaca Vera. Vor der rollenden Ubahntreppe kniete ein verschmutzer, einen Pappdeckel mit der Ausschrift Ho fame! Non ho una casa! haltender Bettler. Zu seinem nackten Füßen lag ein großes Heiligenbild von Guido Reni, auf dem der Erzengel Michael mit einem Schwert auf den am Rande der Hölle liegenden Dämon niedersticht, der die Gesichtszüge des Kardinals Pamphilj, des späteren Papstes Innocenzo X, trug. Neben dem Heiligenbild, auf dem ein paar zerknittert Lirescheine lagen, flackerte eine Kerze in einem roten Plastikbehälter. Einer der drei über der rollende Ubahntreppe kollernden Granatäpfelkerne rieselten über die Betonstufen hinunter. Unter den gruppenweise vor einem Blumenladen in der Ubahnhalle umstehenden, buntbekleideten Somalierinnen, die als Dienstboten in römischen Haushalten arbeiten, bei Bekannten wohnen und noch keine Adresse haben, verteilte ein Mann ein dickes Bündel Briefe mit arabischen Aufschriften. Ein schwarzhaariger, ungefähr sechzehnjähriger Junge, der lange, fast seine mit Sommersprossen übersäten Wangen berührende Wimpern hatte und ein silbernes Kruzifix um seinen Hals trug, las laut die Kritzelei von der Wand der Ubahnstation Luisa ama Remo. Ti voglio bene da morire!

Der schwarzhaarige, sechzehnjährige Junge, der lange, fast seine Wangen berührende Wimpern hatte, ein silbernes Kruzifix um seinen Hals trug und in Begleitung seiner jüngeren Schwester in der Ubahn saß, mit der er zum Markt auf die Piazza Vittorio Emanuele unterwegs war, drückte unter einem Werbeplakat für Pferdefleisch eine braune Hundewelpe an seine Brust. Ho scelto la carne equina, perché i bambini ne vanno matti stand auf der linken Plakathälfte über der Abbildung einer besorgt auf ihre Kinder schauenden Mutter. Auf der rechten Plakathälfte war ein fingerzeigender Arzt im weißen Mantel zu sehen, über dem geschrieben stand: Consiglio la carne equina perché contiene ferro in misura quasi doppio delle altre carni. Jedesmal, wenn die junge, mit Schmuck überladene Frau ein neues Bild aus einem Kuvert zog, auf dem einjährige Zwillinge abgebildet waren, schluchzte sie leise und zog an ihrer Nase. Bevor sie an der Piazza Vittorio aus der Ubahn stieg, streckte sie ihre zehn Finger aus und warf einen kontrollierenden Blick auf ihre Ringe. Eine kleine, feine, rote Lederaktentasche festhaltend, stieg ein Mann mit zwei halbwüchsigen marokkanischen Jungen aus der Ubahn und ging unauffällig, ein paar Schritte hinter den beiden Knaben, die Rolltreppe auf die Piazza Vittorio Emanuele hinauf.

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EINE SCHWARZVERSCHLEIERTE NONNE hielt in der einen Hand mehrere mit Gurken, Aprikosen und Zwiebeln gefüllte Plastiksäcke und drückte mit der anderen zwei große, in Plastik eingepackte blondhaarige Barbiepuppen an ihre Brust, blieb beim Tomatenhändler stehen, der sein Gemüsemesser an einer Schnur vom Hals hängen hatte, setzte die Puppen auf einer Holzkiste ab und bestellte ein paar Kilo Strauchtomaten. Die zum Verkauf angeboteten Kleider einer alten, schwarzgekleideten, auf dem Boden hockenden Zigeunerin lagen in einem aufgespannten schwarzen Regenschirm. Der kleine Bruder verzog sein Gesicht, als ein sechzehnjähriges Zigeunermädchen aus einem Wäschebundel ein paar mit roten Herzen bedruckte Boxershorts herauszog, sie dem Knaben in die Hand drückte und ihn an der Schulter anstieß, er solle von Verkaufstand zu Verkaufstand gehen, die Wasche zum Verkauf anbieten. Eine Frau fieselte vor einem offenen Jutesack Lavendel von den Stengeln und verpackte die stark duftenden, getrockneten Blüten in blaue, feinlöchrige Kunststoffsäckchen. Der Wind drehte trockene, weiße und rote, auf dem Boden liegende Zwiebelschalen im Kreis. Eine auf weißen und hellbraunen Zwiebelschalen stehende und Geld zählende Zigeunerin schrie laut auf, als ihr ein spielender Zigeunerjunge eine kantig zerquetschte Coladose auf ihren rechten Fußknöchel schoß. Mit Wintermantel und Hut—es hatte weit über dreißig Grad Celsius—gign ein alter Araber mit fünf in Zellophan verpackten Rosen an den Verkaufsständen entlang und bot sie den Marktbesuchern und Händlern an. Die rote Rüben und Erdäpfel verkaufenden Frau machte mit ihren orangefarbenen Plastikhandschuhen ein Kreuzzeichen, als ein Heiligenbildchen verkaufender, bärtiger Mönch mit langer, brauner Kutte an ihrem Stand vorbeiging. Eine alte, schwarzgekleidete Zigeunerin schenkte dem neapolitanischen Marktmusikanten, der, mit einer Bierflasche in der Hand, singend und bettelnd durch den Markt ging, ein Hemd, das sie verkaufen wollte, aber nicht losgeworden war. Die stark behaarten Unterarme des Neapolitaners waren mit Schlangenmotiven und Pfeilen tätowiert, sein bärtiges Gesicht krebsrot. Zwischen den Gemüseständen, bei ein paar neuwertigen, weggeworfenen Kleidungsstücken, fand er eine Jacke, die er, sich in einer spiegelnnden Autofensterschiebe betrachtend, anprobierte. Seine alte, blaue Trainingsanzugjacke ließ er neben dem Kleiderhaufen liegen und ging, an der Bierflasche nippend, weiter an den Verkaufsständen entlang.

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PICCOLETTO mit den langen, fast seine Wangen berührenden Augenwimpern, der mit gespreizten Beinen zwischen der öffentlichen Toilette und dem Souvenirladen auf einem mit durchpfeilten Herzen bemalten Pappdeckel saß, schob den Hals einer geschlossenen Mineralwasserflasche in seinen Mund, lutschte am blauen Verschlußdeckel und klopfte die leere Flasche auf seine braungebrannten, unbehaarten Oberschenkel. In den Hosenröhren seiner gegabelten Beine sah man in der zu weit geschnittenen gelben Unterhose seine leichtbehaarten Hoden, an seinen hellhäutigen Leisten die schwarzen Schamhaare. Er nahm sein um den Hals hängendes silbernes Kruzifix in den Mund, benetzte es mit seinem Speichel, ließ es aus dem Mund auf seine Brust fallen und griff wieder nach der leeren, wegrollenden Mineralwasserflasche. Ein ihm gegenübersitzendes blondes Mädchen, das einen Rom-Stadtplan in ihren Hosenbund gesteckt hatte, blätterte in einem Bildband von Michelangelo, berührte, mit ihrer rechten, flachen Hand über die Seiten vorlese streichelnd, die abgebildeten halbnackten Figuren und spuckte immer wieder auf Brotbrösel aufpickende Tauben. Ihr weißes, kurzärmeliges Leibchen war mit weinroten Kamelen und sandfarbenen Pyramiden bedruckt. Das Silberkruzifix zwischen seine Lippen pressend, stand der Sohn der Feigenverkäuferin auf, weitete seine an den Hinterbacken klebende Unterhose, rückte, in seine Hose greifend, seine Geschlechtsteile zurecht und setzte sich, das an einem Kaugummi kauende, mit gespreizten Beinen ihm gegenübersitzende, den Rom-Stadtplan tiefer in ihren Hosenbund schiebende Mädchen fixierend, wieder auf den Pappdeckel.

Nachdem das Mädchen den Bildband durchgeblättert, ihn ihrer rauchenden, ebenfalls mit einer kurzen Hose bekleideten Freundin gereicht hatte, zog sie eine halbvolle Colaflasche aus ihrer Stofftasche und setzte sie an ihre Lippen. In die weitgeschnittenen Hosenröhren des Mädchens starrend – durch ihre dünne pfirsichfarbene Unterhose schimmerten ihre Schamhaare – begann der Sohn der Feigenverkäuferin an einer Fruchtschnitte zu nagen, während das Mädchen, die Reste der warmgewordenen Cola hin- und herschwenkend, auf die hinunterhängenden Geschlechtsteile des Jungen schaute und das Gurren einer vor ihren Beinen Brotbrösel zwischen den Pflastersteinen herauspickenden Taube nachahmte, die an ihrem rechten, verkrüppelten Fuß nur mehr eine rote Kralle hatte. Von vorne und von hinten fotografierte eine junge Touristin zwei lachende, mit bloßer Unterwäsche vor der Casa del Rosario stehende Halbwüchsige, die ihre knöchellangen Straßenhosen ausgeborgt hatten und darauf warteten, daß ihre Schulkameraden wieder aus dem Petersdom kamen. Der eine Junge hielt sein weißes Netzleibchen in die Höhe und zeigte lachend und kokett, sich in den Hüften wiegend, seine sich deutlich an einer enggeschnittenen Designerunterhose abzeichnenden Geschlechtsteile. Ein vorbeidefilierender Polizist schaute dem an der Mauer des Heiligenkitschladens sitzenden, an einem Kaugummi kauenden blonden Mädchen auf die Hüften. Er zuckte zusammen und legte seine Hand auf den Pistolenknauf, als ihn eine Touristin vorsichtig am Oberarm antippte und ihn um eine Auskunft bat.

Das blonde Mädchen mit den weinroten Kamelen auf dem Leibchen fabrizierte den Kaugummi über ihre herausgestreckte Zunge, so daß er an ein über eine pralle Eichel gestreiftes Kondom erinnerte, blies ihn zu einem Ballon auf, bis sich laut krachend die blauen, klebrigen Kaugummifetzen um Mund und Nase legten. Der Sohn der Feigenverkäuferin, der auf diesen Augenblick gewartet hatte, stand lachend von seinem Sitzplatz auf, kniete vor dem Mädchen nieder und half ihm – seine Hilfeleistung im römischen Dialekt kommentierend – die Kaugummiteilchen von Mund und Kinn zu zupfen. Ohne zu fragen zog er dem Mädchen den Rom-Stadtplan aus ihrer kurzen Hose, den sie bis zu ihren Schamhaaren hineingesteckt hatte, setzte sich wieder auf seinen Pappdeckel, blätterte nervös den Stadtplan auf, täuschte vor, nach einem Stadtviertel oder nach einer Straße zu suchen, und klappte ihn wieder zusammen. Er drückte den Stadtplan zuerst an sein Kinn und schließlich, an seiner Himbeerfruchtschnitte weiternagend, unauffällig an seine Nase. An seinem rechten Handgelenk hingen mehrere kleine farbige Kunststoffschnuller, die man in diesem Sommer in Rom an unzähligen Ständen in allen Farben und Größen erwerben konnte und die vor allem von Kindern und Jugendlichen um Hals und Handgelenk getragen wurden, aber auch Schafe ausweidende Fleischhauer und Fischbäuche aufschlitzende Fischhändler auf dem Markt auf der Piazza Vittorio Emanuele, die kokett den ebenfalls mit Plastikschnullern behängten Zigeunermädchen nachriefen, schmückten sich mit diesen Maskottchen.

Der erregt in die Hosenröhren des Mädchens starrende und am Stadtplan riechende Junge hielt, nachdem er sich in die Zunge gebissen hatte, mit dem Fruchtschnittenknabbern inne, stockte und blickte verlegen auf die tänzelnden roten Füße der Tauben, als er den Geschmack des Blutes in seinem Mund wahrnahm. Piccoletto stand auf, betupfte mit einem Taschentuch seine Lippen, reichte mit den Worten »Mille grazie!« dem Mädchen den Rom-Stadtplan und suchte die Toilette auf. Wohl zehn Minuten dauerte es, bis er von der Toilette zurückkehrte und sich wieder an seinen Platz setzte. Als der Junge mit einer grauen Taubenfeder, aufs Mädchen schauend, kokett seine rechte Kniekehle kitzelte und das blonde Mädchen mit den weinroten Kamelen auf dem Leibchen einen schneckenspurähnlichen Streifen an seinem angewinkelten Unterarm bemerkte, weitete es am rechten Oberschenkel den Gummi ihrer pfirsichfarbenen, feuchtgewordenen Unterhose, fächelte sich Frischluft zu und ließ den Gummi mehrere Male an den Oberschenkel schnalzen. Danach warf sie mit den kalten Zigarettenstummeln ihrer Freundin nach den gurrenden und Weißbrotbrösel zwischen den Pflastersteinen herauspickenden Tauben.

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ZWISCHEN DER MARKTBAR und einem Alimentari stützte sich, auf den Hinterbeinen stehend, ein weißgrauer Husky mit hocherhobenen Vorderpfoten auf einen Steinphallus and schaute einem in den Park der Piazza San Vittorio hupend einfahrenden Ambulanzwagen nach, der unter den Ästen einer Pinie einen jungen, bewußtlosen, drogensüchtigen Mann, dem Schaum vor dem Mund stand, aufzulesen hatte. Erschrocken hob die schwarzweiße, im tiefen Gras hokkende Katze ihren Kopf und spitzte ihre außen weißen, innen rosaroten Ohren, als sie beinahevon einer Bierflasche getroffen worden wäre, die der Sohn der Feigenverkäuferin, der diesmal einen kleinen orangefarbenen Kunststoffschnuller an seinem linken Ohrläppchen trug, wegwarf, nachdem er sie mit seinem Freund, dem Sohn des Alimentarihändlers, gemeinsam geleert hatte. Eine junge Zigeunerin putzte mit einer Kunststoffwindel den Hintern ihres Kleinkindes, warf die Windel an den Stamm einer Pinie, setzte ihr Kind mit bloßem Hintern auf ihren Schoß, zupfte aus einer angebrochenen Paprikawurst kleine Fleisch- und Fettstücke und steckte sie ihrem Kleinkind in den Mund. Als der mit dem Sohn des Alimentarihändlers am Geländer des Ubahnaufganges lehnende Piccoletto den an den beiden im Park ineinander im Gras sich verbeißendenund wälzenden, schwarzweißen Katzen vorbeigehenden halbwuchsigen Zigeunermädchen ››Carine!‹‹ zurief, begannen die sich lächelnd weiter unterhaltenden Mädchen, die kleine farbige Kunststoffschnuller an ihren Ohrläppchen trugen, sofort mit ihren Haaren zu spielen und Locken um ihre Zeigefinger zu wickeln. Eines der beiden Zigeunermädchen, das ihre Hände im Nacken verschränkte, verdrehte, kokett in die Unterlippe beißend, ihren Kopf nach den beiden Jungen. Das Mädchen zerriß ein Stück Stoff, drückte die Fetzen an ihre mit rotem Stift beschmierten Lippen und warf sie auf den Ast der Pinie. Die beiden Jungen—der Alimentarihändlersohn stieg auf die Schultern von Piccoletto—holten das mit Lippenstift beschmierte Tuch von Baum und drückten es, die Fetzen einander aus den Händen reißend, an ihre Nasen. An einer grünen Feige knabbernd, löste die eine Toilettenfrau im Park der Piazza San Vittorio ein Kreuzworträtsel, die andere vertiefte sich in die satt bebilderten Kriminalberichte der Cronaca Vera. Ein Gecko lief irritiert zwischen schwarzen Ameisen, die rote Köpfe hatten, über die sonnenbeschienene Mauer der Markttoilette und versuchte verzweifelt seine Nische wiederzufinden, die soeben von einem Maurer vergipst worden war. Neben dem Eingang der Markttoilette hokkend, zog Piccoletto dem Sohn des Alimentarihändlers einen Holzsplitter aus dem Ellbogen und beschmierte mit seinem Speichel die Wunde seines Freundes.

...In dem Augenblick, als bei Blitzen und ohrenbetäubenden Donnerschlägen im niederprasselnden und auf dem Asphalt aufklatschenden Regen eine dritte, laut hupende Feuerwehr mit hoher Geschwindigkeit über die Straßenbahngleise um die Kurve fuhr und in weitem Bogen rotgefärbtes Wasser von den bis zur Straßenmitte geschwemmten Fischresten auf die Fischstände zurückspritzte, lief Piccoletto mit einer warmen Pizza auf die Straße hinaus, in den vorbeipreschenden Feuerwagen hinein. In weitem Bogen flog die Pizza auf den Asphalt. Der Junge wurde mehr als zehn Meter von der Feuerwehr mitgeschleift. Nur mehr mit einer gelben Unterhose und dem zerissenen Leibchen bekleidet, auf dem die Beatles abgebildet waren, lag Piccoletto rücklings auf dem Asphalt. Der Regen platschte auf seinen Körper, auf sein Gesicht, auf seine offenen, unbeweglichen Augen und rann in seinen Mund hinein. Blut rann aus seiner Nase und aus seinen Ohren. Vor dem Verunglückten stehend, warf der Fahrer mehrere Male wort- und hilflos seine Arme in die Höhe...

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