—Leonard Cohen, Chelsea Hotel #2
Es kommt eine Zeit, da fällt alles ab von einem, die Wut der jungen Jahre und das Leiden an der Ungerechtigkeit der Welt, auch die Zuversicht, sie würde besser werden oder sogar gut, wenn man sich nur genug darum bemühte und mit ganzem Herzen. Es kommt eine Zeit, da ist dieses Herz plötzlich leer geworden und der Mensch, auf sich selbst zurückgeworfen, ganz allein mit sich. Keine schöne Zeit.
*
Manchmal erinnerte er sich Daran, wie er früher in einem vollen U-Bahnzug stets daran gedacht hatte, daß die Züge in die Konzentrations—und Vernichtungslager noch viel voller waren als der, in dem er sich gerade befand, und auch keine Bänke an den Seiten der Waggons angeschraubt waren. Auf diesen Vergleich hatte ihn Graziela gebracht, als sie ihm erzählte, daß es diesen Sprung aus dem Alltag in die Vergangenheit, von der U-Bahn nach Auschwitz, in dem amerikanischen Film The Pawnbroker (1964, Regie: Sidney Lumet) gebe, und daß sie ihn nicht mehr aus dem Kopf bekomme. Allerdings, hatte sie ausgeführt, verursache er ihr einigen Ekel vor sich selbst, und das aus zwei Gründen: Zum einen finde sie es anmaßend, ihre durch und durch komfortable und in jeder Hinsicht menschenwürdige äußere Lebenssituation in irgendeiner Weise mit derjenigen der von der Zivilisation Verlassenen zu vergleichen, finde “anmaßend” jedoch ein falsches Wort, weil es viel zu schwach sei, “vermessen,” hatte sie gesagt, wäre vielleicht ein besseres Wort, auch “Hybris” wäre passend in diesem Zusammenhang, aber auch das sei noch zu schwach, alles zu schwach, viel zu schwach . . . obszön sei es, dieses sei das rechte Wort: daß sie sich aber den Luxus leisten könne, nach dem rechten Wort zu suchen, daß sie dafür die Zeit und die Muße habe, daß ihr zum Denken die Zeit und der Raum und das Hirn zur Verfügung stünden, verstärke ihren Ekel noch und sei der zweite Grund für ihn. Er hatte damals gedacht, daß “obszön” schon viel zu abgegriffen sei. Er fand “frivol” in diesem Zusammenhang viel besser. Aber das hatte er nicht gesagt, sondern weiter Graziela zugehört, die weiter ausführte, daß dieser Film zudem nicht von jemandem wie ihr handle, einer Enkelin der Täter (wenngleich es, wie er wußte, weil sie das schon ausführlich besprochen hatten, in ihrer Familie keine echten Täter, nicht einmal Parteimitglieder gegeben hatte, sondern nur ihren Großvater, der als Soldat höchstens, wenn man streng war, ein Mitläufer genannt werden konnte und der als zweiundzwanzig—jähriger Offizier und Kompanieführer der 6. Armee Stalingrad nur dadurch entkommen war, daß er kurz vor Erreichen der Stadt, nachdem er den Flughafen von Rostow erstürmt hatte, schwer am Kopf verletzt worden war, das heißt, den sogenannten “Heimatschuß” erhalten hatte, welcher ihm bescherte, aus dem Kampfgebiet in ein Lazarett in Ungarn ausgeflogen und nach seiner Genesung vom weiteren Kriegsdienst entbunden zu werden [nach der Eroberung ebendieser Stadt Rostow war Sabina Spielrein dort bei einer Massenerschießung zusammen mit ihren beiden Töchtern ermordet worden; Grazielas Großvater hatte zwar nicht zu den Einsatzgruppen gehört, er hatte nicht an dieser Erschießung teilgenommen, er hatte jedoch an der Eroberung der Stadt Rostow mitgewirkt und dergestalt eine Voraussetzung für die Ermordung von Sabina Spielrein geschaffen; auch das hatten sie lang und breit besprochen, wie man damit umgehen könne, ob das auszuhalten sei]), der Film The Pawnbroker also handle von einer ganz anderen Figur, nämlich von jemandem (Sol Nazerman, gespielt von Rod Steiger [1966 für diese Rolle neben Laurence Olivier in Othello, Oskar Werner in Ship of Fools, Richard Burton in The Spy Who Came in from the Cold und Lee Marvin in Cat Ballou für den Oscar für den besten Hauptdarsteller nominiert, den letzterer gewann]), der mit Grund die Überlebensschuld auf sich lasten fühle. Es sei nur ein Bild aus einem Film, das sie nicht vergessen könne und das ihr bei jeder Fahrt in einem vollen U-Bahnwagen sofort vor die Augen komme.
Mit dieser Erzählung hatte sie dieses Bild auch ihm eingepflanzt. Er hatte seinerzeit den Film The Pawnbroker aus der Mediathek der Theaterwissenschaftler entliehen und ihn noch einmal auf dem Videorekorder des Instituts angeschaut. Danach hatte auch er sich in vollen U-Bahnwagen sehr unwohl gefühlt.
Wenn er sich nun daran erinnerte, dann stellte er fest, daß ihm dieses Unbehagen zwar verlorengegangen war, er sich aber nicht dafür schämte. Früher hätte er sich durchaus dafür geschämt, sich nicht zu schämen.
Jetzt nicht mehr.
Jetzt konnte er auch in vollen Waggons U-Bahn fahren und an die Menschentransporte denken und sich trotzdem nicht unbehaglicher fühlen, als er sich eh schon fühlte. Er konnte jetzt auch Birken sehen, ohne an Birkenau zu denken, und hielt sich dabei nicht einmal für gefühllos.
Früher hatte er sich vor solcher Fühllosigkeit sehr gefürchtet und war stets vor ihr auf der Hut gewesen. In einem fort hatte er seine Empfindlichkeit beobachtet und überprüft, und es war ihm keine Möglichkeit des Gedenkens unentdeckt geblieben.
*
Jedem Lied wohnt Auschwitz inne,
jedem Baume, jedem Strauch.
Jedem Lied wohnt Auschwitz inne
und jedem deutschen Menschen auch.
Fiderallala, fiderallala, fideralla lala la.
*
Er war jetzt Nämlich an sein Unglück gewöhnt. (Gnade der späten Geburt, haha.)
An sein Unglück war er jetzt nämlich gewöhnt.
Fiderallala, fiderallala, fideralla lala la.
Wann diese Gewöhnung eingesetzt hatte, hätte er nicht zu sagen vermocht; sehr wahrscheinlich, nachdem er die dreißig überschritten hatte. Das war ewig her. Vielleicht war es auch erst geschehen, nachdem das Gedenken zur Staatsaufgabe erklärt worden war. Es war ihm aufgefallen, daß er nicht mehr hoffte, das Unglück würde einmal enden, auch unternahm er schon lange keine Anstrengung mehr, es zu enden. Das Unglück war da, wie er da war, es gehörte zu ihm. Anders konnte er sich gar nicht denken, ohne Unglück sich nicht sich vorstellen, er lebte ganz selbstverständlich darin. Manche leben auf dem Land, andere in der Stadt, die einen haben dunkle Haare, die anderen helle. Die einen leben im Glück, die anderen im Unglück, so einfach war es geworden. Er gehörte halt zu denen, die im Unglück leben.
Früher hatte er noch darüber lachen können. Denn es war doch zum Lachen, daß ihm nichts gelang, daß er sich immer so ungeschickt benahm, daß er über die kleinsten Dinge tagelang grübeln mußte, daß keine Frau sich für ihn interessierte, daß er seinen verschiedenen Ticks nicht entkam, daß er regelmäßig fast überfahren wurde und so weiter. Im Alltag war er eine Witzfigur, aber es war gar nicht lustig. Dazu war es viel zu anstrengend. Es war der zwar nicht lustige, aber doch lächerliche Teil seines Unglücks, der von ihm abgefallen war. Früher nämlich war sein Unglück konkret gewesen, in gewisser Weise. Solange er geglaubt hatte, es rühre allein von Auschwitz her, hatte es einen Inhalt gehabt. Damals war der Grund für sein Unglück nicht allein der gewesen, daß das in der Welt war, Auschwitz, daß es das gegeben hatte, vielmehr hatte er in einem fort daran gedacht, was er tun konnte und was die Häftlinge in Auschwitz nicht hatten tun können oder daß es für sie etwas ganz anderes bedeutet hatte, als es für ihn bedeutete. Daß sie zum Beispiel nicht ins Bett gehen konnten, wann sie wollten, das hatte er jedesmal gedacht, wenn er ins Bett ging, und sowieso kein Bett hatten, sondern eine Pritsche, das hatte er, wenn er im Bett lag, stets als nächstes gedacht, und die Pritsche auch nicht für sich alleine hatten, während er damals wie heute nicht hätte sagen können, wann er das letzte Mal nicht alleine im Bett gelegen war. Daß sie nicht aufs Klo gehen konnten, wenn sie mußten, sondern nur zu einer vorgeschriebenen Zeit, die auch knapp bemessen war, so daß die Notdurft eine doppelte wurde, hatte er immer gedacht, wenn er aufs Klo ging, und wenn er unter der Dusche stand, hatte er daran gedacht, daß sie, wenn sie nach der Ankunft in die “Sauna” geführt wurden, unter der Dusche die Wassertemperatur nicht selbst einstellen konnten, sondern extrem heißes im Wechsel mit extrem kaltem Wasser erdulden mußten.
Dies alles.
Das war lange Zeit seine konkrete Not gewesen, der Auschwitzvergleich; daß der so absurd war, hatte sie verstärkt. Doch war diese Not eben irgendwann von ihm abgefallen. Immerhin arbeitete er jeden Tag im Weinberg des Gedenkens, viel—leicht lag es daran, immerhin tat er nach wie vor alles, was in seinen Kräften stand, um den Überlebenden ihre größte Sorge zu lindern: daß ihr Leid sich wiederholen könne, daß andere wieder erleiden müßten, was ihnen geschehen war.
Mittlerweile sah er jedoch keinen Grund mehr für diese Sorge. Nicht in Deutschland.
Zwar befiel ihn gelegentlich noch der heillose Haß auf DEUTSCHLAND, aber der verging immer schnell. Dieser Haß gehörte halt zum Nationalcharakter, und Hans Frambach war nicht weniger deutsch als die anderen, wenn er auch nicht zu beschreiben vermocht hätte, worin es nun eigentlich bestand, dieses Deutschsein (vgl. Walter Abish: How German Is It.—©Walter Abish 1979, 1980, 1982). Bei solchen Haß—anfällen kam er sich immer vor, als sei er plötzlich wieder jung geworden, das war das eigentlich Scheußliche an ihnen, dieses erstickende Gefühl, plötzlich wieder jung zu sein und voll von reinem gerechten Haß. Denn jung wollte er gewiß nicht noch einmal sein, er war ja froh, schon mindestens die Hälfte seines Lebens hinter sich gebracht zu haben.
Meist war ihm Deutschland egal, also das Deutschland, in dem er täglich lebte.
Er hatte gelernt, es von dem zu unterscheiden, an dem er täglich arbeitete.
In seinem Deutschland gefiel es ihm eigentlich ganz gut. Es funktionierten dort alle öffentlichen Einrichtungen, es hungerte niemand, der Warennachschub verlief völlig reibungslos, und Korruption fand nur in den Chefetagen statt und nicht in seinem kleinen Alltag, in dem weder Polizisten noch Ärzte bestochen werden mußten.
Was will man mehr.
Es hatte lange gedauert, bis er sich hatte eingestehen können, daß er das Land mochte, in dem er lebte. Früher wäre ihm das wie Verrat erschienen.
Auf die Frage, warum er ausgerechnet im Institut für Vergangenheits-bewirtschaftung arbeite und nicht in einem lieblicheren Archiv, hätte er früher wie heute geantwortet, er tue es für die Überlebenden, für diese Greisinnen und Greise mit Augen wie Bohrschächte so tief, auf deren Grund man nicht schauen konnte und es auch nicht wagte. Dabei schienen sie ihm so voller Lebenslust, daß er sich neben ihnen vorkam wie tot.
Er wußte wohl, daß es auch Überlebende gab, die keine Lebenslust aus den Lagern hatten retten können.
Von denen erzählten die anderen gelegentlich in der abgeschlossenen Vergangenheit, denn die meisten waren schon tot. Die noch nicht tot waren, wollten mit seinem Institut oder sonstigen Gedenkeinrichtungen nichts zu tun haben. Doch wurden auch die anderen immer weniger.
Es hatte ihn allerdings niemand je gefragt, warum er ausgerechnet diese Arbeit machte und keine andere.
Früher waren die Leute bleich und stumm geworden, wenn er ihre Frage nach seinem Beruf beantwortete, heute nickten sie, als wäre so eine Beschäftigung das Selbstverständlichste überhaupt.
Gedenkarbeit, eh klar.
Nach wie vor wechselten sie das Thema.
Er hatte es ja auch schon gewechselt.
Zumindest schien ihm so, als habe er es gewechselt.
Er ging einfach jeden Tag ins Archiv. Dort verrichtete er
seine Arbeit und erfüllte seine Pflicht.
Er war sich bewußt, daß die Angehörigen der Wachmannschaften in den KZs genau dieselbe Antwort gegeben hätten, wenn man sie gefragt hätte, warum sie ausgerechnet diese Arbeit taten und keine andere. Immerhin hatte man sie gelehrt, Deutschsein bedeute, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun (Hier kam es zum Bewußtsein und erhielt seinen bestimmten Ausdruck, was D e u t s c h sei, nämlich: die Sache, die man treibt, um ihrer selbst und der Freude an ihr willen zu treiben; wogegen das Nützlichkeitswesen, d. h. das Princip, nach welchem eine Sache des außerhalb liegenden persönlichen Zweckes wegen betrieben wird, sich als undeutsch herausstellte. Richard Wagner: Deutsche Kunst und Deutsche Politik.—Leipzig: Verlagsbuch-handlung von J. J. Weber 1868. S. 82). Ihn hatte man aber außerdem gelehrt, alles kritisch zu hinterfragen, als allererstes das Deutschsein. (Nicht aber hatte man ihn gelehrt, daß in diesem Zitat auch von der Freude die Rede war.) Daher hatte ja das Unbehagen am Verlust des Unbehagens gerührt, denn wenn er jenen kritisch hinterfragte, erkannte er sich als die Form des Deutschen, die all den Selbsthaß erzeugte. Er war ein Mitglied der Wachmannschaften geworden, und es störte ihn nicht einmal mehr. Es schwinden, es fallen / Die leidenden Menschen (Friedrich Hölderlin: Hyperion oder Der Eremit in Griechenland. II. Band, 2. Buch. [Hyperion an Bellarmin, “Hyperions Schicksalslied”]). Es war, seit er es auf nichts Konkretes mehr beziehen konnte, sein Unglück einfach da, und er
hatte sich darein ergeben.
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Das Unglück war so selbstverständlich wie die Notwendigkeit zu atmen, und es war größer, unendlich viel größer als er, aber trotzdem war es ganz abhängig von ihm, denn wenn es ihn nicht gäbe, so bildete er sich in vergleichsweise fröhlichen Momenten ein, dann hätte doch das Unglück kein Wirtstier, von dem es leben könnte. Tatsächlich wußte er, daß das Unglück sich um ihn nicht scherte, sondern unabhängig von ihm so groß war, wie es war. Denn wenn es kein Unglück gäbe, dann auch ihn nicht, er lebte ja nur im Unglück und vom Unglück. Ohne das Unglück hätte er sich gar nicht definieren können. Es war nicht einmal seins, in Wirklichkeit gehörte es ihm nicht. Es war nicht sein Unglück, sondern
Das Unglück.
Wenn er es von sich abzog, blieb nichts von ihm übrig, nichts. Gar nichts. (Er wußte das alles. Aber es nützte nichts.)
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Wenn er sich Heute daran erinnerte, dann fragte er sich, wie es wohl Graziela inzwischen ergehe, ob sie heute in vollen U-Bahnzügen immer noch an Menschentransporte in Viehwaggons dachte, die in Baracken führten, welche als Pferdeställe für die Wehrmacht entworfen worden waren. Er hatte sich jedesmal, wenn er sich daran erinnerte, vorgenommen, sie danach zu fragen, es aber immer wieder vergessen. Sie sprachen kaum noch über Auschwitz, und wenn, dann nicht mehr so wie früher, also nicht mehr mit einem Kloß im Hals und dem Gefühl, an einem Abgrund zu stehen, sondern ganz sachlich.
Sie sahen sich sowieso viel seltener als früher.
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Neue Woche, altes unglück. Er fuhr mit dem Aufzug in den sechzehnten Stock des Instituts für Vergangenheitsbewirtschaftung hinauf, hielt seine Mitarbeiterplastikkarte auf die dafür vorgesehene Fläche neben dem Eingang, bis er ein leises Klicken hörte, öffnete die Tür des Archivs und trat in den ihm vertrauten Empfangsraum hinein, einen Kubus aus kaltem Licht. Die Neonröhren, die an der Decke leise vor sich hinbrummten, leuchteten diesen Raum bis in den letzten Winkel aus und ließen Frau Kermers wohlgepflegtes blondes Haar eisig strahlen. Es umfloß sie bis zu den Ellenbogen hinunter, und da sie stets darauf achtete, es nicht in Bewegung zu bringen, kam sie ihm manchmal vor wie eine Statue, ein gleißender Empfangsbuddha. Meistens aber wie der Drache vor der Höhle. Oder die Hüterin des Grals. Und manchmal wie die Bestie von Buchenwald.
Er zog die Mundwinkel in einer Weise hoch, daß man denken konnte, er lächle. Man mußte das sogar denken. Durchaus beachtete er die sozialen Gepflogenheiten, darum hatte er die Mundwinkel nach oben gezogen, denn das war die Art, wie der Mensch lächelte.
“Guten Morgen, Frau Kermer,” sagte er und drehte sich gleich zur Garderobe um, wobei ihm die Mundwinkel wieder dorthin fielen, wo sie hingehörten. Sie sprach ihren Morgengruß gegen seinen Rücken, während er mit großer Sorgfalt seinen Mantel aufhängte. Er schob einen Kleiderbügel so in dessen Schultern hinein, daß er vollkommen symmetrisch auf diesem Bügel lag, den er dann an die Garderobe hängte, wobei er darauf achtete, daß dieser sein Mantel so frei wie möglich hängen konnte, kaum die Garderobe berührte und bestimmt nicht Frau Kermers Mantel, der dort schon hing. Er bückte sich, nahm seine Aktentasche, die er zwischen seine Beine geklemmt hatte, unter den linken Arm, drückte sie sich vor den Bauch und strich sich mit der rechten Hand durchs Haar, als er sich wieder aufgerichtet hatte. Frau Kermer hatte ihm wohl zugesehen, denn gerade, als er sich zum Gehen wandte, warf sie ihren Enterhaken nach ihm aus.
“Herr Frambach!” riß sie ihn zurück, er geriet kurz aus dem Gleichgewicht, und als sie anfing zu sprechen, konnte er nicht verhindern, daß sich seine Mundwinkel wieder nach oben schoben. Das ging ganz automatisch.
“Herr Marschner bittet Sie, sich ab halb zwölf freizuhalten. Er möchte sich gerne mit Ihnen besprechen.”
Frambach nickte.
“Wann kommt er denn?” fragte er, um etwas Konversation zu machen und seine Mundwinkel zu entlasten.
“So um elf,” sagte Frau Kermer. Frambach nickte wieder. Das Lächeln, das Frau Kermer nicht spiegelte, drückte sich immer fester in sein Gesicht und tat ihm weh.
Marschner wußte natürlich, daß es sehr unwahrscheinlich war, ihn zu egal welcher Zeit innerhalb der Kernarbeitszeit nicht im Institut anzutreffen, immerhin saß er treulich jeden Tag von früh bis spät an seinem Schreibtisch, um ein Blatt nach dem anderen ins Archiv einzufüttern, und hatte keine Termine außer Haus, aber Marschner setzte Besprechungen dennoch immer im vorhinein fest und ließ den jeweiligen Termin auch immer durch Frau Kermer ausrichten. Auf diese Weise suchte er einen Eindruck allgemeiner Dringlichkeit und hoher Professionalität zu erwecken. Es gelang ihm auch ganz gut.
Die schwere Fältelung von Frau Kermers Stirn hatte ihr Gesicht schon wieder in Richtung ihres Schreibtischs hinuntergezogen. Auch ihre Arbeit schien stets von großer Wichtigkeit, weswegen die Bearbeitung ihrer Papiere niemals einen Aufschub duldete. Sie hatte sein Lächeln nicht auf- und es ihm dadurch nicht abgenommen, weswegen er sich nun, als er in den nicht sehr hellen Flur, der zu seinem Büro führte, hineingetreten war, kurz schüttelte, um es aus dem Gesicht zu schleudern. Er umklammerte seine Tasche mit beiden Armen und schüttelte sich einmal kurz und kräftig, nur kurz, aber kräftig, da war er das idiotische Lächeln wieder los. Es lag nun im Dunkeln auf dem Boden, der schon übersät war mit all dem Lächeln, das er sich allmorgendlich abzwang, um Frau Kermer zu begrüßen. Die Putzfrau schob sein Lächeln gelegentlich in die Ecken, aber entfernen konnte sie es nicht, dazu fehlte ihr das Gerät.
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Das Institut Für Vergangenheitsbewirtschaftung liegt im Zentrum der Stadt, die sehr groß ist und weit in die flache Landschaft hinausgreift. Verglichen mit den anderen Städten des Landes, ist sie nicht sehr alt, sondern sogar sehr jung. Dennoch ist sie voller Geschichte. Mit schweren Hämmern hat die Geschichte ein ums andere Mal in diese große Stadt hineinge- schlagen, und man sieht es ihr an—gerade weil sie immer wie—der versuchte, wegzuschaffen, kleinzumachen, abzuschütteln, was von der jeweils vorangegangenen Periode der Geschichte zeugte. Dieser Wille zum Wegschaffen, Kleinmachen, Abschütteln ist ihr Wesensmerkmal, wie einer ihrer Bewohner schon früh erkannt und als ihr Schicksal prophezeit hatte (vgl. Karl Scheffler: Berlin, ein Stadtschicksal.—Berlin-Westend: Reiss 1910). Die Stadt hat es in der Folge treulich erfüllt. Und nicht allein brache Flächen hinterließ die Geschichte, sondern große Gebäude ebenso.
Sechzehn Stockwerke ist das Institutsgebäude hoch, und hundertzwanzig Meter ist es breit. Dieses Gebäude entstammt der jüngsten abgeschlossenen Periode der Geschichte, doch wurde es nicht geschleift, sondern gründlich renoviert. Sechs Aufzüge fahren seine vielen Stockwerke hinauf und hinunter, in einem fort, und trotzdem müssen die Institutsangehörigen oft lange warten, bis der Aufzug bei ihnen angekommen ist, um sie hoch hinauf oder tief hinunter zu befördern. Denn das Institut hat unermeßlich viele Mitarbeiter. Es müssen so viele sein, weil die Vergangenheit, die sie bewirtschaften, selbst unermeßlich scheint, und es ist kein einzelner Stein, den sie in die Zukunft wälzen, wie Sisyphos es tat, sondern es ist ein Berg aus Geröll.
Alle, die hier arbeiten, begegnen sich regelmäßig und ohne Verabredung in der Mitte des Gebäudes, vertikal betrachtet, nämlich im achten Stock. Dort ist die Kantine untergebracht. In sie hinein gelangt man auch ohne seine Mitarbeiterplastikkarte, denn ihre Türen stehen immer einladend offen. Bezahlen kann man dort allerdings nicht anders als mit seiner Plastikkarte, auf welche man regelmäßig den Wert seiner Geldscheine übertragen muß.
Die Maschine zur Geldwertübertragung ist eine kleine rechteckige Säule mit zwei Schlitzen. In den einen steckt man seine Plastikkarte hinein, in den anderen einen Geldschein. Den soll die Maschine fressen, aber sie tut es nur widerwillig. Sie spuckt jeden Schein, egal, welchen Wert er darstellt, viele Male wieder aus, bevor sie ihn endlich hinunterschlürft, und wegen ihres Widerwillens, das materiell ihr Angebotene in ein Immaterielles vom selben Wert zu überführen, gerade weil sie sich dagegen sträubt, einen Wert in einen anderen zu über- führen, wie es in diesem Gebäude mit dem Greifbaren, doch Unbegreiflichen, geschieht, ist diese kleine Maschine das Herz des Gebäudes, das im Herzen der Stadt steht, in welcher das Herz der vergangenen wie zukünftigen Geschichte des Landes schlägt, weil sie dessen Hauptstadt ist. Denn eine solche Wertüberführung ist eine zu ernste Sache, als daß man dabei Fehler machen dürfte; es darf der jeweils zu übertragende Wert nicht erhöht, noch verringert werden. Der Wert der Geldscheine ist genau festgelegt, der Wert der Plastikkarten nicht. Die Geschehnisse der Vergangenheit sind genau dokumentiert, begreiflich sind sie darum nicht. Auch greifbar gemacht, bleiben sie unbegreiflich.
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Die Arbeit des durch Erforschung der Geschichte die Vergangenheit bewirtschaftenden und auf diese Weise den Weg in die Zukunft bahnenden Instituts wurde nicht gleich in der Verfaßtheit des Staates, der aus dieser Geschichte entsprang, fruchtbar und lebendig, mit der Zeit jedoch seinen Bürgern zum Leben so notwendig wie die Luft zum Atmen.
Es erfaßte das Gedenken an die Verbrechen der Vergangenheit mit der Zeit restlos alle Institutionen des Landes. Das ging erst langsam, am Ende aber rasend schnell. Nachdem das Land seine Teilung, die unmittelbare Folge des Verbrechens der Vergangenheit, überwunden hatte und ein souveräner Staat geworden war, konnte es sich nämlich endlich ausschließlich mit sich selbst beschäftigen. Es war keinen anderen Staaten mehr Rechenschaft schuldig, sondern nur noch anderen Völkern, und die standen da und waren weder eine Institution, noch hatten sie eine Armee. Sie hatten nur ihre Erinnerung an die schrecklichen Dinge, die ihnen angetan worden waren von den Vertretern des Volkes und in seinem Namen gar, nicht aber von dem Staat, in dem dieses Volk nun lebte. Sie waren Greise geworden. Es waren auch noch welche übrig von denen, die seinerzeit das Verbrechen verübt hatten. Für die war das auch eine Jugenderinnerung. Sie waren auch Greise.
Die meisten Bewohner des Landes waren zur Zeit des Verbrechens noch gar nicht auf der Welt oder höchstens Kinder gewesen. Doch lastete die Ungeheuerlichkeit des Verbrechens ihrer Vorfahren schwer auf ihnen, und wenn sie sich dieser Ungeheuerlichkeit näherten, so erwarteten sie nie etwas anderes, als ihre Vorfahren als Verbrecher zu entlarven. Das gelang ihnen problemlos und am laufenden Band. So groß war dieses Verbrechen gewesen. So groß, daß es wirken wird bis ins siebte Glied.
Dieser Zustand der permanenten Aufdeckung des Verbrechens der Altvorderen war nicht schön, doch nötig, und als er nicht mehr nötig schien, war es gar nicht mehr schön. Da besann der Staat sich auf seine Pflicht seinen Bürgern gegenüber und beschloß, ihnen diese Bürde abzunehmen, indem er das Gedenken an das Verbrechen der Vergangenheit zu seiner immerwährenden Aufgabe erklärte. Die Verpflichtung, sie zu erfüllen, wurde in Denkmäler hineingegossen, deren Zahl um so schneller wuchs, je länger das Verbrechen zurücklag. Jeder Ort, und derer waren viele, an dem das Verbrechen sich ereignet hatte, wurde in eine Gedenkstätte umgewandelt. Es wurde dieses Gedenken nicht mehr als eine bloß notwendige, sondern als die edelste Aufgabe des Staates angesehen, und nirgends war es ehrenvoller zu arbeiten als im Institut für Vergangenheitsbewirtschaftung, das in der Mitte der Hauptstadt des Landes angesiedelt war, weil hier, und das war eben offiziell, das Herz des Landes schlug. (Natürlich befand sich in diesem Gebäude nur die Zentrale des Instituts; seine vielen Nebenstellen waren übers ganze Land verteilt.)
So war die Dunkelheit, aus der dieser Staat vor langer Zeit hervorgekrochen war, in das hellste Licht gestellt und zu seinem Eigentlichen erklärt worden, was nur logisch war, schließlich war es der Grund seiner Gründung.
Es wußten alle darum.
Es war kein Geheimnis und mußte nicht diskutiert werden.
Es war wirklich das Eigentliche.
Nur war es nicht mehr interessant, seit es auf dem Präsentierteller dargeboten wurde und wie von tausend Sonnen so hell und von allen Seiten beleuchtet war. Aus dem Blitzkrieg war Blitzlicht geworden und aus der Wirklichkeit dieses Verbrechens eine Geschichte aus alten Zeiten.
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Auch dies war etwas, das er wußte. Auch in diesem Fall nützte ihm dieses Wissen nichts, denn er konnte trotzdem nicht aufhören, sich mit dem Verbrechen der Vergangenheit zu beschäftigen.
Es war ein so großes Verbrechen.
Schrecklich war jetzt, daß es kaum noch wehtat. Das war das eigentlich Schreckliche und mehr noch: für ihn war dies das Eigentliche. Daß dieses Verbrechen, so groß es war, hatte aufhören können wehzutun. Daß das möglich war. Daß so etwas überhaupt möglich ist, das—das war schrecklich. Und vergrößerte sein Unglück.
Er kam sich vor wie aus der Zeit gefallen. Denn ihm tat es immer noch weh.