aus Neid

Elfriede Jelinek

Artwork by Lu Liu

Die Frau schaut mir doch irgendwie ähnlich, denkt Brigitte K., sie ist, als Gehende, auf eine müßig im Bild hockende Frau, also auf deren Gesicht getreten, auf das zuvor schon ein andrer gestiegen war, was andres kann man damit sowieso nicht mehr machen, und jetzt hat sie auf einmal das Gefühl, als wäre sie es selber, die da fotografiert worden ist. Seltsam. Das kann doch nicht ich sein! Eine Erscheinung? Bitte, Jesus und die hl. Jungfrau sind meiner Mutter durchaus ein paarmal erschienen, haben Sies gesehen, waren sie dabei?, sprach Jesus persönlich mit schöner Tenorstimme zu Mama (also das mit der Stimme dichte ich hier dazu, weil Tenöre immer begehrt sind, aber alles andre ist wahr, auch wenn Sie sich noch so wundern), genau dies sagte Er nach jedem Wunder zu meiner Mutter, die keinen Herrn über sich duldete, sich dann aber einen erfinden mußte, weil ihr doch irtgendwas gefehlt haben muß, Ehrenwort, das hat sie mir geschworen, daß sie Wunder erlebt hat, daß Gott, Maria, Engel und einige Heilige ihr persönlich erschienen sind, nur darauf kann ich Ihnen mein Ehrenwort geben, denn das Wort meiner Mutter ist mir Ehre genug, ich habe es aber dennoch nicht geglaubt. Doch Irre sind ja bekanntlich hartnäckig und lassen sich einfach nichts sagen. Dieses Foto ist, als ob im Nebenzimmer jemand plötzlich hämmern würde, allerdings im eigenen Haus, wo ja niemand ist außer uns, wo wir aber nicht der Herr sind, es kann also durchaus jemand reingekommen sein. Daneben noch zwei Porträtfotos, aber diese beiden offensichtlich viel jüngeren Gesichter hat die Profilierungssucht dieser Sport-Sohle (ja, Sport ist rücksichtslos und soll es auch sein, wo als im Sport lernt man Rücksichtslosigkeit, gegen sich und gegen andre? Gegen sich im Sportverein. Gegen andere vielleicht, bitte, es ist ja nur ein Vorschlag, beim Bundesheer? Nein. Diese Turnschuhsohle dient mir zu etwas, ich weiß nur noch nicht wozu, sicher meine Vorurteile zu bestätigen, wovon mein gesamtes Schaffen inzwischen gellend Zeugnis ablegt, das ja auch einmal ausgefüllt werden will, das Zeugnis mit meinen hoffentlich guten Noten, aber sie ist auch für vieles andre, das ich noch nicht kenne, ein Sinnbild, nicht für Couragiertheit und Ehrgeiz und Leistungswillen, sondern es zeigt, also das Sinnbild zeigt demnach sinngemäß, daß wir, im Gegenteil, alle verloren sind. Je mehr wir strampeln und treten, umso eher gehen wir verloren, weil das Loch, das wir in die Welt treten, immer größer wird, bis unser ganzer Körper irgendwann einmal mühelos hindurchgeht wie ein heißes Messer durch Butter, ein fliehendes Tier, dieses arme, ängstliche Leben, das Leben ein Traum, nein, ein Tier, das verschwindet, auch wenn es nicht in die Läufe einer Waffe blickt und die eigenen Läufe noch fleißig betätigen kann, denn Wegrennen ist immer gut, schnell, schnell!, es geht ja oft auch der Ehrgeiz mit uns durch und bringt uns danach nicht mehr zurück. Ach was, wir sollten gar nicht mehr auftreten, das können andre doch eh viel besser!). was war vorhin, raufschauen, weg da, Fliege!, sofort raus aus meinem Auge, wie oft soll ich dir das noch sagen?, aha, ich seh schon, es hat die Profilierungssucht der Sohle ein Foto voll ins Gesicht getroffen, da ist kaum noch etwas zu erkennen. Mir gehörst du, liebes Gesicht, oder willst du nicht? Erst mal müßte ich sehen, ob diese Frau halbwegs gut ausschaut, dann entscheide ich, ob das Gesicht mir gehört. Wenn sie gut ausschaut, schaut sie mir sicher irgendwie ähnlich, aber nur sehr irgendwie. Ich habe schon den Eindruck, daß du auf seltsame Weise meins bist, du Gesicht du, kann Brigitte nur flüchtig denken, aber nein, das kann nicht sein. Sie ist es nicht. Sie kann es nicht sein, die da fotografiert wurde, sie ist doch nicht öffentlich geworden, niemals, zumindest nicht, soweit sie sich erinnert, bitte, beim Abschlußkonzert mit ihren Schülern ist sie schon öfter für den Lokalteil der Krone und das Bezirksblatt fotografiert worden, beide irgendwie matt, flau, das stimmt, mir wird auch schon ganz anders, mir wird schon glei dumper, wenn ich in diese Blätter schau, die leider auch im Winter nicht von uns abfallen, aber die Fotos waren danach nur noch im Gemeindeamt ausgestellt und konnten dort sogar käuflich erworben werden, von Verwandten der Schüler, die in der Nähe wohnen, doch die Weite der Erinnerung, und die ist das wichtigste, das die Frau noch hat, geht immer nur bis Bruck a. d. Mur oder manchmal noch nach Graz, zu diesem oder jenem Konzertabenteuer. Zugegeben, heute fotografiert ein Handy notfalls alles andre auch, im Prinzip alles, was man sehen kann, auch wenn überhaupt nichts andres da ist, das Handy ist und bleibt alles, was unsere wunderbare, soviel rascher als Erz vergehende Schönheit in jedem Augenblick und in Kooperation mit jedem Augenblick festhalten kann (d.h. überhaupt nicht vergehen kann, Schönheit kommt davon, sie kommt aus der Parfümerie, und zwar von dieser neuen Habtnachtcreme und der dazugehörigen Habttagcreme), aber wie könnte Brigitte da auf diesem alten Foto festgehalten worden sein, na, vielleicht ist es ja gar nicht so alt, mal sehn?! Von wann ist die einstmals gewiß noch mehr glänzende Zeitschriftenseite? Kann man nicht erkennen, ich sagte es schon. Kein Datum auf dem halb aufgeweichten Fetzen. Vielleicht ohnehin nur ein paar Tage? Wer würde heute ein Stück Zeitschrift wegwerfen, das Jahre alt ist? Kann ich mir auch vorstellen, aber das wäre woanders, für den Container gesammelt, dann wäre das Papier mit vielen Geschwistern und andren Verwandten zusammen, um, wie jene, früher oder später entsorgt zu werden. Vielleicht hat es sich losgerissen, weil es noch was erleben wollte? Die meisten von uns werfen alles gleich weg, damit sich nicht zuviel ansammelt, außer denen, die eine Meise haben und alles für die Ewigkeit, die sie aber nicht erleben werden, aufheben müssen. So, und jetzt schaut Brigitte gar in den Spiegel und hält sich die Zeitung daneben hin, ohne daß ihr Blick noch richtig angezogen wäre, denn die Schicksalsschlägerei hat des Blickes Kleidung ja doch ein wenig in Unordnung gebracht, sie hat ihren eigenen Anblick, im Spiegel nicht ertragen können, die Brigitte, schon wieder zugenommen, aus lauter Trägheit und wegen geheimen, verklemmt klammheimlichen Saufens, wie furchtbar!, vielleicht hilft ja das Bild, das in die Zeitung gekommen ist und einen und sich wichtig macht? In diesem Alter braucht man Training, um seine Form zu behalten, auch wenn man nie eine hatte, und man braucht nur wenig Essen, von allem weniger, mit jedem Tag weniger, da man ja auch viel weniger wert ist, man müßte direkt von einer sportiven Übung zur nächsten rennen, aber man rennt leider gar nicht, zumindest nicht, wenn man Brigitte K. ist, dann hat man Besseres zu tun, man hat mit einem Musikinstrument zu ringen. Doch man sollte, man hätte es in erheblichem Maße nötig. Man sollte sich bewegen, aber nicht im Stehen (Geige). Die Hose spannt nun wirklich, aber schon so!,das Hemd ist nicht so angespannt, denn es kennt seinen Inhalt zu gut, was wohl noch alles passieren wird? So, jetzt schaut die Frau also schon wieder zu dem Fenster hinüber, wo sich vorhin erneut diese flüchtige Spiegelung gezeigt hat, doch dort ist noch immer niemand. Im Haus gegenüber ist niemand. Klar, sie hat schon richtig klar gesehen, da geht vielleicht jemand herum, der aber niemand ist, im Niemandsland der Blicke einer alternden Frau, ihr Antipode, ihr Gegenteil geht umher, ein junger Mann, er schreibt etwas auf eine staubige Scheibe, auf die Mattscheibe, die deshalb so staubig ist, weil seine Mutter den ganzen Tag weg ist und nicht zum Putzen kommt, in der Bank, sie arbeitet in der nächsten Kleinstadt in einer Filiale unter dem Giebelkreuz, an das sie bald wieder jemanden schlagen werden, bald ist wieder jemand fällig, diesmal vielleicht zur Abwechslung die Mutter, wenn wieder Leute zur Entlassung anstehen, beim nächsten Mal ist sie dabei, ahnt sie seit längerem schon dunkel, womit sie aber auch kein Lüftchen bewegen wird. Anstehen müßten diese Menschen gar nicht, sie fliegen so und so raus, sie wissen, daß sie überflüssig sind, doch je weniger Menschen, desto weniger Geld haben sie zu deponieren, gebe ich zu bedenken, doch es besteht kein Zweifel, das Giebelkreuz beschützt sie da auch nicht davor, nichts beschützt sie, und auch die letzten Häuselbauer in Amerika werden nicht geschützt, deren Hypotekarkredite sehr faul gewesen sind und nicht gearbeitet haben, sie sind einfach nur faul dagelegen, und doch wurden sie einem faktisch aufgedrängt, obwohl sie nichts geleistet haben (selber haben sie absolut nichts getan), damit man, bevor das alte noch fertig ist, bereits ein größeres Haus mit faktisch und praktisch Nichts erwerben konnte, jawohl, dieses Haus baut sich im Prinzip von allein, aus sich heraus, die haben in Amerika das Perpetuum Mobile in Gestalt von Häusern erfunden, was wollte ich sagen?, ja, wie üblich leider nur einen Gemeinplatz wollte ich mit einer Stecknadel abstecken, die auch gleich wieder rausfliegt, die steckt nur lose drin, ich müßte schon einen Nagel nehmen: Die letzten also beißen die Hunde, die Letzten beißen immer die Hunde, das können Sie in der Zeitung nachlesen, und auch die Raiffeisenbank kauft sich lieber Zeitungen als sie zu lesen, Zeitungen, Zeitschriften, die ihr dann gehören oder gehören werden, sie gehören alle dem Kreuz, an das sie genagelt werden, fliehende Blätter, in denen tote Menschen etwas Interessantes über sich lesen könnten, das sie gar nicht gewußt haben, verzweifelte Menschen. Tja, unser liebes altbekanntes Giebelkreuz, das scheut sich nicht, es hat vor nichts Angst, das Geld scheut vielmehr uns, wir dafür scheuen ebenfalls vor nichts zurück und auch nicht davor fürchtet sich die Frau, daß ihr Sohn macht, was er will, kaum daß sie aus dem Haus ist, sie fürchtet sich vielmehr davor, daß vielleicht auch sie aus Altersgründen in Bälde wird machen können, was sie will. Daß es keinen kümmern wird, was sie macht. Und genau das will sie nicht. Das bekümmert sie. Was soll sie tun? Er ist ohnehin schon fast erwachsen, der Bub, das heißt, er ist faktisch schon weg von ihr. Keiner bleibt hier. Keinem bleibt seine Gestalt, sagt der Spiegel, der immer seinen Senf dazugeben muß, hämisch zu einem Anblick, der ihn völlig kalt läßt, wie jeder andre Anblick auch. Ist das der Sohn der Nachbarin dort hinter der Scheibe? Wir ahnen, daß es jemand andrer ist. Nur nicht so direkt hinglotzen, nein, auch nicht mit dem Operngucker, das sieht der doch! Oder ist jemand andrer dort im Haus? Wer auch immer dort ist, er sieht das Glänzen im Objektiven, ich meine im Okular. Wenn er es überhaupt ist, der Sohn, der da ist, wo sollte er sonst sein, wer sollte es sonst sein? Ja, wer sollte es sonst sein? Er antwortet auf diesen Brief hier, den Brigitte K. ihm nämlich geschrieben hat, wie ich Ihnen hier schmucklos verrate, denn erzählen kann ich es nicht, ich finde keinen Übergang, der fürs Erzählen so ungemein wichtig wäre, ich bekannte es schon oft, sogar vor Ihnen, und Sie haben es mir dafür, also nicht grade dafür, auch schon oft gesagt: Ich kann nicht erzählen, ich kann einfach nicht sagen, was passiert, ich kann es nicht so sagen, daß Sie verstehen, daß es hintereinander passiert, ich reite mich beim Aufsteigen auf meine Handlung nur immer tiefer hinein. So, jetzt wissen wirs also, daß wir es nicht können, aber das Warum wissen wir nicht, ich meine natürlich, viele können es, ich kann es nicht, das Erzählen, ich komm nicht in diesen Fluß des Erzählens hinein,  so, jetzt sind wir endlich soweit, jawohl, jetzt hat der Bursch gegenüber den Brief gefunden und liest ihn, das seh ich genau, der künftige Student liest ihn, ich hoffe, er schafft davor die Matura, der Brief wurde schließlich auch von jemandem verfaßt und wird in diesem Augenblick gerade von unserer Datei erfaßt, wir haben schon auf ihn gewartet, weil er gestern nicht gekommen ist und vorgestern auch nicht, obwohl es ausgemacht war, daß er kommen wird, ich brauche ihn hier für die Erzählung, die keine ist, ich brauche ich nicht anderswo, und in dem Brief steht, ja, was steht denn da?, also, ich lese vor: Ich schicke dir Küsse und umschlinge dich mit meinen Beinen. Seltsam, daß diese zurückhaltende Frau hier, ja die, neben der Geige, aber die Geige ist im Kasten, das Foto auch, es wird hier wiedergegeben, auf diesem Fetzen Papier, komisch, daß eine solche Frau, der wir das nie zugetraut hätten, so etwas Dreistes, beinahe schon Tierisches geschrieben haben soll, aber wahrscheinlich haben Sie einen anderen Begriff vom Tierischen als ich. Nein, das kann nicht von ihr sein! Und ist es wahrscheinlich auch nicht. Wieso nicht, Geigespielen ist schwieriger als Schreiben. Ich glaubs nicht. Doch, das glaube ich, beides versucht – kein Vergleich! Geige: schwieriger, sonst wäre z. B. ich ja Geigenvirtuosin geworden! Ich bin den leichteren Weg gegangen. Ich mache das, was jeder kann: schreiben. 





Soll wirklich alles, alles verschwinden, was von mir übrig ist, und Leben habe ich keins und habe ich daher auch keines zu verschenken, höchstens eins zu vergeuden? Ja. Das gilt aber für jede Frau. Ich bin da nichts Besonderes. Sobald sie nichts zu verschenken hat, kein Kind, nichts, soll sie gefälligst verschwinden, gestern wäre noch zu spät. Da der Mann überflüssig und Quelle der größten Schrecken ist, soll besser die Frau verschwinden. Ich finde das nicht logisch. Aber ich kann eh nicht logisch denken. Wenn die Frau endlich verschwunden ist, in manchen Ländern darf sie ohnedies gar nicht erst geboren werden und lebend erscheinen, hat der Mann vielleicht keinen Grund mehr, so gemein zu ihr zu sein und sie notfalls selber umzubringen. Sobald sie nach Hause kommt, diese Frau, von der ab und zu die Rede ist: Sie öfter vorkommen zu lassen, schaffe ich offenkundig literaturtechnisch nicht, es ist mir zu schwer, aber sie spricht ja  selber auch nie, sie sagt mir nicht, was ich schreiben soll, diese Frau mit ihren armseligen kleinen Einkäufen (sogar mein Freund D. weint schon, daß ich so wenig einkaufe, dabei muß er es holen und sollte froh sein, daß er mir nicht soviel beim Tragen helfen muß), da ist es schon vorher ausgemacht worden, daß der Bursch bereits reglos mit nacktem Unterkörper, die Hose bis zu den Knöcheln hinuntergezogen, wie ein Geschenkpaket auf sie, die Frau, nein, auf seine, nein, nicht seine, aber doch eine Lehrerin knospriger, knuspiger Geschöpfe, warten soll, wenn er das Auto will, wenn er es immer noch will und bereit ist, das alles dafür auf sich zu nehmen, wobei bei ihm unsichtbares Gelächter ausbricht wie ein sinnlos herumhüpfender Gelächterbrand auf einer leeren Glasfläche in einem leeren Haus. Der Bub sieht die Lehrerin mit seinen Augen, da sie kleine Ersparnisse hat, etwas, das ganz eigen ist, und für das er Überzeugungen und ganze Stücke seines Körpers opfern würde, freiwillig, wenn auch nicht für immer, sie wachsen ja immer wieder nach, also ist es nicht einmal ein Opfer (hätte sie keine Ersparnisse, würde er sie ja gar nicht sehen können), ich sagte: freiwillig, im Gegensatz zu dem kannibalisierten Mann in der Notschlafstelle Reichsapfelgasse, 1150 Wien, der von einem 19-Jährigen in kleinen Teilen gegessen worden ist oder auch nicht, man weiß es nicht, keine Ahnung, was von ihm fehlt, in der Tat, durch eine Tat, zuvor ermordet und danach die Zunge und einige Innereien nett auf einem Teller drapiert, etliches davon bereits gegessen hatte der junge deutsche Mann, der mit blutverschmiertem Mund der Putzfrau die Tür öffnete: „Da ist etwas passiert“, meine einzige direkte Rede! (so rächt es sich, wenn man nicht kochen kann, denn der Knabe hat den Älteren ermordet und dann roh zu fressen versucht, nein, natürlich ist das ziemlich roh, nein, natürlich ist es nicht, sowas zu versuchen, aber der junge Mörder hat das Fleisch nicht vorher gekocht oder gebraten, das meine ich mit roh, das Fleisch roh, die Menschen roh, das Fleisch, es ist roh zu jedem von uns, wenn es nicht oft genug kriegt, was es braucht, und soll ich Ihnen was sagen? Sie sind nicht gefragt!, denn auch wenn Sie es nicht wollen, ich sage es trotzdem! Ich bin schon eher gefragt als Sie, aber ich antworte trotzdem nicht), und dieses Haus in der Reichsapfelgasse ist exakt das Haus, in dem bereits vor Generationen Menschenfresser, diesmal weiblich, ihr Unwesen vertrieben haben, aber es ist immer wieder zu ihnen zurückgekehrt, dieses Unwesen, das vertrieben wurde nicht im Sinne von verkauft oder weggescheucht, sondern im Sinne von: alle anderen Menschen verdrängen und diejenigen essen, die übriggeblieben sind, weil sie nicht so schnell davonrennen konnten, ja, mich!, ich bin gegessen worden, seit ich noch kaum gehen konnte, und dies ist exakt das Haus, in dem meine Menschenfressermutti von meiner Menschenfresseromi aufgezüchtet worden ist, hochgezüchtet, und dann haben die beiden Damen mich aufgegessen, schön langsam, die eine (Omi) im Sommer, da ich ihr ausgeliefert war und mir Rasierklingen überall hin ausgedrückt habe, bis das Blut nur so geflossen ist, die andre das ganze Jahr über, mit Ausnahme des Sommers, später, im Herbst ihres Lebens, auch im Sommer, sie haben sich abgewechselt, wenn sie meiner habhaft werden konnten, damit einzelne Teile von mir, die noch weiter zu bestehen schienen, die noch auf sich zu bestehen schienen, was ihnen aber ausgetrieben wurde, sich noch ein wenig entwickeln konnten, bevor auch sie gegessen waren, das Kalb darf ja auch ein wenig wachsen, bevor es gefressen wird, dann wiegt das Fleisch nämlich mehr, dann ist mehr dran an ihm, ein halbes Kilo Antibiotika in jedem einzelnen, jaja, die Reichsapfelgasse in Wien, das nenne ich genius loci, die Reichsapfelgasse, ich glaubs nicht, ich traue meinen Augen nicht, aber auch sonst niemandem, aber das mit der Reichsapfelgasse stimmt, ich habe im Fernsehen das Haus sofort wiedererkannt, obwohl ich jahrzehntelang nicht dort war, in dem ich die Omi immer besuchen mußte, na ja, man ißt, was einem im Weg ist, oder man ißt, was man geschaffen hat, oder man ißt, was man von sich abgetrennt nicht erkennen kann, nein, das stimmt nicht, das wäre Autokannibalismus, und der Knabe kann danach, wenn alle fertig sind, das sind wir doch, oder?, alle?, alle!, jederzeit die Abkürzung zum Haus gegenüber nehmen, die aber nicht nötig ist, denn jener Weg, den er einschlägt wie eine Fensterscheibe, achtlos, wie nebenbei, ungeschützt, ist schon die kürzeste Verbindung zwischen zwei Geraden oder so, der Schlüssel liegt unter der Türdacke, der 49-jährige, teilweise ausgeweidete Tote, in dem ein andrer Knabe zwei Tage lang (glaub ich, übers Wochenende) geweidet hat, ist bereits abtransportiert, in einer andren Zeit und ach, der Mann, er lebt nicht mehr, das Fernsehen hat seine Bilder bereits verschossen und muß sie jetzt endlich auch wieder rausrücken, ich bin wie erschossen mit offenem Mund davorgesessen, keiner hat mir hineingespritzt, womit hätte ich das schlucken sollen, da ich doch nur noch eine Art Rumpftorso bin, kann sein mit Mund, kann sein, ohne, nein, ich bin nicht ohne, denn ich esse ja immerhin noch, allerdings keine Toten, die esse ich nur symbolisch, zur Erinnerung und weil sie mir das Leben und einen Namen geschenkt haben, die haben sich mich einverleibt, und jetzt nehme ich ihnen ihre Leiber wieder weg, die eh nicht mehr existieren, das Grab ist eingesunken, der Sargdeckel ist eingebrochen, wer würde da sonst noch einbrechen? Keiner mehr, keiner, um das dunkelblaue Seidenkleid meiner Mama anzuziehen, das recht hübsch war, mit Schalkrawatte und mit demselben Stoff überzogenen kleinen Knöpfen, nicht einmal das kann ich sagen, mit mit demselben Stoff überzogenen muß es heißen, und das ich ihr in den Sarg nachgeschmissen habe, unter Schimpfworten, sie und das Kleid, das nicht hinterhergeschmissen wurde, mit dem sie vielmehr frisch bezogen wurde, die Mama, und mehr durfte sie eh nicht mitnehmen, bei Flügen darf man nicht zuviel mitnehmen, viele Flüssigkeiten, Nagelfeilen und wasweißich, ich fliege ja nie, werden einem vorher weggenommen, ganz recht, und auch den Toten wird alles abgenommen, nur ihre Lieblingskleidung dürfen sie behalten, falls die Angehörigen sich davon trennen können, ich hatte bei Mama damit keine Probleme, sie wurde damit bekleidet, mit dem dunkelblauen Seidenkleid, was jetzt davon wohl übrig ist?, also da ich vorhin etwas gegessen habe, vermute ich mal, daß ein andrer Teil es ist, was von mir übrig ist, ein Teil, der aber kein Teil von mir ist, obwohl er mir gehört, mein Teil, es soll verloren und gegessen sein, aber es will ihn ja keiner, das, was Mama von mir übrigließ, das will keiner mehr, nicht einmal der 19-jährige Mörder würde Abfälle essen, der will gesunde Innereien und Zunge essen, keine Ahnung, warum er sich auf Innereien versteift hat, wahrscheinlich, weil sie sich leichter schneiden lassen, so, wo waren wir?, bei einem Schlüssel unter einer andren Türdacke, Schlüssel verliert man ja so leicht, deshalb sollten sie immer an derselben Stelle aufbewahrt werden, der Mensch in seiner Haut, die man durchschneiden kann, die Schlüssel unter der Türdacke, die man hochheben kann (manche nehmen auch Blumenkübel, aber die kann man nicht in jedem Fall draußen stehenlassen, sonst werden sie geklaut, und im Winter müssen sie erfrieren), in einem andren Bundesland, es hebe hoch, ich meine, es lebe hoch (in der Reichsapfelgasse hatte die Putzfrau keinen Schlüssel, es hat der Täter ja selber der Putzfrau die Türe geöffnet, mit blutverschmiertem Mund, mit dem er die Worte sprach, welche ich bereits zitiert habe, damit sie in die Geschichtsbücher Einzug halten können, in die schon Millionen von Leichen eingezogen sind, plus zweihundert im Burgenland, ihre Möbel mußten sie leider zurücklassen, ihre gesamte Kleidung, ihre Goldzähne, ihre ganzen Habseligkeiten, alles, am Schluß ihr Leben, das hat Stil, in so großem Stil hat noch nie zuvor ein Volk so viele Leben gestohlen: Es ist etwas passiert, da ist etwas passiert, mit so einfachen Worten kann man es auch sagen.

 

*

Cleveland, Ohio

Nur kein Neid, warum sag ich das andauernd, es ist hier ja niemand neidisch außer jedem?! Ist das nicht das ehemalige Eisenbahnerhaus mit den längst leeren Blumenkästen? Ja, das ist es. Aber wieso ist es hier? Das war doch gestern noch dort drüben, oder? Da ist eine alte eisige Latrine, mindestens zehn Kabinen nebeneinander, meine nackten Füße frieren am Boden beinahe fest, aber ich sollte besser rennen, denn unter mir rennt dieses Haus jetzt los und weiß nicht, daß ich, ich allein, noch drinnen bin. Nein, nicht ich allein, dort in dem letzten Zimmer liegt ein junger Mann, der diesmal mir gehört, mir ganz allein, wenn auch nur kurz und längst vergangen, was hier aber nicht zählt, nackt auf dem Rücken und wartet auf mich, das ist wirklich sehr komisch. Ich werde mir sein bestes Stück sehr sorgfältig besehen, wenn ich aus dieser Latrine für Eisenbahnarbeiter wieder rauskomme. Am Gang ist kein Licht mehr, überhaupt keins. Das Licht ist schon abgedreht worden. Ich muß wieder zurück zu ihm, nicht dem Licht, das ist weg, dem jungen Mann, der bald weg sein wird, zu dem muß ich hin, das weiß ich. Wir sind die einzigen Menschen hier im leergeräumten ausgemieteten Haus, das bald abgerissen werden wird, aber offenbar hat es Angst gekriegt, das Haus, weil nur noch wir drin sind, uns hat es vielleicht übersehen, und ist losgelaufen, mitsamt den Gegenständen, die Menschen gesammelt und dann doch zurückgelassen haben, weil sie sie nicht mehr gebraucht haben. Ich bin aber auch noch drin. Wir sind noch da, dieser Mann und ich. Komisch, das Haus hat sich doch gestern noch nicht bewegt, was will es denn? Was hat es vor? Drängen Sie doch nicht so, Sie erfahren es ja, Sie erfahren es noch rechtzeitig, daß dieses Haus fahren kann und eine Mobilie geworden ist, aus einer Immobilie heraus. Was drängen Sie mich, ich habe diese Platten nicht gelegt und nicht verlegt, ich habe die Bewohner, Stahlarbeiter, Eisenbahner und Bergwerksleute ohne Familie, nicht vertrieben. Ich zeige Ihnen nur, was an der Grenze dieses kleinen Gartens vergraben ist, doch ich werde die Stelle nicht wiederfinden, es hat sich alles verändert. Wahrscheinlich war es gar nicht. Wir fahren jetzt, Achtung. Dieses Massenklo, diese Latrine, ist einfach ekelhaft, außer mir und dem jungen Mann geht da keiner mehr drauf, und wir auch nur, wenn wir müssen. Immerhin können wir es uns aussuchen, denn es gibt viele Kabinen, die alle leerstehen, die Spülungen funktionieren noch, das Wasser haben sie noch nicht abgedreht, wir haben ja noch eine Frist bis Ende des Monats, das haben wir schriftlich, der Boden ist eiskalt, kälter als eiskalt, ich habe meine Lieblingskabine ausgewählt, sehen Sie, die da, da ist das hölzerne Sitzbrett noch nicht so geborsten, daß ich mir einen Schiefer in den Arsch einziehen würde, wenn ich mich hinsetze. Dieses nehme ich, wie üblich. Diese Kabine ist gut genug für mich, um einen angenehmen Aufenthalt von zwei, drei Minuten zu garantieren, dann muß ich aber weiter, weil dann ja auch das Haus weiter muß. Das hat es mir mitgeteilt, schriftlich. Es ist angefordert und wird durch ein neues komplett ersetzt werden. Ich werde leider nicht ersetzt werden können durch eine, die selber fortgehen kann. Dort drinnen, da ist noch ein Gang dazwischen und eine Bassena, das Wasser rinnt noch, wenn man es aufdreht, auch die Klospülung geht noch, obwohl wir verständigt wurden, daß Ende des Monats alles abgedreht wird, nichts mehr geht und wir weg sein müssen, es gab eine dreimalige Verständigung mit Aufschubswirkung, doch jetzt wirkt offenbar die Anschubswirkung stärker als alles andre auf dieses Haus, und wir werden mit ihm losfahren müssen, wenn wir nicht rechtzeitig abspringen können. Wir sind nur noch zwei Personen, sehen Sie, dieser junge Mann im Zimmer und ich grad auf dem Klo, aber bald wieder im Zimmer, wo ein Heizofen glüht. Die Wohnung ist klein und primitiv, aber es ist alles da, auch Kühlschrank und Telefon sind anwesend, und wozu gibts das Handy? Das gibt es noch gar nicht. Es wurde uns erst später von Gott und der Gesellschaft, da waren sie sich endlich mal einig, gegeben, damit wir es benutzen, damit wir selber was eingeben, und das tun wir auch fleißig. Gott, ist der Boden kalt, gleich bin ich aber drinnen, im gemütlichen Zimmerchen, das, wenns besonders eisig ist und der Heizlüfter nicht ausreicht, von Gasflammen im Herd zusatz-erwärmt wird, ja, das Gas haben sie uns auch noch nicht abgedreht, wo Gasflammen vom Herd noch etwas Wärme abzugeben haben, bevor alles abzugeben ist. Wir geben nichts, aber wir können jederzeit irgendwo auf Besuch gehen, dann sind wir selber woanders, dann geben wir uns woanders aus, doch damit haben wir so lange gezögert, daß jetzt das ganze Haus losmarschiert ist. Wie hat sich doch alles verändert. Ich wußte es schon immer: Da ich nicht reisen kann, wird es sogar mein Haus noch eher können als ich, aber dies ist jetzt ein andres Haus, woanders, in einer andren Zeit. Das sagt eine, die Veränderung haßt! Also können Sie es mir schon glauben. Der eiskalte Boden ist von Sprüngen umgeben, ich hebe am Klo meine Füße an, damit sie nicht mit dem Dreck und der Kälte in Berührung kommen, aber was ist das schon angesichts der Tatsache, daß das ganze Haus gleich Feindberührung haben wird, und ich bin noch, wir sind noch drin. Das Haus weiß vielleicht nicht, daß noch jemand drinnen ist, es hält sich für leer und will unbedingt diese Einfamilienhäuser, nach denen sich Menschen halbe Leben lang gesehnt haben, unterpflügen, vielleicht aus Neid, daß es immer geringgeschätzt wurde gegenüber diesen Individualhäusern, die Kilometer an Gegend fressen, wenn auch billiger als mit Benzin. Wenn das Arbeiterwohnhaus stirbt, sollen die andren Häuser auch sterben. Das ist keine Einstellung, und es war auch keine, denn wäre das Haus richtig eingestellt gewesen, hätte es sich doch niemals bewegen dürfen. So aber kommt es. Es kommt. Weiter gibt es nichts zu sagen, als das, worauf wir alle warten, daß wir endlich kommen dürfen.