Gletscher

Maxi Obexer

Illustration by Gianna Meola

Gletscher
Für Sandra Boeschenstein


FIGUREN:

DESTINA
FLORINDA


Die Nachrichten können abwechselnd von einem Erzähler eingesprochen, vom Radio oder Fernseher kommen oder projiziert werden. Die Veränderung der akustischen, musikalischen und visuellen Präsentation im Laufe der letzten 50 Jahre kann gerne genutzt werden. Manche Konkurrenzsituation zwischen persönlicher Replik und den Nachrichten ist durchaus gewollt.


PROLOG
ERZÄHLER:  Um vier Uhr früh hört Destina den Wecker, den sich Hanno, ihr junger Geliebter, gestellt hatte, um einen weißen Berg im Alleingang zu bezwingen.
Er steht auf und nimmt eine Dusche. Das Prasseln des Wassers entzieht Destina den letzten Schleier Schlaf. Sie wirft sich den Morgenmantel über, geht ins Bad und schaut durch die herunterfließenden Tropfen am Fieberglas auf Hannos jungen Körper.

DESTINA:  Alles straff, ein straffer, sich streckender Körper –

ERZÄHLER:  Von Destinas Schulter rutscht der Morgenmantel wie ein fallender Vorhang –

DESTINA:  Es war wie das erste Mal, weil unsere Körper nicht wie alte Bekannte aneinander gewohnt waren, aber bekannt waren sie sich, sie waren sich als magisch bekannt.

ERZÄHLER:  Hanno zieht sich die Kleider an, Hose, Hemd, Pullover,

DESTINA:  Ich hätte ihn nicht mehr aus mir herausgelassen.

ERZÄHLER:  und verlässt das Haus.

DESTINA:  Ich setzte einen Tee auf, wärmte meine Hände an der Teekanne und schaute in den Nebel, in den er verschwand.

ERZÄHLER:  Erst in vierundfünfzig Jahren soll sie ihn wieder sehen.

1
NACHRICHTEN:
1961, der russische Fliegermajor Gagarin umkreist die Erde mit dem Raumschiff „Wostok. Die DDR riegelt ihre Grenze zur Bundesrepublik ab und errichtet eine Mauer quer durch Berlin.
1963, China zündet die erste Atombombe. John F. Kennedy wird ermordet; das zweite deutsche Fernsehen nimmt seinen Sendebetrieb auf.
1965, der Montblanc-Alpentunnel wird eröffnet, ein Gletscherabbruch in der Schweiz fordert 88 Tote, bei einem Wirbelsturm im Osten Pakistans sterben über 10 000 Menschen.

2
Acht Jahre später. Frühling. Auf der Veranda.

DESTINA:  Seit Hanno weg ist, habe ich noch keine gültige Anrede für mich gefunden. Er nannte mich du kleine Zimtschnecke oder meine
Lieblingsbakterie, auch Namen wie zinnoberrotes Flohkuchenbienchen, Tigerhaifisch oder einfach nur Zwetschke waren darunter.
Seit Hanno weg ist, nenn ich mich „du blöde Sau“. Zieh dir einen Morgenmantel über, blöde Sau. Gib mir eine Zigarette, blöde Sau. Der Wein schmeckt wieder abgestanden, du blöde Sau. Weiß auch nicht. Ich habe mir keine Gedanken darüber gemacht, wie ich mich nennen soll, wenn es nicht andere tun. Nicht, dass ich einen besonderen Ärger gegen mich hätte. Ich könnte mich öfter zum Teufel schicken, das ja. Dann sag ich: Hau ab! Verzieh dich! Zisch ab!
Mach ne Fliege, blöde Sau. Aber das geht ja nicht.
Also sitze ich mit mir, wenn ich nicht stehe, hier.
Schaue auf die Landschaft, auf den Riesenferner vor mir. Schaue ihn an mit den Augen von Hanno, dann ist er magisch.
Hanno sieht den Riesenferner mit den Augen eines Fremden. Das ist das Geheimnis. Mit den Augen eines Fremden wird ein Ort magisch. Wenn ich ihn mit den Augen von Hanno anseh, ist das hier ein magischer Ort. Wenn ich ihn mit meinen Augen anseh, könnte ich kotzen.

3
NACHRICHTEN:
1973, Krieg zwischen Israel und den arabischen Staaten.
Der Südrand der Sahara schiebt sich um 50 Kilometer nach Süden vor. Die Herden verenden zu 80 Prozent, 100.000 Tote.
1975, Terror der "Roten Khmer" in Kambodscha - Ausrufung zur Volksrepublik. Bei einem Erdbeben der Stärke 7,5 in Tangshan, 150 Kilometer südlich von Peking, kommen etwa 650.000 Menschen ums Leben.
1977, die US-Regierung kündigt Bau der Neutronenbombe an. 583 Menschen sterben bei dem schwersten Unglück der zivilen Luftfahrt auf Teneriffa.


4
Auf der Veranda.

FLORINDA:  Es existieren Fischarten, von denen es im gesamten Ozean nur zwei Exemplare gibt. Jedes schwimmt allein im weiten Becken, ohne nur ein einziges Mal auf dieselbe Gattung zu stoßen. Das ist keine Seltenheit. In der unermesslichen Vielzahl von Arten, die es millionen- und abermillionenmal gibt, gibt es eben solche, die es nur zwei Mal gibt.
Manche dieser seltenen Gattung begegnen einander nie – sie leben und sie sterben ohne auch nur ein einziges Mal dem eigenen Wesen begegnet zu sein.
Bevor sie sich trafen, trugen die Ströme sie mal hierhin, mal dorthin. Sie lebten außerdem in getrennten ozeanischen Becken und wollten immer woanders als dort sein, wo sie gerade waren. Bis, ja bis ein Zufall sie zusammenführte – da lernten sie zum ersten Mal die eigene Gattung kennen.

5
NACHRICHTEN:
1979, Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan. Ein schweres Erdbeben in Irpinia erschüttert Italien.
1981, Präsident Reagan ordnet den Bau der Neutronenbombe an. Beginn des Falklandkriegs.
1983, US- Truppen besetzen die Karibikinsel Grenada.

6
Vier Jahre später.

FLORINDA:  Es ist so schön. So wahnsinnig schön.

DESTINA:  Soll noch schöner werden.

FLORINDA:  Schöner und schöner.

DESTINA:  Schöner und blöder.

FLORINDA:  Schöner und schöner und immer noch und noch und noch – schöner!

DESTINA:  Schöner und immer noch blöder.

FLORINDA:   Wahnsinn.
Die Hotels füllen sich auch wieder.

DESTINA:  Die Kellergeschosse auch. Die Gäste gehen durch die beleuchtete Eingangshalle, die Gastarbeiter schlüpfen durch den Hintereingang ins unverputzte Kellerloch.

FLORINDA:  Es ist so schön. So wahnsinnig schön.

DESTINA:  Es bleibt, wie es ist. Sonst kämen keine Fremden.
Sofort kämen die sonst nicht mehr. Wenn es nicht so bliebe. Die kommen, weil es so bleibt.
Also bleibt es, wie es ist. Damit die Fremden kommen.

FLORINDA:  Wann hat er noch mal gesagt, wann er kommt?
Hat er gesagt, er kommt heute noch?

DESTINA:  Er kommt.

FLORINDA:  Oder meinte er vielleicht morgen?

DESTINA:  Er kommt.

FLORINDA:  Aber er ist ja noch nie gekommen. Vielleicht kommt er doch erst morgen.

DESTINA:  Er kommt heute.

7
NACHRICHTEN:
1985, Mexiko Stadt wird von einem Erdbeben der Stärke 8,1 erschüttert, es kommen über 6.000 Menschen ums Leben.
Die US- Raumfähre "Challenger" explodiert kurz nach dem Start. Ein schwerer Unfall im sowjetischen Kernkraftwerk Tschernobyl setzt Radioaktivität frei, die sich von der Ukraine nach Polen, Skandinavien und über weite Teile Mitteleuropas verbreiten.


8
Zwei Jahre später. (1989.) Auf der Veranda.

FLORINDA:  Sonntagnachmittag. Alle sind oben.

DESTINA:  Wer nicht, zieht die Vorhänge zu und schaut Formel eins. Manchmal brennt eins ab. Manchmal rauscht eins in die Zuschauertribüne sogar.

FLORINDA:  Gleich bringen sie den Seniorenclub.

DESTINA:  In der Kegelbahn lungert die Jugend.

FLORINDA:  Fünf vor fünfzehn Uhr. Eine Schwiegertochter begleitet ihre hinkende Schwiegermuter zur Kirche.

DESTINA:  In ihren Kellerlöchern liegen die Gasterbeiter auf ihren Pritschen – zwei Stunden noch, bis sie den Salat waschen.

FLORINDA:  Zwei Motorradtouristen schlürfen das letzte Schlagobers aus ihrem Eiskaffee.

DESTINA:  Was wollte ich entjungfert werden an solchen Tagen.
Schätze, ich wollte den Berg besudeln, ihn einmal dazu bringen, dass er sich bewegt.
Im Stadtkino steckten wir uns gegenseitig die Zungen in den Mund. Wie die Nacktschnecken tummelten sich die fremden Zungen in unseren Mündern. Bald sind alle entjungfert.
Dem Berg wars gleichgültig.

FLORINDA:  Ist die Sonne heute schon untergegangen?
Geht immer langsamer unter. Gestern ging sie auch nicht unter.
Sie geht schon seit Wochen nicht mehr unter.
Kurze Pause
Ich würde jetzt auch gerne entjungfert werden.

9
Und wieder ein Jahr später (1991.)

FLORINDA:  Ich hasse Zugvögel. Fliegen einfach davon.

DESTINA:  Kommen wieder.

FLORINDA:  Wo es doch keinen Winter mehr gibt – auch keinen Schnee. Nur noch aus der Kanone. Wegen einer Schneekanone muss kein Vogel wegfliegen, oder doch? Kein Vogel muss wegen einer Schneekanone wegfliegen, mein ich.
Fliegen einfach weg. Die Hunde.
Und die anderen sind erst gar nicht hier. Wo sind die, die nicht hier sind?

DESTINA:  Woanders.

FLORINDA:  Ja woanders woanders. Immer woanders.
Wie soll ich das finden?
Es gibt eine Menge von Dingen, die es gibt, ohne dass sie hier sind. Es gibt Pinguine, man liest von mehr als 18 Arten! Kaiserpinguine, Königspinguine, Eselspinguine, Haubenpinguine, Dickschnabelpinguine, Kronenpinguine, Goldschopfpinguine, Humboldtpinguine, Brillenpinguine, Magellanpinguine, Galapagospinguine, Gelbaugenpinguine... auch Tintenfische und Krebstiere und ... allerlei anderes auch!
Wenn es sie gibt, ohne dass sie hier sind, sondern woanders, dann. Dann.
Was mach ich dann eigentlich hier?

DESTINA:  Gleich beginnt das Alpenglühen und die Kühe legen sich hin.

FLORINDA:  Es könnte mich ja auch woanders geben.
Wer weiß. Und ich werde es dann nie wissen. Das wäre nicht uninteressant zu wissen, nicht?
Ob es mich nicht auch noch woanders geben könnte. Manchmal weiß ich nämlich nicht, wie viel es von mir hier eigentlich gibt!
Ob es mich hier zur Genüge gibt, ausreichend,
für mich ausreichend, ja sogar, ob es mich überhaupt gibt, frag ich mich manchmal.
Hörst du! Ich frage mich, ob es mich überhaupt gibt! Ob es mich gibt! Es muss mich ja irgendwie geben! Hörst du mir überhaupt zu!?

10
Sommer

DESTINA:  Heiß ist es.

FLORINDA:  Ja! Heiß ist es und immer heißer wirds!

DESTINA:  Heiter ist es auch.

FLORINDA:  Es ist heiß! Und es wird heißer und heißer!

DESTINA:  Heiter ist es auch.

FLORINDA:  Es ist heiß!

DESTINA:   Sie singt
How I wish! How I wish you were here.
We’re just two lost souls swimming in a fish bowl, year after year, Running over the same old ground. What have we found? The same old fears. Wish you were here…

FLORINDA:  Was heißt Ei wischiu wär hier.
Ei wischiu wär hier!

DESTINA:  I wish you were here, heißt das.
Das heißt, dass es schön ist, dass du hier bist.

FLORINDA:  Ich? Dass ich hier bin. Wie schön.
Und sonst niemand?

(Sie sieht dem Rauch der Zigarette nach, Richtung Riesenferner)

FLORINDA:  Warum schaust du dann geradeaus und nicht mich an. Ich bin daneben, nicht geradeaus. Das tust du, immer geradeaus. Schon seit Jahren.
Als ob ich geradeaus wäre, irgendwo da draußen, anstatt nur daneben.

DESTINA:  Wo steckst du, in welcher Falte verdammt steckst du?!
Du Dreckskerl! Du Spaltenfresser! Zeig Dich!

(Es blitzt, ein gewaltiger Donner folgt.)

FLORINDA:  Wie halten die Berge das nur aus?
Die Luft surrt. Die Bäume, diese ehrlichen Wurzeln erstarren bis in den Grund.
Gleich explodieren die Berge, das spür ich!
Irgendwann explodieren die Berge und alles, was auf ihnen drauf ist!

(Ein weiterer Donner folgt, anschließend prasselnder Regen.)

FLORINDA:  Wann hat er gesagt, wann er kommt?

11
Herbst.

FLORINDA:  Wann hat er nochmal gesagt, wann er kommt?
(Schweigen.)
Hat er gesagt, er kommt um Viertel vor Drei? Oder um zehn nach sechs?
Könnte es sein, dass er gesagt hat, er kommt um zehn nach sechs?

DESTINA:  Auf Wiedersehen hat er gesagt, er hat Auf Wiedersehen gesagt.

FLORINDA:  Auf Wiedersehen?

DESTINA:  Auf Wiedersehen.

FLORINDA:  Nicht Auf Wiederschauen?

DESTINA:  Nein. Auf Wiedersehen.

FLORINDA:  Bist du sicher, dass er nicht Auf Wiederschauen gesagt hat.

DESTINA:  Absolut sicher.

FLORINDA:  Dann wird er schon noch kommen, was?

DESTINA:  Er kommt.

12
Winter.

FLORINDA:  Die Zeit vergeht. (Kurzes Schweigen.)
Die feige Sau.
Hält nie an. Bleibt nie stehen. Packt nie zu und greift rein.
Geht immer nur weiter. Die feige. Sau. Wohin geht sie eigentlich immer?

DESTINA:  Vergeht.

FLORINDA:  Wohin geht der Tag, wenn er geht?

DESTINA:  Vergeht.

FLORINDA:  Und die Stunde? Und die Minute? Und die Sekunde?

DESTINA:  Vergehen.

FLORINDA:  Könnten wir das nicht auch tun?
Ich meine wohin gehen, irgendwohin, als zu warten. Während alles andere geht.

DESTINA:  Und wenn dein Vater kommt?

FLORINDA:  Muss er heute kommen?
Gestern ist er ja auch nicht gekommen. Noch nie. Er ist noch nie gekommen.

DESTINA:  Aber heute kann er kommen.

FLORINDA:  Es geht also alles.
Nur Papa kommt nicht.

DESTINA:  Dein Vater kommt.
Sonst würden wir nicht auf ihn warten.

FLORINDA:  Und wenn er nicht kommt, warten wir dann auch? DESTINA:  Die Zeit vergeht nicht. Sie geht in dich hinein.
Sie wächst in dich hinein, die Zeit, und hält sich am Leben in dir drinnen. In dir drinnen speichert die Zeit alles, was sie hat, das Glück hält sie in dir drinnen wie eingemachte Kirschen, dass du immer davon naschen kannst, die ganze Zeit lang kannst du von ihr naschen!

FLORINDA:  Wovon soll ich denn naschen?
Wovon ich naschen soll?!

DESTINA:  Von dir. Von dir sollst du naschen, du Käse.

FLORINDA:  Du naschst ewig von Papa.
(Schweigen.)
Ist die Zeit nicht irgendwann aufgenascht?!

13
Frühling.

DESTINA:  Die Zeit kann man nicht aufnaschen.

FLORINDA:  Aber verdreschen! Verdreschen kann man die Zeit so lange, bis sie nicht mehr aufstehen kann! Ich werde verdroschen. Weil mein Vater ein Held ist und sie aber sagen, dass er uns im Stich gelassen hat.

DESTINA:  Dann bleibst du jetzt eben hier.

FLORINDA:  Ich sage, dass er ein Held ist und verdresche sie so lange, bis sie von sich aus sagen, dass mein Vater ein Held ist, weil er ins Eis gegangen ist. Ganz von alleine. Aber kaum stehen sie auf, sagen sie, dass er dich und mich im Stich gelassen hat und jetzt ganz woanders ist und verdreschen mich wieder, bis ich nicht mehr aufstehen kann –

DESTINA:  WAS WILLST DU DENN MIT DEINER SPRUNGSCHANZE!!!???

FLORINDA:  Keine Sorge, ich bleib schon nicht liegen.
Ich steh auf und verdresche sie solange, bis sie nicht mehr aufstehen können und freiwillig sagen, dass mein Vater ein Held ist.

DESTINA:  Läuft mit Zollstock und Wasserwaage auf den Gletscher und sucht nach dem richtigen Ort für seine Sprungschanze! Meinst du, sie überlassen sie dir? Dir?? Hanno! Einem Dahergelaufenen? Einem einem einem einem! Der ihre Skier einwachst - ihre Treppen putzt - ihre Toiletten wischt? Das ist kein Ort, wo Tellerwäscher Sprungschanzen bauen!! Hier hier hier hier – bestimmt NICHT HIER Hanno!!!

FLORINDA:  Er ist doch ein Held? Oder?