Das letzte Feuer
Dea Loher
23.
Liebe Liebe Liebe
Muss es wohl sein
Wie sie sich wundern
Luft haben, Aufatmenkönnen
In der Gegenwart des Anderen
Die Fenster weit auf
Licht Brise Sonne
Lass mich dich ansehen
Die Zeit vergeht nicht
Die Zeit bleibt still
Wir halten sie an
Sie fallen in den Augenblick
Der Augenblick ist endlos
Das tote Kind, das unter der Erde liegt, nie vergessen
Immer mit erinnert
Der Humus, auf dem sie wachsen
Vergiss nicht
Sie wagen sich vor auf fremdes Körpergebiet
Rabe mit seinen Mullverbandsfingern
Bringt Susannes nackte Haut zum Lachen
Und wärmt sie, wo sie es nicht nötig hätte
Susanne sammelt und zählt mit geschlossenen Augen
Jedes Mal, jede Narbe auf Rabes Haut
Und mit jedem Mal kommt sie auf eine andere Zahl
Und muss ihre Forschertätigkeit von Neuem beginnen
Narbe 9 oder 12, der Biss eines Hundes, harmlos
Narbe 17 oder 21, am Knie, Erinnerung an einen Sturz in Glassplitter
Das dicke Muttermal unter dem linken Arm, angeboren
Die Einbuchtung in der Mitte des Brustbeins
Ein gebrochener und dann verwachsener Knochen
Über solche Dinge wie die Naht am Oberschenkel, 15 oder 16
Und das münzgroße Relief unterhalb des Schulterblattes, 8 oder 11
Gibt Rabe keine Auskunft
Schiebt Susannes tastende Finger sacht beiseite
Und täuscht vor, eingeschlafen zu sein
So aber, weil er schläft, kann Susanne die nicht erklärten Spuren
Umso konzentrierter küssen, mit einer Hingebung
Die glauben möchte, ihre Zärtlichkeit sei es
Die sie bis in die tiefste Vergangenheit hinein auslöschen könnte
Vergessen, was zu vergessen ist
In den stillen Stunden
Auf Rabes Zimmer
Zum ersten Mal sieht sie Rabe fröhlich
Rabe lacht, er lacht tatsächlich
Einmal nur verlassen sie das Zimmer
Susanne, am offenen Fenster, sieht über die Straße
Vielleicht beobachtet Ludwig uns manchmal
So wie du es früher getan hast
Aber er ist ja nicht zuhause
Übermütig packt sie ihre Tasche und zieht Rabe die Treppen hinunter
Ehe er sichs versieht
Mit der S-Bahn bis zur Endhaltestelle
Von da laufen sie, rennen
Rennen rennen gegen die Zeit bleib stehen
Ein, zwei Sommer lang haben sie mich »Araber« genannt. Jeder brauchte einen Spitznamen. Ich gehörte zu niemandem, sie fanden es lustig. Nach dem Unterricht ging ich nach Hause und zog dann allein los. Sie taten mir nichts, gar nichts. Es war nur dieses Wort, das eine Grenze zog. Zwischen mir und ihnen. Oder war es das Wort, das die Grenze benannte, die vorher und immer schon da war.
Wenn wir irgendwohin gingen, brauchte nur einer zu rufen, Hey Araber, und ich bekam den zugigen Platz, das kalte Essen, das hässliche Mädchen. Rabe, ich heiße Rabe. Sie lachten. Er schämt sich, Araber zu sein. Ich gab mir Mühe. Wenn schon ein falscher Araber, wollte ich wenigstens der Klügste, der Schönste, der Mutigste sein. Sie lachten, und ich blieb der Andere. Und konnte nichts sein als der Andere. Bis ich dachte, gut, so sei es, seht in mir den Abschaum. Und wenn ihr wollt, dass meine Füße schwarz sind, ich dunkel bin und undurchsichtig, dann sollen meine Füße schwarz sein, nur für euch. Und ich ließ sie sein, und wurde, der ich bin.
Von da laufen sie, rennen
Rennen rennen gegen die Zeit bleib stehen
Atemlos kommen sie am See an
Ruderer, ich wollte Ruderer werden
Das war der Sommer, in dem ich anfing zu trainieren. Alles durcheinander zuerst, Boxen Rudern Ringen. Mein Onkel hatte einen Kahn, mit dem ich den Fluss hinauf gegen die Strömung ruderte.
Ein Fluss, auf dem Schaum trieb über einem Grund, bis zu dem man nie hinabsehen konnte. Ich wollte mich nicht prügeln. Ich wollte nicht kämpfen. Ich wollte nur gewappnet sein, falls sie kämen, um mich anzugreifen.
Sie rennen das Flussufer entlang
Die Bewegung war schön. Ich lernte meinen Körper zu beherrschen. Die Bewegung war schön. Ich hätte Ruderer werden sollen statt Soldat.
Sie rennen das Flussufer entlang
Ein regnerischer Tag, sie sind allein, das Ufer ist aufgeweicht
Schilf Grasnarbe schwarze Erde
An einem Steg, zwei Holzbohlen breit, finden sie einen Kahn
Stumm betrachten sie die Ruder, die in den Dollen stecken
Nach innen geschlagen
Zwischen zwei Planken eine undichte Stelle im Boden
Ein Strahl Wasser drängt ins Boot und läuft wieder ab im Rhythmus der Wellen
Sie binden das Seil los und springen hinein
Keiner von beiden macht den Versuch zu rudern
Sie legen sich auf den Rücken und lassen sich auf den See hinaustreiben
24.
Sie haben Gras geraucht, Höhepunkt ist vorbei, letzte Züge.
EDNA: Sag nochmal. Qiu Shihua. Sag nochmal.
KAROLINE: Qiu Shihua. Ich weiß nicht, wie er aussieht. Keine Ahnung, obs ein Foto von ihm gibt.
EDNA: Ja gut, Chinese halt. Chinese um die siebzig. Ziegenbart. Flache Nase mit großen Löchern. Kann ich mir vorstellen.
KAROLINE: Schneckenlangsam. In jedem Lebensjahr, das ein Arbeitsjahr war, hat er ungefähr ein Bild gemalt. Das, sagt er, sagt man, reicht.
EDNA: Beschreib sie mir. Man kann lange nichts erkennen.
KAROLINE: Sie sind alle – fast weiß. Auf den ersten Blick weiter nichts als ein bisschen angeschmutzte Leinwand. Unscheinbare Flecken.
EDNA: Aber ganz allmählich, wenn man lange genug davor steht –
KAROLINE: Beginnt man zu ahnen, was man vor sich hat, welche Wege, Weiten, Landschaften sich zeigen, öffnen können in dem Licht –
EDNA: Das auch aus dem Bild selbst kommt, das auch –
KAROLINE: (wirft eine Tablette ein) – das auch imaginär ist. Dinge, die vorher nicht da waren. Die der erste, auch der zweite dritte vierte Blick nicht sieht. Die nur das müde Auge sieht, das so lange geschaut hat, dass es tränt und das Lid zuckt; dann zeigt es dir allmählich die Wirklichkeit.
EDNA: Den Himmel, wie er, eben noch verhüllt, von einer blendenden Sonnenkugel durchleuchtet wird. Das Licht breitet sich aus und durchdringt die Wasser, das Land und dich, der du als Betrachter davorstehst.
KAROLINE: Wunderbarer noch, es ist dein Auge, es ist dein Denken, das die Formen, die Farben, die Bilder erschafft. Sie brauchen Zeit, sie nehmen dir Zeit, und geben dir Raum und Ruhe und Glück zurück. Sie schenken dir –
(wirft eine Tablette ein.)
EDNA: Imagination. Ja. – Mir hat man diese Zeit gestohlen. Die Zeit, in der ich hätte erkennen können, was ich für Möglichkeiten habe. Die Zeit, in der alles weiß war und sich langsam erhellte. Die Zeit, in der sich die Konturen bilden. Meine, nicht die von anderen. Die Zeit, in der du an dich glaubst – Ich an mich, nicht an jemand anderen.
Pause. Ernüchterung setzt ein.
EDNA: Der Morgen an jenem Tag im August. Der helle, blaue Morgen an jenem Tag im August. Er fehlt mir am meisten. Wir wussten schon, dass es ein heißer Tag werden würde. Das war das einzige, was wir wussten.
Pause.
KAROLINE: Edna, du solltest nicht mehr hingehen, zu dem Unfallort. Das tut dir nicht gut.
EDNA: Ich weiß. Jeden Tag lauf ich die Straße runter und dann links zu der alten Sporthalle, trainieren. Jeden Tag. – Ich werd Umwege machen. Versprochen. Pause.
Grübeln. Die Grübelstechmarter. Das Stechen in meinem Kopf hört nur auf, wenn ich schlafe. Aber ich schlafe kaum noch, ich kann nicht ich kann nicht ich kann nicht mehr schlafen – Tut dir nichts leid. Von früher. Dassde die Schule nich mehr hast.
KAROLINE: Woher. Hätte ich weiterarbeiten sollen. Nach der Therapie. Hab ich nicht gepackt. Nervenzusammenbruch. Gar nicht wegen der Schüler. Die sind grausam direkt. O-Ton Olaf: Frau Karoline, hamse Ihnen die Milchtüten wegamputiert ... Sag ich, ja Olaf, ich lauf für immer oben ohne ... kannste meine Körbchen als Kaffeefilter verwenden – ... Das Schlimme waren die Kollegen. Frauen wie Männer. Als wär ich n Geist für die. Ich komm ins Zimmer, geh den Gang entlang, sie heben den Kopf wie bei einem Luftzug. Keiner sieht dich an. Oder plötzlich starren sie dir aufs Knie. – Das ist kein Leben.
EDNA: Wieso hast du dir nich gleich ein paar Ersatztitten besorgt.
KAROLINE: Ja. Rat mal. Es nehmen, wies kommt. Echt bleiben. Keep it real.
EDNA: Unverstellte Natur –
KAROLINE: Wer will schon er selber sein.
EDNA: Ich bestimmt nich.
Pause.
EDNA: Jetzt haste aber bald genug, oder.
KAROLINE: Ja. – Soll ja noch ästhetisch aussehen. – Nich dass es hinter meinem Rücken heißt, die Brüste sind okay, aber der Körper ist zu klein.
EDNA: Dir müssen sie gefallen.
KAROLINE: Gefallen – Ich muss sie rumschleppen. (Wirft eine Tablette ein.)
EDNA: Sag mal. Was nimmst du da. Ohne mich. Das is schon die dritte –
KAROLINE: Is nichts. Is nur wegen der Rückenschmerzen.
EDNA: Solltest nicht so viel wippen.
25.
Abends.
LUDWIG: Stell dich mal in die Badewanne.
ROSMARIE: Ah, das Wasser wird eisig sein, eisig wird es sein, eisig, eisig.
LUDWIG: Das kommt dir so vor. Lauwarm ist es.
ROSMARIE: Wir müssen Strom sparen. Wegen dem Krieg, ja.
LUDWIG: Is kein Krieg hier.
ROSMARIE: Is schon vorbei?
LUDWIG: Nein, Rosmarie. Wir haben keinen Krieg hier. Schon lange nicht mehr gehabt.
ROSMARIE: Oh.
Schweigen.
ROSMARIE: Ludwig –
LUDWIG: Was, Mama.
ROSMARIE: Kann ich dich was fragen; kann ich dich was fragen, ohne dass du mich auslachst.
LUDWIG: Ich lach dich nie aus. Was ist.
ROSMARIE: (nervös, schämt sich Ich weiß nicht)
LUDWIG: Sag nur.
ROSMARIE: Ich weiß nicht, kommt es mir nur so vor, bild ichs mir ein – aber – Pause. Den Edgar hab ich schon so lange nicht mehr gesehen. Sehr müde, sehr verzweifelt. So lange nicht mehr.
LUDWIG: (geduldig, nimmt Rosmaries Hände, liebevoll) Weißt du, Mama, der Edgar ist gestorben. Ein Auto hat ihn überfahren.
Pause.
ROSMARIE: Das werd ich nie begreifen.
Pause.
LUDWIG: Ich weiß.
Rosmarie hat sich ausgezogen
Und steigt in die Wanne
Legt sich ins Wasser
Legt sich ins Meer
Muscheln Schnecken Fische
Woher das Leben kommt
Ludwig meint, dass Susanne neben ihm steht
Oder Edgar
Oder Karoline
Oder zu wem könnte die Stimme gehören, die sagt
Tus nicht
Er strengt sich an
Lauter, befiehlt er
Wenn du mit mir reden willst, rede lauter
So dass ich dich verstehe
Er lauscht
Lauter, lauter, lauter
Ich kann dich nicht hören
Schrei doch nicht so, sagt Rosmarie
Er hält noch einen Augenblick inne, aber da ist sonst keine Stimme
Niemand, der zu ihm redet, alles stumm
Ludwig taucht die Schultern seiner Mutter unter Wasser, ein Tippen genügt, die Frau ist so dünn, so mager, sie wiegt fast nichts, die Schultern, dann der Kopf, die Mutter taucht unter, kommt hoch, die Haare nass, der Kopf wirkt noch kleiner als sonst, sie schaut nach oben, sieht Ludwig an, verblüfft, aber freundlich, sie lächelt sogar, ja sie lacht, ein Tippen, die Schultern, der Kopf, auf Wiedersehen Mama, Leb wohl, einmal zweimal dreimal taucht sie noch auf, sie holt keine Luft mehr, die Augen sind geschlossen, ihr Körper wehrt sich nicht, ihr Herz leistet keinen Widerstand, die Hände sind offen, ihre Lunge atmet Wasser
26.
OLAF: (schweigt lange und betrachtet das Publikum, bevor er spricht)
Ich muss nicht mehr raus
Ich brauch die Sonne nicht mehr zu sehen
Alles, was ich noch brauche, hängt am Ende einer Stromleitung
die in mein Zimmer führt
Alle Signale, die ich brauche, fängt mir
mein drahtloser Empfänger, meine Peilstation, meine Antenne
aus der Luft
Ich sende selber
Sonar Radar Ultraschall Lichtimpulse
Ein Insekt, eine Fledermaus
Ade Wetter und Tageszeit und physischer Kontakt
Alles auf dem Schirm
Das Draußen brauche ich nicht mehr
Euch ist euer Attentäter wichtiger als das Geschick eurer Nachbarn
Euch ist euer Terrorist wichtiger als das Geschick der Freunde
Aber vielleicht sind wir es am Ende
Wir, die ihr am besten zu kennen glaubt
von Kindesbeinen an
und die ihr doch am wenigsten kennt
Wir, von denen ihr denkt, die hat Gott nur so nebenbei erschaffen
oder sogar aus Versehen
auf alle Fälle, ohne sich viel Mühe dabei zu geben
und genauso sehen sie auch aus, und genauso wird auch ihr Leben verlaufen
Ein Dreck, bei dem zwischen Geburt und Tod nur Dreck passiert
Dreck, was sie anfassen, und Dreck, was sie tun
Dreck zu Dreck, ob sie wollen oder nicht
Wie könnten sie fähig sein, Böses zu planen
Wie könnten sie es wagen, an Handeln überhaupt zu denken
wo sie doch nur zufällig existieren
Vielleicht sind wir es
Wir, die einfachen, unscheinbaren Ex-Freeclimber aus der Nachbarschaft
die einmal wie Fliegen in der Wand hingen
die ihr genauso wenig bemerkt habt wie Fliegen an der Wand
bisschen lästig allenfalls
Wir werden euch am Ende lehren, was es heißt, in Furcht zu leben, in Furcht
27.
Sie sagen, wir hätten besser
Aufpassen müssen
Jeder einzelne von uns auf
Jeden einzelnen von uns auf
Jeden einzelnen
Jaja sichersichersicher
Das stimmt
Das hätten wir mal
Das hättest du
Das hättest du
Wir haben ihn nicht gesehen
Wir waren nicht zugegen
Der Tod war schneller als das Leben
Ich lass dich nie mehr fort
Ich lass dich nie allein
Wenn der Tod dich holt
Sollst du bei mir sein
Denn es sei
Zu erkennen gewesen
Denn es sei voraussehbar gewesen
Und man hätte etwas
Und wir
Hätten es
Verhindern können
Jaja sichersichersicher
Jeder einzelne von uns
Klare Sache
Im Nachhinein
28.
PETER: Er ging immer weiter. So abwesend. Leichtfertig. Ich bekam es mit der Angst. Was hatte er vor. Er wirkte nicht wie einer, der sich verirrt hat. Er ging zielstrebig weg, immer weiter weg. Ich rief ihm nach, Herr Schraube Herr Schraube. Kein Zucken der Schultern, kein Rucken des Kopfes. Ludwig, rief ich, Ludwig; vielleicht holt das ihn zurück. Nichts. Er wurde grün; die Farne wuchsen höher, je weiter er wanderte, umwucherten seine Knie, die Beine, die Hüften; der Schatten der jungen Bäume legte sich um seinen Körper, Blätter bewuchsen seine Arme, Zweige senkten sich herab und holten sich seinen Nacken, die Haare. Weiter ging er, weiter, bis er zwischen den Bäumen nicht mehr zu sehen war, bis das Grün ihn in sich aufgenommen hatte.
29.
Dann steht Susanne in Rabes Tür, Koffer in der Hand
Und er kann die Tür nicht mehr zumachen vor ihr
Sie betritt das Zimmer, das seines ist
Und beginnt, den Koffer auszupacken
Säuberlich stapelt sie ihre Sachen in den Schrank, der seiner ist
Und setzt sich auf das Bett mit einer selbstverständlichen Art
Die anscheinend bedeutet, dass sie zusammengehören
Miteinander leben sollen von nun an
Während Susanne von dem Mann redet, der seine Mutter getötet hat
Und fortgegangen ist
Keiner weiß wohin Einfach verschwunden
Denkt Rabe an die Frau, die er verlassen hat
Und dass er nie mehr einen Menschen, der denkt
Er könne zu ihm gehören, verlassen wollte
Also lässt er sich auf das Spiel ein, das keines ist
Von dem er nicht weiß, wie es weitergehen kann
Und hofft auf einen guten Ausgang
Es ist nicht zu verstehen Ob er Rosmarie
Unter Wasser gehalten hat Oder ob es ein Unfall war
Sie können es nicht wissen
Wie sollte sie von alleine ertrinken
Ein Herz- oder Schlaganfall
Die Obduktion findet nichts dergleichen
Zu seiner Überraschung findet Rabe Gefallen an dem Leben
Zu zweit, die Verliebtheit trägt
Wovon sie leben sollen, was weiter wird
Daran will er nicht denken
Ich kenne ihn überhaupt nicht, weiß nicht, wer der Mann ist, der mein Mann
war. Hilf mir, bitte, habe ich manchmal zu ihm gesagt, früher, Was soll ich tun
oder Sei da. Aber in seiner Welt durfte man keine Schwäche zeigen, nicht er
noch ich, keine Blöße keine Nacktheit kein Aufgeben. In seiner Welt, dachte
ich, tragen die Menschen Korsett, damit zusammengehalten wird, was sonst die
Form verlieren würde. Also habe ich gelernt zu schweigen, zu lächeln.
Obwohl es Susanne war, die zu ihm gekommen ist
Sucht sie Rabes Nähe nicht
Jetzt muss ich den Namen des Mannes nicht mehr aussprechen. Beide
verschwunden, Kind und Vater.
Sie will sich nicht umarmen lassen und geht steif umher
Wie rheumatisch, jede Bewegung verursacht Schmerz
Nachts rückt sie auf Abstand, eine Elle zwischen ihnen
Das kommt Rabe vertraut vor
Du wirst nicht gebraucht
Aber deine Gegenwart wird gewünscht
Ich mag dieses Gefühl
Es stimmt nicht, was sie sagen, darüber, wie man Soldat wird
Dass man sich selber auslöschen muss, die eigene Person vergessen
Ich habe mich nie so sehr gespürt
Wie in der Armee
Ich mochte dieses Gefühl, ich brauchte dieses Gefühl
Ich tat etwas Wichtiges
Wurde trainiert für besondere Einsätze
Ich meldete mich freiwillig
Kam dazu, dass
Es ist ja kein Krieg, wo wir sind
Nicht wirklich
Das Wort wird nicht mehr benutzt
Das Wort stirbt aus
Und wir sind Einsatzkräfte
Ich bin jetzt Einsatzkraft Operation Susanne
Das ist unser Feldlager
Wann der Marschbefehl kommt
Und wohin es dann geht
Wissen wir nicht
Rabe lacht
Rabe sieht auf seine verbundenen Hände
Eines ist sicher
Diesen Einsatz will ich zusammen gewinnen
Eines ist sicher
Ich hol dich hier raus
Verletzte nehmen wir mit
Tote bleiben zurück
Ab jetzt wird alles anders
Erste Liebe zweite Liebe dritte Liebe vorbei. Ich habe immer darauf gewartet, dass mein Leben ein Ganzes wird. Schön blöd was. Schule, Arbeit, fehlt was, Heiraten, fehlt was, Kind kriegen, fehlt immer noch was. Warten. Ich wusste nicht worauf, dass sich mein Leben komplettiert oder so.
Ein Ganzes würde, einen Schlussstein bekäme, wie ein Dach den letzten Ziegel, damit es nicht hineinregnet. (Pause.) Und seit Edgar gestorben ist, fehlt nichts mehr. (Pause.) Komisch oder. (Pause.) Nicht dass du denkst, dass es das war, worauf ich gewartet habe. Es ist einfach so, dass es immer weitergeht, das Leben. Es ist nicht fertig und wird nie fertig sein, egal, was mit uns geschieht. Das ist kein neuer Schmerz, es ist kein Trost. Es ist nie zu Ende. Das habe ich jetzt verstanden. (Schweigen.) Es ist nie zu Ende. Es ist alles offen. Immer. (Schweigen.) Und deswegen habe ich jetzt größere Angst als jemals zuvor.
Ein Gefühl der Hilflosigkeit droht in Rabe aufzusteigen
Jedesmal, wenn Susanne so redet
Er hat nicht so viele Worte zur Verfügung
Er würde lieber handeln
Kann man Handeln durch Worte
Manchmal bekommt er Kopfweh, wenn sie redet
Er redet zurück, so gut er kann
Für zwei Menschen füllen sie diesen Raum mit zu vielen Gedanken
Das spürt er
Die Gedanken, die ausgesprochenen, und die, die sich in ihrer beider Köpfe
bewegen, dauernd
Sie drohen den Raum zu sprengen
Und machen eine ganz gefährliche Kiste aus diesem Ding hier
Das spürt er
Wir brauchen jemand, der sich unserer Gedanken annimmt
Erstens, der sich das in Ruhe anhört; zweitens, der da eine Ordnung reinbringt
Drittens, der sie aufbewahrt, bis wir sie vielleicht einmal wieder haben möchten
Wir müssen sie los werden
Susanne nickt stumm
Sie haben ihr eine Betreuung angeboten
Fürsorge Fürsorge
Aber dann unternimmt sie doch nichts weiter
30.
EDNA: Hie und da eine anonyme Drohung
Und heute Die wievielte
Der Attentäter wieder unterwegs
Edna konnte es nicht verhindern
Letzte Chance Die Bombe finden
sie entschärfen Auf dem Weg zum Einsatzort
der Andere werden Endlich
kann ich beweisen, was ich kann
Das Ziel Ein Restaurant im Zentrum
kurz nach Büroschluss, gut besucht
Vor Wochen habe ich Peroxid besorgt
Chlorwasserstoffsäure Azeton
dann gehofft, auf mein Zeichen
jetzt bin ich hier Endlich
Endlich werde ich zu mir kommen
Pause.
In einem Hauseingang
gegenüber von dem Restaurant
Warten Beobachten
Ich sehe an meinem Körper hinab
Ich trage den Gürtel
den Gürtel mit dem Sprengstoff
Wer bin ich
Ich sehe an meinem Körper hinab
Ein Mann Eine Frau
Die Hände Arme Beine wie sehen sie aus
grob zart lang gedrungen fleischig zierlich
Meine Schuhe Was habe ich an Die Farben
Ich betaste meine Haare Mein Gesicht
Wer bin ich Wie sehe ich aus
Ich kann mein Gesicht nicht erkennen
Es ist noch Zeit
Es ist noch Zeit
Ich sehe, wie zwei Jugendliche vor dem Lokal
ihre Fahrräder losketten und wegfahren
Ein Geschäftsmann, Hut schwarze Tasche, kommt heraus
hastet die Straße hinunter
Blonde Frau, zwei kleine Kinder, studiert die Speisekarte
geht weiter Ein Kind hüpft voraus Hot Dog Hot Dog
Drei alte Frauen, bleiche Gesichter stark geschminkt
verlassen das Lokal, plaudern plaudern plaudern
Eine Gitarre schiebt sich an ihnen vorbei, hinein
Hinterher eine zweite Gitarre Und ein blauer Wollmantel
Ein Rucksack ruft ihm nach, läuft, stolpert, fällt beinahe, stolpert, fällt
beinahe, fängt sich auf einem Bein, lacht Drei bleiche Gesichter hochrote
Münder lachen mit, Hoppla, Vorsicht junge Frau
Der Rucksack verschwindet im Lokal
Es ist noch Zeit
Es ist noch Zeit
Die Weißgesichter küssen einander
Ich sehe an mir hinab
Wer bin ich
Wann
gehe ich hinüber und hinein
Ich sehe auf die Uhr, verfolge den Sekundenzeiger
und zähle
von 21 rückwärts
31.
Wieso hast du die Wohnung so schnell gekündigt
Das war doch die deine, mit Vertrag
Ich will die Erinnerung nicht
Du hättest die Wohnung behalten können
Drei Menschen, die ich verloren habe, drei
Und in der Luft ist noch ihr Geruch
Und ich atme ihre Abwesenheit mit jedem Zug
Da hätten wir doch aber viel mehr Platz gehabt
Schrei doch nicht
Entschuldige, das hab ich gar nicht gemerkt
Ich hätte sie streichen können, die ganze Wohnung weiß
Nein, gelb, ja, etwas Fröhliches, wie du es gerne hast
Schon gut, jetzt ist es zu spät
Die Toten sind keine Bedrohung für Rabe
Auch nicht die Verschwundenen
Er hätte es ausgehalten mit ihnen, die Wohnung wäre groß genug
Das macht er sich weis, und dass er etwas Festes will
Nichts so Vorübergehendes wie ein Leben im Hotel
Dauernd steht er am Fenster und sieht hinüber
Jemand schraubt die Glühbirnen heraus
Susanne, man wird kein Licht mehr machen können
Einer trägt eure Matratzen weg
Soll ich mal kurz rüber
Bloß nicht, bin froh, wenn ich das versiffte Zeug los bin
Ich könnte vielleicht was retten
Suchst du Streit
Kommst du darauf
Ich will dieses Leben nicht mitnehmen Ich will nicht dran erinnert werden
Er versteht sie ja, er versteht sie
Seine Hände, die Finger, die Haut unter den Verbänden juckt
Er versteht sie ja, nur dass er, nachdem er so oft so viel zurückgelassen hat
Endlich etwas Festes will, das redet er sich ein
Die Haut unter den Verbänden juckt
Er muss endlich wieder etwas in die Hände nehmen können
Das tote Kind taucht öfter wieder auf
Und er kann es nicht anfassen
Nachts vor allem, wenn er wach neben Susanne liegt
Es arbeitet unter den Verbänden, das müssen ganz kleine Tiere sein
Die seine abgestorbenen Hautfetzen zwischen ihre winzigen Zangen nehmen
Zwischen ihre Kiefer stecken, sie zernagen und auffressen
Er hat Angst davor einzuschlafen, wenn er einschläft und nicht mehr achtgibt, dann fangen sie womöglich an, seine gesunde Haut, sein gesundes Fleisch anzufressen, das ginge im Schlaf, ohne dass er es merken würde, und wenn er erwachte, wäre es zu spät, sie hätten sich bereits durch sein Fleisch genagt, seine Sehnen die Knorpel die Muskeln hätten sie gründlich verdaut, das Blut aus den Adern haben sie mit ihren kleinen Mäulern getrunken, sie holen sich Kraft aus seinem Fleisch seinem Blut, die Knochen wären noch übrig, und, wenn er erwachte, sein Kopf wäre noch da, das Gehirn wäre noch da, er würde es spüren, das warme Kribbeln und Trippeln der Tausendschaften
insektenhafter Tierchen, wie sie ihn zärtlich mit ihren Tentakeln betasten, er fühlt sie die Klippe seiner Lippen nehmen, und dann sind sie auf seiner Zunge, und bevor sie über seine Augäpfel schwärmen, schließt er die Lider, es kitzelt, sie sind dabei die Wimpern zu rupfen, bald wird er nicht mehr sehen können, unter den Lidern schwimmt eine Flüssigkeit, jetzt marschieren sie und verstopfen mit ihren Körperchen die Nasenhöhle, und bald wird er keine Luft mehr
Schrei doch nicht Schrei doch nicht
Schrei doch nicht
Entschuldige, das hab ich gar nicht gemerkt
Hast du geschlafen Deine Augen waren wieder weit offen
Nein Nein Ich hab nicht geschlafen
Hab ich dich geschlagen
Nur ein bisschen Im Schlaf Aber du hast ja nicht geschlafen Nein nein du hast
mich nicht geschlagen Ich glaube du hast Fliegen gefangen den Rauch deiner
Zigarette weggewunken Ich glaube du wolltest mich aufwecken um mit mir zu
spielen
Zu spielen Ja Ja So wirds sein Zu spielen genau So wirds sein
Susanne nimmt seine Hände
Sie nimmt seine Hände und hält sie fest und streicht über die Mullverbände
Langsam und gründlich wie es ihre Art ist
Sie hat gemerkt, dass Rabe diese Bewegung beruhigt
Ich spüre nichts Ich spüre nichts
Er ist erleichtert Ich spüre nichts Das ist gut
Sie gibt Rabe ein paar von seinen Medikamenten und wartet, bis er schläft
Richtig schläft diesmal
Sie weiß nicht, was ihn quält Sie kann es nicht einmal ahnen
Wir haben uns nichts versprochen Außer, nicht verständnisvoll zu sein
Gut Gut Kein Verständnis bitte
Das war so sehr ernst wie es ein Spiel war
Und doch sprechen sie miteinander
Die Sehnsucht, einander zu verstehen, ist so groß
Dass sie zu dem andern sprechen, wenn er schläft
Aber von dem toten Kind
Und allem, was damit zusammenhängt
Kann Susanne nie sprechen
Das tote Kind versetzt Rabe in glühende Aufregung
Auch wenn er sich zu beherrschen versucht
Das tote Kind provoziert Rabe derart
Dass sie schon meinte, Rabe würde aus dem Fenster springen
Oder er würde sie hinunterwerfen und hinterherspringen
Oder er würde sie packen und zwingen mit ihm zugleich zu springen
Oder
Dabei hatte sie nur
Versucht
Die Einsamkeit, mit der ich lebe, sie ist wie eine fremde Person in mir. – Ich weiß, du hast dafür kein Verständnis. Lach doch. Macht nichts. – Die Fremde, sie geht in mir umher, sie besetzt Räume meines Körpers, in denen ich nie war. Pause. Alles, was ich höre, der Widerhall meiner eigenen Schritte. Alles, was ich spüre, die Enge meines Herzens. Alles, was ich sehe, die Verkommenheit meiner Welt.
Rabe erträgt es nicht, wenn sie so redet
Er nickt zu allem und heuchelt Freundlichkeit
Und lächelt, bis ihm ganz schlecht wird
Er liebt Susanne, auf keinen Fall soll sie denken
Er höre ihr nicht zu
Manchmal gelingt es ihm, bis zum nächsten Tag ruhig zu sein und zu vergessen
Obwohl in seinem Kopf Susannes Worte toben
Die Wörter schlachten einander ab
In seinem Kopf, und er kann sie nicht daran hindern
Und in seinem Körper zucken und verkrampfen sich alle Fasern und wollen nur
eines
Bewegung
Es muss etwas getan werden Es muss etwas geschehen etwas Lautes und
Durchgreifendes Etwas das alles wieder ins Lot bringt Eine schöne Eine
Ordnung Eine Ruhe
Die das Normale wieder herstellt
Das sich gut anfühlt
Es soll sich gut anfühlen
So wie ganz früher
Als er noch
Einsam
Wieso sagt sie das
Schmerz
Wieso sagt sie so etwas
Ohne Zukunft
Wie kann sie sowas sagen
Verkommenheit
Ich könnte jetzt ein Gewehr nehmen, ein Messer, eine Granate. Ich könnte aus dem Fenster schießen auf jeden, der zufällig vorbeikommt, und seien es achtzehn hintereinander, und sei es eine Schulklasse. Ich könnte mich in eine Einkaufspassage stellen und dem nächstbesten, der mich ansieht, der mich nur ansieht mit etwas im Blick, das ich gerne missdeute, das mir nicht gefällt – dem ramme ich die Klinge in die Eingeweide bis zum Heft, zwischen die Rippen, mitten ins Herz – ich könnte es tun. Ich könnte es jetzt tun. Ich würde es gern tun. Jetzt.
Rabe
Rabe
Susanne ganz leise
Denk doch an uns
Dass wir uns begegnet sind
Dass wir uns gefunden haben
Dass wir hier sind
Trotz allem
Rabe
Susanne noch leiser
Wir sind hier Wir sind wirklich
Ja, ich könnte es immer noch tun. Ich habe Angst davor, dass ich es immer noch tun könnte. Es ist noch lange nicht vorbei. – Deshalb bin ich hier. Deshalb wage ich mich kaum hinaus. Hier, wenn mich dieser Traum, dieser Albtraum, diese Gedanken, dieser Zwang überfallen, werde ich mich selber festbinden, ich binde mich fest, ich habe das schon getan, ich habe meine Medikamente, ich warte, bis es vorbei ist, ich schlage den Kopf auf den Boden, bis es vorbei ist, ich beiße meine Knöchel, bis es vorbei ist, ich nehme meine Tabletten und werde bewusstlos, bis es vorbei ist.
Susanne muss ihm zusehen
Wie er sich festbindet
Sie will ihn davon abhalten
Er droht ihr
Habt ihr das in der Armee gelernt
Euch selbst zu fesseln
Witz versucht
Ich bin der Feind, Susanne, ich bin der Feind
Susanne laufen Tränen übers Gesicht
Obwohl sie lachen will
Rabe hat Übung, er verwendet zwei Seile
Die er am Bett verknotet, am Ende je mit einer Schlinge
In die er mit den Füßen schlüpft
Ein Handgelenk schließt er mit einer Handschelle an das Bett
Wenn er sich ausstreckt, ziehen sich die Schlingen zusammen
Es geht schnell
Er ist ruhiger jetzt
Er gibt vor eingeschlafen zu sein
Damit auch Susanne sich beruhigen kann
Sie legt sich zu ihm auf den Boden
Sie küsst seine Augen
Sie streicht über seinen Körper
Er wartet, bis er ihren Atem spürt
Im Rhythmus des Schlafs
Da sagt er es
Er sagt ihr flüsternd, fast ohne Ton
Was er gesehen hat, was ihm passiert ist
Er spricht es aus, während sie schläft, damit sie es weiß, ohne
Dass sie es sich anhören muss, ohne dass sie Mitleid bekommen muss, ohne
Dass ihr etwas wehtun muss, ohne
Dass sie darauf antworten muss, sie braucht nicht zu reagieren
Er spricht es in die Nacht
In den dunklen Raum hinein
Und die Luft trägt seine Worte in ihren Gehörgang und
Lässt sie in ihren Schlaf eindringen, eintauchen
Hör doch Susanne, es war so
Ich hatte Wache, und es gab einen Alarm am Tor. Draußen stand eine Familie, sie brachten ein Kind. Das Kind war bewusstlos, der Vater hielt es auf den Armen. Ich sah, dass der Bauch des Kindes unnatürlich geschwollen war, und an der Schläfe hatte es eine Wunde. Ich ließ die Sanitäter rufen und legte das Kind auf eine Bahre. Der Vater, die Mutter und zwei Geschwister standen daneben. Ich habe meine Hände auf seinen Bauch gelegt. Die Schwellung war hart und unnachgiebig. Ich nahm eine Hand des Kindes in meine. Eine Fliege setzte sich auf sein Gesicht, ich verjagte sie und streichelte seine Wange. Es öffnete die Augen, sah mich an und starb.
32.
EDNA: In einem Hauseingang
gegenüber von dem Restaurant
Ich sehe an meinem Körper hinab
Ich trage den Gürtel
den Gürtel mit dem Sprengstoff
Wer bin ich
Ich sehe an meinem Körper hinab
Ein Mann Eine Frau
Die Hände Arme Beine wie sehen sie aus
grob zart lang gedrungen fleischig zierlich
Meine Schuhe Was habe ich an Die Farben
Ich betaste meine Haare Mein Gesicht
Wer bin ich Wie sehe ich aus
Ich kann mein Gesicht nicht erkennen
Ich sehe auf die Uhr, verfolge den Sekundenzeiger
und zähle von 21 rückwärts
Und dann, sieben Sekunden, bevor ich losgehen soll
über die Straße und mitten ins Ziel
biegt die Frau, die ich liebe, um die Ecke
Sie biegt um die Ecke, und betritt das Restaurant
die Frau, die ich liebe
(Schweigen.)
Der Mann, den ich liebe
(Schweigen.)
Das Kind, das ich liebe
(Schweigen.)
Fünf vier drei
Stille
Stille
Stille
Ich sehe an mir hinab
Ich trage keinen Gürtel
Ich kann mein Gesicht nicht erkennen
Fünf vier drei
Drüben, auf der anderen Straßenseite
geht eine Gestalt
Eine Gestalt
Irgendjemand
geht hinein wer
wo
Zwei eins null
33.
Heute kommen sie runter
Heute sehen wir nach
Susanne darf vorsichtig Rabes Mullverbände abwickeln
Nicht nur austauschen Heute kommen sie runter
Susanne macht etwas Besonderes daraus
Wie lange sind wir zusammen Noch nie habe ich deine bloßen Hände gespürt
Das muss man sich mal vorstellen Normal ist das nicht
Heute wird gefeiert Sie hat Sekt besorgt
Rabe ist schlecht gelaunt von Anfang an
Darüber hinweggehen wäre ihm lieber
Also mach schon und mach schnell
Runter mit den Verbänden rein mit dem Sekt gleich schlafen
Und erst morgen wieder Bewusstsein
Nun lass doch mal in Ruhe angucken Sindse verheilt Halt doch mal still
Hm alle zehne sinds noch Aber gut sieht das nich aus Vorne alles verstümmelt
Ja Herrgott nochmal was hast du denn erwartet Türlich sindse verstümmelt
Brauchst nicht zu brüllen deswegen
Was Was Was hast du dir vorgestellt Dass ich ausseh als ich käm ich von der
Maniküre
Nee aber
Was Was Was
Du bist heut echt zum Abgewöhnen
Fang schon mal an und dann schau ich zu wie lange du durchhältst Aber du kriegst ja nix auf die Reihe alleine Wär vielleicht ganz gut gewesen sone kleine Pause zwischen dem einen und dem anderen Kerl oder nich Bevor du dich wieder wo festsaugst wo du gar nich sein willst und zehn Jahre später merkst dus dann aber wie jetzt runterkommen von diesem Tandem Wird eben noch paar Jahre weitergestrampelt bis du irgendwann vor Erschöpfung umfällst
Rabe Ich versteh dass
Bitte nicht Bitte nicht Bitte nichts verstehen Du hast es mir versprochen
Soll ich gehen
Nein Nein natürlich nicht Bleib
Es tut mir so leid Es tut mir so weh Was mit deinen Händen passiert ist Es ist Edgars Schuld im Grunde Also ist es auch meine Schuld Ich übernehme sie von ihm Unsinn
Unsinn Wäre ich nicht dort gewesen An dem Tag Zu der Stunde Am hellichten
Mittag des neunzehnten August Wenn irgendjemand Schuld hat Ich hab nichts
verhindert Hätt ich was verhindern können
Schrei nicht gleich wieder so
Erzähl lieber
Erzähls mir
Ich habe meine Hände auf seinen Ball gelegt
Nur eine Minute vielleicht weniger
Das Ventil gesucht
Den Ball mit meinen Fingerspitzen gedreht und gedrückt
Um die restliche Luft darin zu fühlen
Er brauchte nur aufgepumpt zu werden Man konnte ihn nicht kicken
Das erste Auto raste vorbei
Dicht ganz dicht an uns vorbei
Edgar
Er hat sich erschrocken
Und wollte über die Straße nach Hause nach Hause
Zu mir Er wollte zu mir
Ja Sicher
Siehst du Meine Schuld Meine große Schuld
Hör auf
Meine Schuld
Hör auf damit
Deine Hände Edgars Tod Meine Schuld
Sei endlich still
Rabe schlägt zu
Es geht so schnell dass er selber erschrickt
Er schlägt zu und schlägt noch einmal zu
Susanne überrascht fasst sich wütend lässt sie sich etwa das Wort verbieten
wütend
Meine Schuld Dass Edgar tot ist Dass Rosmarie tot ist
Rabe schlägt zu
Es ist jetzt fast eine Erleichterung
Hat sie ihm nicht indem sie hemmungslos weiter redet und einfach nicht aufhört und keine Rücksicht auf ihn nimmt die Erlaubnis gegeben
Er schlägt zu
Dass Ludwig weg ist Meine Schuld Dass er verschwunden ist Meine Schuld
Fordert sie ihn nicht heraus seit sie bei ihm eingezogen ist Muss sie diese gottverdammten Wörter gebrauchen wenn er das nicht will wenn er sie bittet das nicht zu tun Maul halten
Es geschieht mir recht Es geschieht mir recht Weißt du dass er mich betrogen
hat Ich glaube das hat er
Susanne blutet und schreit
Meine Schuld
Rabe schlägt zu
Nichts Nichts Nichts ist ihre Schuld oder war es jemals Sie ist unschuldig und er liebt sie und wenn sie das endlich verstehen könnte würde es ihnen viel besser gehen Wenn sie einsehen würde dass es nichts nützt sich zu martern mit diesen Gedanken über die Vergangenheit und wer warum was Er ist so müde Er schlägt zu nur aus Müdigkeit Weil sie diese Zukunft die vor ihnen liegt jeden Tag mehr kaputtredet Aber Susanne blutet Aber Susanne wehrt sich sie tritt nach Rabe auf dem Boden liegend trifft sie ihn mitten in den Magen die Weichteile den Bauch Sie hat keine Angst vor ihm überhaupt keine Angst Sie muss das bisschen Leben verteidigen das ihr geblieben ist und während sie das Eisen in ihrem Mund schmeckt ist ihre Liebe für Rabe so groß dass sie ihn töten könnte weil sie ihn so sehr liebt dass sie ihn sterben sehen könnte weil sie ihn so sehr liebt dann wäre Ruhe für ihn keine Furcht mehr keine Medikamente und sie würden sich freuen nur freuen können aneinander so wie es sein sollte die Freude war ihnen bestimmt nichts anderes und irgendwer verhindert das etwas trifft ihr rechtes Auge sie sinkt hintüber erwischt das Telefon das sie mit voller Wucht gegen Rabes Kopf schlägt als er sich über sie beugt sie weiß jetzt wer ihre Freude verhindert sie selber sind es sie selber hindern sich daran glücklich zu sein da ist es nur folgerichtig wenn sie sich kaputtschlagen das
Zerstörerische in ihnen kaputtschlagen damit sie dann Friede haben miteinander das Aufbegehren der Zärtlichkeit für ihn ist so stark dass sie ihn umarmen möchte aber sie hat nicht mehr die Kraft dazu
Keine Ahnung Nebelbänke Gedächtnisuntiefe Is was passiert Bilderfetzen son Fetzen der bleibt ich weiß auch nich so was Unvollständiges so eingerissene Seiten so was Scharfkantiges was sich nicht rausziehen lässt aus deinem Kopf so was Furchtbares was man weghaben will
Erinnerung
Erinnerung
Bloß weg damit
Rabe sieht Susanne am Boden liegen
Er kauert sich neben sie
Wozu bin ich fähig
Sie atmet
Wozu werde ich fähig sein
Er hebt sie auf und legt sie aufs Bett
Sie atmet
Wozu werde ich fähig sein
Er will dass sie lebt
Er will dass sie sie finden
Er wird ein großes Feuer machen
Damit sie sie leichter finden können
Er wird das Feuer sein
Er wird das Feuer sein
Das für sie brennt
Er öffnet einen Kanister
Überschüttet sich mit Benzin
Er entzündet sein Feuerzeug
Er brennt
Das letzte Feuer Das erste Feuer
Epilog
Keiner von uns lebt mehr hier
Ich bin im Knast
Schon wieder
Kann passieren Alter
Ich bin tot
Ich auch
Ich hab endlich Arbeit gefunden, Koch
Na ja, is nur ne Imbissbude, aber is in Danzig
Ich bin immer noch verschwunden
Wenn man mich fragt, sag ich verwitwet
Zweimal verwitwet
Und die Wunden sind verheilt
Kommt nicht oft vor, dass einer fragt
Ich bin weggezogen, nach, stationär
Wir haben uns nie wiedergesehen
Die kommen nie an mein Grab
Keiner kommt mich am Grab besuchen
Und ich lieg da und warte und warte
Ich bin auch tot und krieg kein Besuch
Und ich warte nich so schick mit Marmorengel
Und pipapo, bei mir is oben drüber nur die Erika
Und dass die mal blüht, da hoff ich n Dreivierteljahr drauf
Keiner von uns lebt mehr hier
Das Malen hab ich aufgegeben
Stattdessen kleines Spezialgeschäft für erotische Prothesen
Und die Kunden berate ich persönlich
Ich bin weggezogen, nach, ambulant
Wir haben uns nie wiedergesehen
Dann lass uns langsam nach Hause zum Efeu und zun Würmern
Ja schieb die Platte wieder drüber über die Kiste
Aber komm öfter raus ausm Loch
Mensch zusammen an die frische Luft
Ich zeig dir mal die Sterne
Wie denn, wo von dir nur Asche übrig ist
Wir haben uns nie wiedergesehen
Ich bin im Knast und
Ich geh nicht zurück ich hau ab jetzt
Ich hau ab jetzt jetzt jetzt oder nie
Freigang dass ich nich lache
Ich mach es wie die Vögel im Herbst
Warte auf den richtigen Wind und
Schwing mich und
Fliege davon
Liebe Liebe Liebe
Muss es wohl sein
Wie sie sich wundern
Luft haben, Aufatmenkönnen
In der Gegenwart des Anderen
Die Fenster weit auf
Licht Brise Sonne
Lass mich dich ansehen
Die Zeit vergeht nicht
Die Zeit bleibt still
Wir halten sie an
Sie fallen in den Augenblick
Der Augenblick ist endlos
Das tote Kind, das unter der Erde liegt, nie vergessen
Immer mit erinnert
Der Humus, auf dem sie wachsen
Vergiss nicht
Sie wagen sich vor auf fremdes Körpergebiet
Rabe mit seinen Mullverbandsfingern
Bringt Susannes nackte Haut zum Lachen
Und wärmt sie, wo sie es nicht nötig hätte
Susanne sammelt und zählt mit geschlossenen Augen
Jedes Mal, jede Narbe auf Rabes Haut
Und mit jedem Mal kommt sie auf eine andere Zahl
Und muss ihre Forschertätigkeit von Neuem beginnen
Narbe 9 oder 12, der Biss eines Hundes, harmlos
Narbe 17 oder 21, am Knie, Erinnerung an einen Sturz in Glassplitter
Das dicke Muttermal unter dem linken Arm, angeboren
Die Einbuchtung in der Mitte des Brustbeins
Ein gebrochener und dann verwachsener Knochen
Über solche Dinge wie die Naht am Oberschenkel, 15 oder 16
Und das münzgroße Relief unterhalb des Schulterblattes, 8 oder 11
Gibt Rabe keine Auskunft
Schiebt Susannes tastende Finger sacht beiseite
Und täuscht vor, eingeschlafen zu sein
So aber, weil er schläft, kann Susanne die nicht erklärten Spuren
Umso konzentrierter küssen, mit einer Hingebung
Die glauben möchte, ihre Zärtlichkeit sei es
Die sie bis in die tiefste Vergangenheit hinein auslöschen könnte
Vergessen, was zu vergessen ist
In den stillen Stunden
Auf Rabes Zimmer
Zum ersten Mal sieht sie Rabe fröhlich
Rabe lacht, er lacht tatsächlich
Einmal nur verlassen sie das Zimmer
Susanne, am offenen Fenster, sieht über die Straße
Vielleicht beobachtet Ludwig uns manchmal
So wie du es früher getan hast
Aber er ist ja nicht zuhause
Übermütig packt sie ihre Tasche und zieht Rabe die Treppen hinunter
Ehe er sichs versieht
Mit der S-Bahn bis zur Endhaltestelle
Von da laufen sie, rennen
Rennen rennen gegen die Zeit bleib stehen
Ein, zwei Sommer lang haben sie mich »Araber« genannt. Jeder brauchte einen Spitznamen. Ich gehörte zu niemandem, sie fanden es lustig. Nach dem Unterricht ging ich nach Hause und zog dann allein los. Sie taten mir nichts, gar nichts. Es war nur dieses Wort, das eine Grenze zog. Zwischen mir und ihnen. Oder war es das Wort, das die Grenze benannte, die vorher und immer schon da war.
Wenn wir irgendwohin gingen, brauchte nur einer zu rufen, Hey Araber, und ich bekam den zugigen Platz, das kalte Essen, das hässliche Mädchen. Rabe, ich heiße Rabe. Sie lachten. Er schämt sich, Araber zu sein. Ich gab mir Mühe. Wenn schon ein falscher Araber, wollte ich wenigstens der Klügste, der Schönste, der Mutigste sein. Sie lachten, und ich blieb der Andere. Und konnte nichts sein als der Andere. Bis ich dachte, gut, so sei es, seht in mir den Abschaum. Und wenn ihr wollt, dass meine Füße schwarz sind, ich dunkel bin und undurchsichtig, dann sollen meine Füße schwarz sein, nur für euch. Und ich ließ sie sein, und wurde, der ich bin.
Von da laufen sie, rennen
Rennen rennen gegen die Zeit bleib stehen
Atemlos kommen sie am See an
Ruderer, ich wollte Ruderer werden
Das war der Sommer, in dem ich anfing zu trainieren. Alles durcheinander zuerst, Boxen Rudern Ringen. Mein Onkel hatte einen Kahn, mit dem ich den Fluss hinauf gegen die Strömung ruderte.
Ein Fluss, auf dem Schaum trieb über einem Grund, bis zu dem man nie hinabsehen konnte. Ich wollte mich nicht prügeln. Ich wollte nicht kämpfen. Ich wollte nur gewappnet sein, falls sie kämen, um mich anzugreifen.
Sie rennen das Flussufer entlang
Die Bewegung war schön. Ich lernte meinen Körper zu beherrschen. Die Bewegung war schön. Ich hätte Ruderer werden sollen statt Soldat.
Sie rennen das Flussufer entlang
Ein regnerischer Tag, sie sind allein, das Ufer ist aufgeweicht
Schilf Grasnarbe schwarze Erde
An einem Steg, zwei Holzbohlen breit, finden sie einen Kahn
Stumm betrachten sie die Ruder, die in den Dollen stecken
Nach innen geschlagen
Zwischen zwei Planken eine undichte Stelle im Boden
Ein Strahl Wasser drängt ins Boot und läuft wieder ab im Rhythmus der Wellen
Sie binden das Seil los und springen hinein
Keiner von beiden macht den Versuch zu rudern
Sie legen sich auf den Rücken und lassen sich auf den See hinaustreiben
24.
Sie haben Gras geraucht, Höhepunkt ist vorbei, letzte Züge.
EDNA: Sag nochmal. Qiu Shihua. Sag nochmal.
KAROLINE: Qiu Shihua. Ich weiß nicht, wie er aussieht. Keine Ahnung, obs ein Foto von ihm gibt.
EDNA: Ja gut, Chinese halt. Chinese um die siebzig. Ziegenbart. Flache Nase mit großen Löchern. Kann ich mir vorstellen.
KAROLINE: Schneckenlangsam. In jedem Lebensjahr, das ein Arbeitsjahr war, hat er ungefähr ein Bild gemalt. Das, sagt er, sagt man, reicht.
EDNA: Beschreib sie mir. Man kann lange nichts erkennen.
KAROLINE: Sie sind alle – fast weiß. Auf den ersten Blick weiter nichts als ein bisschen angeschmutzte Leinwand. Unscheinbare Flecken.
EDNA: Aber ganz allmählich, wenn man lange genug davor steht –
KAROLINE: Beginnt man zu ahnen, was man vor sich hat, welche Wege, Weiten, Landschaften sich zeigen, öffnen können in dem Licht –
EDNA: Das auch aus dem Bild selbst kommt, das auch –
KAROLINE: (wirft eine Tablette ein) – das auch imaginär ist. Dinge, die vorher nicht da waren. Die der erste, auch der zweite dritte vierte Blick nicht sieht. Die nur das müde Auge sieht, das so lange geschaut hat, dass es tränt und das Lid zuckt; dann zeigt es dir allmählich die Wirklichkeit.
EDNA: Den Himmel, wie er, eben noch verhüllt, von einer blendenden Sonnenkugel durchleuchtet wird. Das Licht breitet sich aus und durchdringt die Wasser, das Land und dich, der du als Betrachter davorstehst.
KAROLINE: Wunderbarer noch, es ist dein Auge, es ist dein Denken, das die Formen, die Farben, die Bilder erschafft. Sie brauchen Zeit, sie nehmen dir Zeit, und geben dir Raum und Ruhe und Glück zurück. Sie schenken dir –
(wirft eine Tablette ein.)
EDNA: Imagination. Ja. – Mir hat man diese Zeit gestohlen. Die Zeit, in der ich hätte erkennen können, was ich für Möglichkeiten habe. Die Zeit, in der alles weiß war und sich langsam erhellte. Die Zeit, in der sich die Konturen bilden. Meine, nicht die von anderen. Die Zeit, in der du an dich glaubst – Ich an mich, nicht an jemand anderen.
Pause. Ernüchterung setzt ein.
EDNA: Der Morgen an jenem Tag im August. Der helle, blaue Morgen an jenem Tag im August. Er fehlt mir am meisten. Wir wussten schon, dass es ein heißer Tag werden würde. Das war das einzige, was wir wussten.
Pause.
KAROLINE: Edna, du solltest nicht mehr hingehen, zu dem Unfallort. Das tut dir nicht gut.
EDNA: Ich weiß. Jeden Tag lauf ich die Straße runter und dann links zu der alten Sporthalle, trainieren. Jeden Tag. – Ich werd Umwege machen. Versprochen. Pause.
Grübeln. Die Grübelstechmarter. Das Stechen in meinem Kopf hört nur auf, wenn ich schlafe. Aber ich schlafe kaum noch, ich kann nicht ich kann nicht ich kann nicht mehr schlafen – Tut dir nichts leid. Von früher. Dassde die Schule nich mehr hast.
KAROLINE: Woher. Hätte ich weiterarbeiten sollen. Nach der Therapie. Hab ich nicht gepackt. Nervenzusammenbruch. Gar nicht wegen der Schüler. Die sind grausam direkt. O-Ton Olaf: Frau Karoline, hamse Ihnen die Milchtüten wegamputiert ... Sag ich, ja Olaf, ich lauf für immer oben ohne ... kannste meine Körbchen als Kaffeefilter verwenden – ... Das Schlimme waren die Kollegen. Frauen wie Männer. Als wär ich n Geist für die. Ich komm ins Zimmer, geh den Gang entlang, sie heben den Kopf wie bei einem Luftzug. Keiner sieht dich an. Oder plötzlich starren sie dir aufs Knie. – Das ist kein Leben.
EDNA: Wieso hast du dir nich gleich ein paar Ersatztitten besorgt.
KAROLINE: Ja. Rat mal. Es nehmen, wies kommt. Echt bleiben. Keep it real.
EDNA: Unverstellte Natur –
KAROLINE: Wer will schon er selber sein.
EDNA: Ich bestimmt nich.
Pause.
EDNA: Jetzt haste aber bald genug, oder.
KAROLINE: Ja. – Soll ja noch ästhetisch aussehen. – Nich dass es hinter meinem Rücken heißt, die Brüste sind okay, aber der Körper ist zu klein.
EDNA: Dir müssen sie gefallen.
KAROLINE: Gefallen – Ich muss sie rumschleppen. (Wirft eine Tablette ein.)
EDNA: Sag mal. Was nimmst du da. Ohne mich. Das is schon die dritte –
KAROLINE: Is nichts. Is nur wegen der Rückenschmerzen.
EDNA: Solltest nicht so viel wippen.
25.
Abends.
LUDWIG: Stell dich mal in die Badewanne.
ROSMARIE: Ah, das Wasser wird eisig sein, eisig wird es sein, eisig, eisig.
LUDWIG: Das kommt dir so vor. Lauwarm ist es.
ROSMARIE: Wir müssen Strom sparen. Wegen dem Krieg, ja.
LUDWIG: Is kein Krieg hier.
ROSMARIE: Is schon vorbei?
LUDWIG: Nein, Rosmarie. Wir haben keinen Krieg hier. Schon lange nicht mehr gehabt.
ROSMARIE: Oh.
Schweigen.
ROSMARIE: Ludwig –
LUDWIG: Was, Mama.
ROSMARIE: Kann ich dich was fragen; kann ich dich was fragen, ohne dass du mich auslachst.
LUDWIG: Ich lach dich nie aus. Was ist.
ROSMARIE: (nervös, schämt sich Ich weiß nicht)
LUDWIG: Sag nur.
ROSMARIE: Ich weiß nicht, kommt es mir nur so vor, bild ichs mir ein – aber – Pause. Den Edgar hab ich schon so lange nicht mehr gesehen. Sehr müde, sehr verzweifelt. So lange nicht mehr.
LUDWIG: (geduldig, nimmt Rosmaries Hände, liebevoll) Weißt du, Mama, der Edgar ist gestorben. Ein Auto hat ihn überfahren.
Pause.
ROSMARIE: Das werd ich nie begreifen.
Pause.
LUDWIG: Ich weiß.
Rosmarie hat sich ausgezogen
Und steigt in die Wanne
Legt sich ins Wasser
Legt sich ins Meer
Muscheln Schnecken Fische
Woher das Leben kommt
Ludwig meint, dass Susanne neben ihm steht
Oder Edgar
Oder Karoline
Oder zu wem könnte die Stimme gehören, die sagt
Tus nicht
Er strengt sich an
Lauter, befiehlt er
Wenn du mit mir reden willst, rede lauter
So dass ich dich verstehe
Er lauscht
Lauter, lauter, lauter
Ich kann dich nicht hören
Schrei doch nicht so, sagt Rosmarie
Er hält noch einen Augenblick inne, aber da ist sonst keine Stimme
Niemand, der zu ihm redet, alles stumm
Ludwig taucht die Schultern seiner Mutter unter Wasser, ein Tippen genügt, die Frau ist so dünn, so mager, sie wiegt fast nichts, die Schultern, dann der Kopf, die Mutter taucht unter, kommt hoch, die Haare nass, der Kopf wirkt noch kleiner als sonst, sie schaut nach oben, sieht Ludwig an, verblüfft, aber freundlich, sie lächelt sogar, ja sie lacht, ein Tippen, die Schultern, der Kopf, auf Wiedersehen Mama, Leb wohl, einmal zweimal dreimal taucht sie noch auf, sie holt keine Luft mehr, die Augen sind geschlossen, ihr Körper wehrt sich nicht, ihr Herz leistet keinen Widerstand, die Hände sind offen, ihre Lunge atmet Wasser
26.
OLAF: (schweigt lange und betrachtet das Publikum, bevor er spricht)
Ich muss nicht mehr raus
Ich brauch die Sonne nicht mehr zu sehen
Alles, was ich noch brauche, hängt am Ende einer Stromleitung
die in mein Zimmer führt
Alle Signale, die ich brauche, fängt mir
mein drahtloser Empfänger, meine Peilstation, meine Antenne
aus der Luft
Ich sende selber
Sonar Radar Ultraschall Lichtimpulse
Ein Insekt, eine Fledermaus
Ade Wetter und Tageszeit und physischer Kontakt
Alles auf dem Schirm
Das Draußen brauche ich nicht mehr
Euch ist euer Attentäter wichtiger als das Geschick eurer Nachbarn
Euch ist euer Terrorist wichtiger als das Geschick der Freunde
Aber vielleicht sind wir es am Ende
Wir, die ihr am besten zu kennen glaubt
von Kindesbeinen an
und die ihr doch am wenigsten kennt
Wir, von denen ihr denkt, die hat Gott nur so nebenbei erschaffen
oder sogar aus Versehen
auf alle Fälle, ohne sich viel Mühe dabei zu geben
und genauso sehen sie auch aus, und genauso wird auch ihr Leben verlaufen
Ein Dreck, bei dem zwischen Geburt und Tod nur Dreck passiert
Dreck, was sie anfassen, und Dreck, was sie tun
Dreck zu Dreck, ob sie wollen oder nicht
Wie könnten sie fähig sein, Böses zu planen
Wie könnten sie es wagen, an Handeln überhaupt zu denken
wo sie doch nur zufällig existieren
Vielleicht sind wir es
Wir, die einfachen, unscheinbaren Ex-Freeclimber aus der Nachbarschaft
die einmal wie Fliegen in der Wand hingen
die ihr genauso wenig bemerkt habt wie Fliegen an der Wand
bisschen lästig allenfalls
Wir werden euch am Ende lehren, was es heißt, in Furcht zu leben, in Furcht
27.
Sie sagen, wir hätten besser
Aufpassen müssen
Jeder einzelne von uns auf
Jeden einzelnen von uns auf
Jeden einzelnen
Jaja sichersichersicher
Das stimmt
Das hätten wir mal
Das hättest du
Das hättest du
Wir haben ihn nicht gesehen
Wir waren nicht zugegen
Der Tod war schneller als das Leben
Ich lass dich nie mehr fort
Ich lass dich nie allein
Wenn der Tod dich holt
Sollst du bei mir sein
Denn es sei
Zu erkennen gewesen
Denn es sei voraussehbar gewesen
Und man hätte etwas
Und wir
Hätten es
Verhindern können
Jaja sichersichersicher
Jeder einzelne von uns
Klare Sache
Im Nachhinein
28.
PETER: Er ging immer weiter. So abwesend. Leichtfertig. Ich bekam es mit der Angst. Was hatte er vor. Er wirkte nicht wie einer, der sich verirrt hat. Er ging zielstrebig weg, immer weiter weg. Ich rief ihm nach, Herr Schraube Herr Schraube. Kein Zucken der Schultern, kein Rucken des Kopfes. Ludwig, rief ich, Ludwig; vielleicht holt das ihn zurück. Nichts. Er wurde grün; die Farne wuchsen höher, je weiter er wanderte, umwucherten seine Knie, die Beine, die Hüften; der Schatten der jungen Bäume legte sich um seinen Körper, Blätter bewuchsen seine Arme, Zweige senkten sich herab und holten sich seinen Nacken, die Haare. Weiter ging er, weiter, bis er zwischen den Bäumen nicht mehr zu sehen war, bis das Grün ihn in sich aufgenommen hatte.
29.
Dann steht Susanne in Rabes Tür, Koffer in der Hand
Und er kann die Tür nicht mehr zumachen vor ihr
Sie betritt das Zimmer, das seines ist
Und beginnt, den Koffer auszupacken
Säuberlich stapelt sie ihre Sachen in den Schrank, der seiner ist
Und setzt sich auf das Bett mit einer selbstverständlichen Art
Die anscheinend bedeutet, dass sie zusammengehören
Miteinander leben sollen von nun an
Während Susanne von dem Mann redet, der seine Mutter getötet hat
Und fortgegangen ist
Keiner weiß wohin Einfach verschwunden
Denkt Rabe an die Frau, die er verlassen hat
Und dass er nie mehr einen Menschen, der denkt
Er könne zu ihm gehören, verlassen wollte
Also lässt er sich auf das Spiel ein, das keines ist
Von dem er nicht weiß, wie es weitergehen kann
Und hofft auf einen guten Ausgang
Es ist nicht zu verstehen Ob er Rosmarie
Unter Wasser gehalten hat Oder ob es ein Unfall war
Sie können es nicht wissen
Wie sollte sie von alleine ertrinken
Ein Herz- oder Schlaganfall
Die Obduktion findet nichts dergleichen
Zu seiner Überraschung findet Rabe Gefallen an dem Leben
Zu zweit, die Verliebtheit trägt
Wovon sie leben sollen, was weiter wird
Daran will er nicht denken
Ich kenne ihn überhaupt nicht, weiß nicht, wer der Mann ist, der mein Mann
war. Hilf mir, bitte, habe ich manchmal zu ihm gesagt, früher, Was soll ich tun
oder Sei da. Aber in seiner Welt durfte man keine Schwäche zeigen, nicht er
noch ich, keine Blöße keine Nacktheit kein Aufgeben. In seiner Welt, dachte
ich, tragen die Menschen Korsett, damit zusammengehalten wird, was sonst die
Form verlieren würde. Also habe ich gelernt zu schweigen, zu lächeln.
Obwohl es Susanne war, die zu ihm gekommen ist
Sucht sie Rabes Nähe nicht
Jetzt muss ich den Namen des Mannes nicht mehr aussprechen. Beide
verschwunden, Kind und Vater.
Sie will sich nicht umarmen lassen und geht steif umher
Wie rheumatisch, jede Bewegung verursacht Schmerz
Nachts rückt sie auf Abstand, eine Elle zwischen ihnen
Das kommt Rabe vertraut vor
Du wirst nicht gebraucht
Aber deine Gegenwart wird gewünscht
Ich mag dieses Gefühl
Es stimmt nicht, was sie sagen, darüber, wie man Soldat wird
Dass man sich selber auslöschen muss, die eigene Person vergessen
Ich habe mich nie so sehr gespürt
Wie in der Armee
Ich mochte dieses Gefühl, ich brauchte dieses Gefühl
Ich tat etwas Wichtiges
Wurde trainiert für besondere Einsätze
Ich meldete mich freiwillig
Kam dazu, dass
Es ist ja kein Krieg, wo wir sind
Nicht wirklich
Das Wort wird nicht mehr benutzt
Das Wort stirbt aus
Und wir sind Einsatzkräfte
Ich bin jetzt Einsatzkraft Operation Susanne
Das ist unser Feldlager
Wann der Marschbefehl kommt
Und wohin es dann geht
Wissen wir nicht
Rabe lacht
Rabe sieht auf seine verbundenen Hände
Eines ist sicher
Diesen Einsatz will ich zusammen gewinnen
Eines ist sicher
Ich hol dich hier raus
Verletzte nehmen wir mit
Tote bleiben zurück
Ab jetzt wird alles anders
Erste Liebe zweite Liebe dritte Liebe vorbei. Ich habe immer darauf gewartet, dass mein Leben ein Ganzes wird. Schön blöd was. Schule, Arbeit, fehlt was, Heiraten, fehlt was, Kind kriegen, fehlt immer noch was. Warten. Ich wusste nicht worauf, dass sich mein Leben komplettiert oder so.
Ein Ganzes würde, einen Schlussstein bekäme, wie ein Dach den letzten Ziegel, damit es nicht hineinregnet. (Pause.) Und seit Edgar gestorben ist, fehlt nichts mehr. (Pause.) Komisch oder. (Pause.) Nicht dass du denkst, dass es das war, worauf ich gewartet habe. Es ist einfach so, dass es immer weitergeht, das Leben. Es ist nicht fertig und wird nie fertig sein, egal, was mit uns geschieht. Das ist kein neuer Schmerz, es ist kein Trost. Es ist nie zu Ende. Das habe ich jetzt verstanden. (Schweigen.) Es ist nie zu Ende. Es ist alles offen. Immer. (Schweigen.) Und deswegen habe ich jetzt größere Angst als jemals zuvor.
Ein Gefühl der Hilflosigkeit droht in Rabe aufzusteigen
Jedesmal, wenn Susanne so redet
Er hat nicht so viele Worte zur Verfügung
Er würde lieber handeln
Kann man Handeln durch Worte
Manchmal bekommt er Kopfweh, wenn sie redet
Er redet zurück, so gut er kann
Für zwei Menschen füllen sie diesen Raum mit zu vielen Gedanken
Das spürt er
Die Gedanken, die ausgesprochenen, und die, die sich in ihrer beider Köpfe
bewegen, dauernd
Sie drohen den Raum zu sprengen
Und machen eine ganz gefährliche Kiste aus diesem Ding hier
Das spürt er
Wir brauchen jemand, der sich unserer Gedanken annimmt
Erstens, der sich das in Ruhe anhört; zweitens, der da eine Ordnung reinbringt
Drittens, der sie aufbewahrt, bis wir sie vielleicht einmal wieder haben möchten
Wir müssen sie los werden
Susanne nickt stumm
Sie haben ihr eine Betreuung angeboten
Fürsorge Fürsorge
Aber dann unternimmt sie doch nichts weiter
30.
EDNA: Hie und da eine anonyme Drohung
Und heute Die wievielte
Der Attentäter wieder unterwegs
Edna konnte es nicht verhindern
Letzte Chance Die Bombe finden
sie entschärfen Auf dem Weg zum Einsatzort
der Andere werden Endlich
kann ich beweisen, was ich kann
Das Ziel Ein Restaurant im Zentrum
kurz nach Büroschluss, gut besucht
Vor Wochen habe ich Peroxid besorgt
Chlorwasserstoffsäure Azeton
dann gehofft, auf mein Zeichen
jetzt bin ich hier Endlich
Endlich werde ich zu mir kommen
Pause.
In einem Hauseingang
gegenüber von dem Restaurant
Warten Beobachten
Ich sehe an meinem Körper hinab
Ich trage den Gürtel
den Gürtel mit dem Sprengstoff
Wer bin ich
Ich sehe an meinem Körper hinab
Ein Mann Eine Frau
Die Hände Arme Beine wie sehen sie aus
grob zart lang gedrungen fleischig zierlich
Meine Schuhe Was habe ich an Die Farben
Ich betaste meine Haare Mein Gesicht
Wer bin ich Wie sehe ich aus
Ich kann mein Gesicht nicht erkennen
Es ist noch Zeit
Es ist noch Zeit
Ich sehe, wie zwei Jugendliche vor dem Lokal
ihre Fahrräder losketten und wegfahren
Ein Geschäftsmann, Hut schwarze Tasche, kommt heraus
hastet die Straße hinunter
Blonde Frau, zwei kleine Kinder, studiert die Speisekarte
geht weiter Ein Kind hüpft voraus Hot Dog Hot Dog
Drei alte Frauen, bleiche Gesichter stark geschminkt
verlassen das Lokal, plaudern plaudern plaudern
Eine Gitarre schiebt sich an ihnen vorbei, hinein
Hinterher eine zweite Gitarre Und ein blauer Wollmantel
Ein Rucksack ruft ihm nach, läuft, stolpert, fällt beinahe, stolpert, fällt
beinahe, fängt sich auf einem Bein, lacht Drei bleiche Gesichter hochrote
Münder lachen mit, Hoppla, Vorsicht junge Frau
Der Rucksack verschwindet im Lokal
Es ist noch Zeit
Es ist noch Zeit
Die Weißgesichter küssen einander
Ich sehe an mir hinab
Wer bin ich
Wann
gehe ich hinüber und hinein
Ich sehe auf die Uhr, verfolge den Sekundenzeiger
und zähle
von 21 rückwärts
31.
Wieso hast du die Wohnung so schnell gekündigt
Das war doch die deine, mit Vertrag
Ich will die Erinnerung nicht
Du hättest die Wohnung behalten können
Drei Menschen, die ich verloren habe, drei
Und in der Luft ist noch ihr Geruch
Und ich atme ihre Abwesenheit mit jedem Zug
Da hätten wir doch aber viel mehr Platz gehabt
Schrei doch nicht
Entschuldige, das hab ich gar nicht gemerkt
Ich hätte sie streichen können, die ganze Wohnung weiß
Nein, gelb, ja, etwas Fröhliches, wie du es gerne hast
Schon gut, jetzt ist es zu spät
Die Toten sind keine Bedrohung für Rabe
Auch nicht die Verschwundenen
Er hätte es ausgehalten mit ihnen, die Wohnung wäre groß genug
Das macht er sich weis, und dass er etwas Festes will
Nichts so Vorübergehendes wie ein Leben im Hotel
Dauernd steht er am Fenster und sieht hinüber
Jemand schraubt die Glühbirnen heraus
Susanne, man wird kein Licht mehr machen können
Einer trägt eure Matratzen weg
Soll ich mal kurz rüber
Bloß nicht, bin froh, wenn ich das versiffte Zeug los bin
Ich könnte vielleicht was retten
Suchst du Streit
Kommst du darauf
Ich will dieses Leben nicht mitnehmen Ich will nicht dran erinnert werden
Er versteht sie ja, er versteht sie
Seine Hände, die Finger, die Haut unter den Verbänden juckt
Er versteht sie ja, nur dass er, nachdem er so oft so viel zurückgelassen hat
Endlich etwas Festes will, das redet er sich ein
Die Haut unter den Verbänden juckt
Er muss endlich wieder etwas in die Hände nehmen können
Das tote Kind taucht öfter wieder auf
Und er kann es nicht anfassen
Nachts vor allem, wenn er wach neben Susanne liegt
Es arbeitet unter den Verbänden, das müssen ganz kleine Tiere sein
Die seine abgestorbenen Hautfetzen zwischen ihre winzigen Zangen nehmen
Zwischen ihre Kiefer stecken, sie zernagen und auffressen
Er hat Angst davor einzuschlafen, wenn er einschläft und nicht mehr achtgibt, dann fangen sie womöglich an, seine gesunde Haut, sein gesundes Fleisch anzufressen, das ginge im Schlaf, ohne dass er es merken würde, und wenn er erwachte, wäre es zu spät, sie hätten sich bereits durch sein Fleisch genagt, seine Sehnen die Knorpel die Muskeln hätten sie gründlich verdaut, das Blut aus den Adern haben sie mit ihren kleinen Mäulern getrunken, sie holen sich Kraft aus seinem Fleisch seinem Blut, die Knochen wären noch übrig, und, wenn er erwachte, sein Kopf wäre noch da, das Gehirn wäre noch da, er würde es spüren, das warme Kribbeln und Trippeln der Tausendschaften
insektenhafter Tierchen, wie sie ihn zärtlich mit ihren Tentakeln betasten, er fühlt sie die Klippe seiner Lippen nehmen, und dann sind sie auf seiner Zunge, und bevor sie über seine Augäpfel schwärmen, schließt er die Lider, es kitzelt, sie sind dabei die Wimpern zu rupfen, bald wird er nicht mehr sehen können, unter den Lidern schwimmt eine Flüssigkeit, jetzt marschieren sie und verstopfen mit ihren Körperchen die Nasenhöhle, und bald wird er keine Luft mehr
Schrei doch nicht Schrei doch nicht
Schrei doch nicht
Entschuldige, das hab ich gar nicht gemerkt
Hast du geschlafen Deine Augen waren wieder weit offen
Nein Nein Ich hab nicht geschlafen
Hab ich dich geschlagen
Nur ein bisschen Im Schlaf Aber du hast ja nicht geschlafen Nein nein du hast
mich nicht geschlagen Ich glaube du hast Fliegen gefangen den Rauch deiner
Zigarette weggewunken Ich glaube du wolltest mich aufwecken um mit mir zu
spielen
Zu spielen Ja Ja So wirds sein Zu spielen genau So wirds sein
Susanne nimmt seine Hände
Sie nimmt seine Hände und hält sie fest und streicht über die Mullverbände
Langsam und gründlich wie es ihre Art ist
Sie hat gemerkt, dass Rabe diese Bewegung beruhigt
Ich spüre nichts Ich spüre nichts
Er ist erleichtert Ich spüre nichts Das ist gut
Sie gibt Rabe ein paar von seinen Medikamenten und wartet, bis er schläft
Richtig schläft diesmal
Sie weiß nicht, was ihn quält Sie kann es nicht einmal ahnen
Wir haben uns nichts versprochen Außer, nicht verständnisvoll zu sein
Gut Gut Kein Verständnis bitte
Das war so sehr ernst wie es ein Spiel war
Und doch sprechen sie miteinander
Die Sehnsucht, einander zu verstehen, ist so groß
Dass sie zu dem andern sprechen, wenn er schläft
Aber von dem toten Kind
Und allem, was damit zusammenhängt
Kann Susanne nie sprechen
Das tote Kind versetzt Rabe in glühende Aufregung
Auch wenn er sich zu beherrschen versucht
Das tote Kind provoziert Rabe derart
Dass sie schon meinte, Rabe würde aus dem Fenster springen
Oder er würde sie hinunterwerfen und hinterherspringen
Oder er würde sie packen und zwingen mit ihm zugleich zu springen
Oder
Dabei hatte sie nur
Versucht
Die Einsamkeit, mit der ich lebe, sie ist wie eine fremde Person in mir. – Ich weiß, du hast dafür kein Verständnis. Lach doch. Macht nichts. – Die Fremde, sie geht in mir umher, sie besetzt Räume meines Körpers, in denen ich nie war. Pause. Alles, was ich höre, der Widerhall meiner eigenen Schritte. Alles, was ich spüre, die Enge meines Herzens. Alles, was ich sehe, die Verkommenheit meiner Welt.
Rabe erträgt es nicht, wenn sie so redet
Er nickt zu allem und heuchelt Freundlichkeit
Und lächelt, bis ihm ganz schlecht wird
Er liebt Susanne, auf keinen Fall soll sie denken
Er höre ihr nicht zu
Manchmal gelingt es ihm, bis zum nächsten Tag ruhig zu sein und zu vergessen
Obwohl in seinem Kopf Susannes Worte toben
Die Wörter schlachten einander ab
In seinem Kopf, und er kann sie nicht daran hindern
Und in seinem Körper zucken und verkrampfen sich alle Fasern und wollen nur
eines
Bewegung
Es muss etwas getan werden Es muss etwas geschehen etwas Lautes und
Durchgreifendes Etwas das alles wieder ins Lot bringt Eine schöne Eine
Ordnung Eine Ruhe
Die das Normale wieder herstellt
Das sich gut anfühlt
Es soll sich gut anfühlen
So wie ganz früher
Als er noch
Einsam
Wieso sagt sie das
Schmerz
Wieso sagt sie so etwas
Ohne Zukunft
Wie kann sie sowas sagen
Verkommenheit
Ich könnte jetzt ein Gewehr nehmen, ein Messer, eine Granate. Ich könnte aus dem Fenster schießen auf jeden, der zufällig vorbeikommt, und seien es achtzehn hintereinander, und sei es eine Schulklasse. Ich könnte mich in eine Einkaufspassage stellen und dem nächstbesten, der mich ansieht, der mich nur ansieht mit etwas im Blick, das ich gerne missdeute, das mir nicht gefällt – dem ramme ich die Klinge in die Eingeweide bis zum Heft, zwischen die Rippen, mitten ins Herz – ich könnte es tun. Ich könnte es jetzt tun. Ich würde es gern tun. Jetzt.
Rabe
Rabe
Susanne ganz leise
Denk doch an uns
Dass wir uns begegnet sind
Dass wir uns gefunden haben
Dass wir hier sind
Trotz allem
Rabe
Susanne noch leiser
Wir sind hier Wir sind wirklich
Ja, ich könnte es immer noch tun. Ich habe Angst davor, dass ich es immer noch tun könnte. Es ist noch lange nicht vorbei. – Deshalb bin ich hier. Deshalb wage ich mich kaum hinaus. Hier, wenn mich dieser Traum, dieser Albtraum, diese Gedanken, dieser Zwang überfallen, werde ich mich selber festbinden, ich binde mich fest, ich habe das schon getan, ich habe meine Medikamente, ich warte, bis es vorbei ist, ich schlage den Kopf auf den Boden, bis es vorbei ist, ich beiße meine Knöchel, bis es vorbei ist, ich nehme meine Tabletten und werde bewusstlos, bis es vorbei ist.
Susanne muss ihm zusehen
Wie er sich festbindet
Sie will ihn davon abhalten
Er droht ihr
Habt ihr das in der Armee gelernt
Euch selbst zu fesseln
Witz versucht
Ich bin der Feind, Susanne, ich bin der Feind
Susanne laufen Tränen übers Gesicht
Obwohl sie lachen will
Rabe hat Übung, er verwendet zwei Seile
Die er am Bett verknotet, am Ende je mit einer Schlinge
In die er mit den Füßen schlüpft
Ein Handgelenk schließt er mit einer Handschelle an das Bett
Wenn er sich ausstreckt, ziehen sich die Schlingen zusammen
Es geht schnell
Er ist ruhiger jetzt
Er gibt vor eingeschlafen zu sein
Damit auch Susanne sich beruhigen kann
Sie legt sich zu ihm auf den Boden
Sie küsst seine Augen
Sie streicht über seinen Körper
Er wartet, bis er ihren Atem spürt
Im Rhythmus des Schlafs
Da sagt er es
Er sagt ihr flüsternd, fast ohne Ton
Was er gesehen hat, was ihm passiert ist
Er spricht es aus, während sie schläft, damit sie es weiß, ohne
Dass sie es sich anhören muss, ohne dass sie Mitleid bekommen muss, ohne
Dass ihr etwas wehtun muss, ohne
Dass sie darauf antworten muss, sie braucht nicht zu reagieren
Er spricht es in die Nacht
In den dunklen Raum hinein
Und die Luft trägt seine Worte in ihren Gehörgang und
Lässt sie in ihren Schlaf eindringen, eintauchen
Hör doch Susanne, es war so
Ich hatte Wache, und es gab einen Alarm am Tor. Draußen stand eine Familie, sie brachten ein Kind. Das Kind war bewusstlos, der Vater hielt es auf den Armen. Ich sah, dass der Bauch des Kindes unnatürlich geschwollen war, und an der Schläfe hatte es eine Wunde. Ich ließ die Sanitäter rufen und legte das Kind auf eine Bahre. Der Vater, die Mutter und zwei Geschwister standen daneben. Ich habe meine Hände auf seinen Bauch gelegt. Die Schwellung war hart und unnachgiebig. Ich nahm eine Hand des Kindes in meine. Eine Fliege setzte sich auf sein Gesicht, ich verjagte sie und streichelte seine Wange. Es öffnete die Augen, sah mich an und starb.
32.
EDNA: In einem Hauseingang
gegenüber von dem Restaurant
Ich sehe an meinem Körper hinab
Ich trage den Gürtel
den Gürtel mit dem Sprengstoff
Wer bin ich
Ich sehe an meinem Körper hinab
Ein Mann Eine Frau
Die Hände Arme Beine wie sehen sie aus
grob zart lang gedrungen fleischig zierlich
Meine Schuhe Was habe ich an Die Farben
Ich betaste meine Haare Mein Gesicht
Wer bin ich Wie sehe ich aus
Ich kann mein Gesicht nicht erkennen
Ich sehe auf die Uhr, verfolge den Sekundenzeiger
und zähle von 21 rückwärts
Und dann, sieben Sekunden, bevor ich losgehen soll
über die Straße und mitten ins Ziel
biegt die Frau, die ich liebe, um die Ecke
Sie biegt um die Ecke, und betritt das Restaurant
die Frau, die ich liebe
(Schweigen.)
Der Mann, den ich liebe
(Schweigen.)
Das Kind, das ich liebe
(Schweigen.)
Fünf vier drei
Stille
Stille
Stille
Ich sehe an mir hinab
Ich trage keinen Gürtel
Ich kann mein Gesicht nicht erkennen
Fünf vier drei
Drüben, auf der anderen Straßenseite
geht eine Gestalt
Eine Gestalt
Irgendjemand
geht hinein wer
wo
Zwei eins null
33.
Heute kommen sie runter
Heute sehen wir nach
Susanne darf vorsichtig Rabes Mullverbände abwickeln
Nicht nur austauschen Heute kommen sie runter
Susanne macht etwas Besonderes daraus
Wie lange sind wir zusammen Noch nie habe ich deine bloßen Hände gespürt
Das muss man sich mal vorstellen Normal ist das nicht
Heute wird gefeiert Sie hat Sekt besorgt
Rabe ist schlecht gelaunt von Anfang an
Darüber hinweggehen wäre ihm lieber
Also mach schon und mach schnell
Runter mit den Verbänden rein mit dem Sekt gleich schlafen
Und erst morgen wieder Bewusstsein
Nun lass doch mal in Ruhe angucken Sindse verheilt Halt doch mal still
Hm alle zehne sinds noch Aber gut sieht das nich aus Vorne alles verstümmelt
Ja Herrgott nochmal was hast du denn erwartet Türlich sindse verstümmelt
Brauchst nicht zu brüllen deswegen
Was Was Was hast du dir vorgestellt Dass ich ausseh als ich käm ich von der
Maniküre
Nee aber
Was Was Was
Du bist heut echt zum Abgewöhnen
Fang schon mal an und dann schau ich zu wie lange du durchhältst Aber du kriegst ja nix auf die Reihe alleine Wär vielleicht ganz gut gewesen sone kleine Pause zwischen dem einen und dem anderen Kerl oder nich Bevor du dich wieder wo festsaugst wo du gar nich sein willst und zehn Jahre später merkst dus dann aber wie jetzt runterkommen von diesem Tandem Wird eben noch paar Jahre weitergestrampelt bis du irgendwann vor Erschöpfung umfällst
Rabe Ich versteh dass
Bitte nicht Bitte nicht Bitte nichts verstehen Du hast es mir versprochen
Soll ich gehen
Nein Nein natürlich nicht Bleib
Es tut mir so leid Es tut mir so weh Was mit deinen Händen passiert ist Es ist Edgars Schuld im Grunde Also ist es auch meine Schuld Ich übernehme sie von ihm Unsinn
Unsinn Wäre ich nicht dort gewesen An dem Tag Zu der Stunde Am hellichten
Mittag des neunzehnten August Wenn irgendjemand Schuld hat Ich hab nichts
verhindert Hätt ich was verhindern können
Schrei nicht gleich wieder so
Erzähl lieber
Erzähls mir
Ich habe meine Hände auf seinen Ball gelegt
Nur eine Minute vielleicht weniger
Das Ventil gesucht
Den Ball mit meinen Fingerspitzen gedreht und gedrückt
Um die restliche Luft darin zu fühlen
Er brauchte nur aufgepumpt zu werden Man konnte ihn nicht kicken
Das erste Auto raste vorbei
Dicht ganz dicht an uns vorbei
Edgar
Er hat sich erschrocken
Und wollte über die Straße nach Hause nach Hause
Zu mir Er wollte zu mir
Ja Sicher
Siehst du Meine Schuld Meine große Schuld
Hör auf
Meine Schuld
Hör auf damit
Deine Hände Edgars Tod Meine Schuld
Sei endlich still
Rabe schlägt zu
Es geht so schnell dass er selber erschrickt
Er schlägt zu und schlägt noch einmal zu
Susanne überrascht fasst sich wütend lässt sie sich etwa das Wort verbieten
wütend
Meine Schuld Dass Edgar tot ist Dass Rosmarie tot ist
Rabe schlägt zu
Es ist jetzt fast eine Erleichterung
Hat sie ihm nicht indem sie hemmungslos weiter redet und einfach nicht aufhört und keine Rücksicht auf ihn nimmt die Erlaubnis gegeben
Er schlägt zu
Dass Ludwig weg ist Meine Schuld Dass er verschwunden ist Meine Schuld
Fordert sie ihn nicht heraus seit sie bei ihm eingezogen ist Muss sie diese gottverdammten Wörter gebrauchen wenn er das nicht will wenn er sie bittet das nicht zu tun Maul halten
Es geschieht mir recht Es geschieht mir recht Weißt du dass er mich betrogen
hat Ich glaube das hat er
Susanne blutet und schreit
Meine Schuld
Rabe schlägt zu
Nichts Nichts Nichts ist ihre Schuld oder war es jemals Sie ist unschuldig und er liebt sie und wenn sie das endlich verstehen könnte würde es ihnen viel besser gehen Wenn sie einsehen würde dass es nichts nützt sich zu martern mit diesen Gedanken über die Vergangenheit und wer warum was Er ist so müde Er schlägt zu nur aus Müdigkeit Weil sie diese Zukunft die vor ihnen liegt jeden Tag mehr kaputtredet Aber Susanne blutet Aber Susanne wehrt sich sie tritt nach Rabe auf dem Boden liegend trifft sie ihn mitten in den Magen die Weichteile den Bauch Sie hat keine Angst vor ihm überhaupt keine Angst Sie muss das bisschen Leben verteidigen das ihr geblieben ist und während sie das Eisen in ihrem Mund schmeckt ist ihre Liebe für Rabe so groß dass sie ihn töten könnte weil sie ihn so sehr liebt dass sie ihn sterben sehen könnte weil sie ihn so sehr liebt dann wäre Ruhe für ihn keine Furcht mehr keine Medikamente und sie würden sich freuen nur freuen können aneinander so wie es sein sollte die Freude war ihnen bestimmt nichts anderes und irgendwer verhindert das etwas trifft ihr rechtes Auge sie sinkt hintüber erwischt das Telefon das sie mit voller Wucht gegen Rabes Kopf schlägt als er sich über sie beugt sie weiß jetzt wer ihre Freude verhindert sie selber sind es sie selber hindern sich daran glücklich zu sein da ist es nur folgerichtig wenn sie sich kaputtschlagen das
Zerstörerische in ihnen kaputtschlagen damit sie dann Friede haben miteinander das Aufbegehren der Zärtlichkeit für ihn ist so stark dass sie ihn umarmen möchte aber sie hat nicht mehr die Kraft dazu
Keine Ahnung Nebelbänke Gedächtnisuntiefe Is was passiert Bilderfetzen son Fetzen der bleibt ich weiß auch nich so was Unvollständiges so eingerissene Seiten so was Scharfkantiges was sich nicht rausziehen lässt aus deinem Kopf so was Furchtbares was man weghaben will
Erinnerung
Erinnerung
Bloß weg damit
Rabe sieht Susanne am Boden liegen
Er kauert sich neben sie
Wozu bin ich fähig
Sie atmet
Wozu werde ich fähig sein
Er hebt sie auf und legt sie aufs Bett
Sie atmet
Wozu werde ich fähig sein
Er will dass sie lebt
Er will dass sie sie finden
Er wird ein großes Feuer machen
Damit sie sie leichter finden können
Er wird das Feuer sein
Er wird das Feuer sein
Das für sie brennt
Er öffnet einen Kanister
Überschüttet sich mit Benzin
Er entzündet sein Feuerzeug
Er brennt
Das letzte Feuer Das erste Feuer
Epilog
Keiner von uns lebt mehr hier
Ich bin im Knast
Schon wieder
Kann passieren Alter
Ich bin tot
Ich auch
Ich hab endlich Arbeit gefunden, Koch
Na ja, is nur ne Imbissbude, aber is in Danzig
Ich bin immer noch verschwunden
Wenn man mich fragt, sag ich verwitwet
Zweimal verwitwet
Und die Wunden sind verheilt
Kommt nicht oft vor, dass einer fragt
Ich bin weggezogen, nach, stationär
Wir haben uns nie wiedergesehen
Die kommen nie an mein Grab
Keiner kommt mich am Grab besuchen
Und ich lieg da und warte und warte
Ich bin auch tot und krieg kein Besuch
Und ich warte nich so schick mit Marmorengel
Und pipapo, bei mir is oben drüber nur die Erika
Und dass die mal blüht, da hoff ich n Dreivierteljahr drauf
Keiner von uns lebt mehr hier
Das Malen hab ich aufgegeben
Stattdessen kleines Spezialgeschäft für erotische Prothesen
Und die Kunden berate ich persönlich
Ich bin weggezogen, nach, ambulant
Wir haben uns nie wiedergesehen
Dann lass uns langsam nach Hause zum Efeu und zun Würmern
Ja schieb die Platte wieder drüber über die Kiste
Aber komm öfter raus ausm Loch
Mensch zusammen an die frische Luft
Ich zeig dir mal die Sterne
Wie denn, wo von dir nur Asche übrig ist
Wir haben uns nie wiedergesehen
Ich bin im Knast und
Ich geh nicht zurück ich hau ab jetzt
Ich hau ab jetzt jetzt jetzt oder nie
Freigang dass ich nich lache
Ich mach es wie die Vögel im Herbst
Warte auf den richtigen Wind und
Schwing mich und
Fliege davon